(auch erschienen in „fbkfinanzwirtschaft“)
Der türkische Ministerpräsident, Recep Tayyip Erdogan, ist im Begriff, die Demokratie seines Landes in ein neues Sultanat umzuwandeln. Seitdem die Wirtschaft sich weniger gut entwickelt, kann der gewissenlose Populist und schrille Demagoge sich der Bestätigung durch eine Mehrheit allerdings nicht länger sicher sein, war es doch vor allem der ökonomische Aufschwung, der ihm in den ersten Jahren seiner Amtstätigkeit so großen Zuspruch verschaffte. Erdogan ist daher bemüht, seine nach Europa ausgewanderten Landsleute zu mobilisieren. Anders gesagt, nimmt er für sich das Recht in Anspruch, in Demokratien außerhalb seines Machtbereichs, für eine antidemokratische Wende zu werben.
Der deutsche Bundespräsident, Joachim Gauck, will sich einem solchen Ansinnen nicht widersetzen. Seiner Meinung nach müsse die Demokratie dies aushalten können. Andere plädieren für Widerstand. Eine Demokratie, die sich nicht streitbar verteidigt, sondern sich damit begnüge, an den Idealismus zu appellieren, würde in den Augen der Bürger ihre Glaubwürdigkeit einbüßen. Demokratien dürften nicht untätig bleiben, wenn Demagogen Zünder auslegen, um sie in die Luft zu sprengen. Jeder, der offen Werbung für eine absolutistische, undemokratische Politik betreibt, sollte daran gehindert werden, dies in einem Land mit demokratisch verfasster Regierung zu tun. Die Niederlande sind gerade mit gutem Beispiel vorangegangen.
Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt
Aber liegt darin nicht eine Angleichung an den Gegner? Übt man nicht diesem gegenüber dieselbe Intoleranz, die man an ihm kritisiert?
Wir sollten uns darüber im Klaren sein, dass kein Staat überlebt, wenn er sich nicht zur Verteidigung der eigenen Werte, Lebensweise und Prinzipien bekennt. Rüstet mein Nachbar auf, um mir damit zu drohen, so bleiben mir nicht mehr als zwei Arten der Reaktion. Ich kann mich widerstandslos in mein Schicksal ergeben, ihm gegenüber also die Rolle des Heiligen annehmen, der bei einem Schlag auf die rechte ihm auch noch die linke Backe entgegenhält. Setze ich dabei nicht mehr als die eigene Existenz aufs Spiel, so steht mir diese Möglichkeit der Selbstaufopferung zu und verdient vielleicht auch Bewunderung. Doch, wie Helmut Schmidt, ein protestantischer Christ, es einmal formulierte: „Mit der Bergpredigt kann man keine Politik machen.“ Ich darf mir nicht das Recht zusprechen, für andere zu entscheiden, indem ich sie ebenfalls in die Opferung einbeziehe. Diese anderen – von jeher die überwältigende Mehrheit – ziehen es gewöhnlich vor, sich ihrer Haut zu wehren. Mit anderen Worten, sie rüsten ebenfalls auf.
Zwischen diesen beiden Extremen gibt es Übergänge, aber auch viele Situationen, in denen ein Staat sich zum Zwecke der Selbstbehauptung zur Anpassung an das Handeln eines bösen Nachbarn gezwungen sieht: Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben …
Wenn Religion keine Privatsache ist
Die Toleranz eines demokratischen Staats endet eben genau an dem Punkt, wo intolerante Kräfte sie für eigene Zwecke missbrauchen. Man muss es schon für bedenklich halten, dass christliche Kirchen in Saudi Arabien (und manchem anderen muslimischen Staat) nicht oder nicht länger geduldet werden, aber dieses und andere Länder gleichwohl in aller Unverfrorenheit darauf beharren, den Islam in westlichen Ländern nicht nur zu verbreiten, sondern radikale, kämpferische Richtungen aktiv zu fördern. Westliche Staaten könnten das akzeptieren, sofern die Religion der Immigranten Privatsache wäre, so wie sie es seit dreihundert Jahren in Europa allmählich geworden ist (wenn auch erst im Anschluss an einen dreißigjährigen Krieg zwischen den Konfessionen, dessen brutalem Gemetzel Hekatomben zum Opfer fielen!).
Sie dürfen es aber keinesfalls akzeptieren, sofern die Religion der Zugewanderten eben keine Privatsache ist, weil die muslimische Welt ein vergleichbares Trauma ebenso wenig kannte wie den Triumph einer Aufklärung, die im 18. Jahrhundert aus dieser traumatischen Erfahrung hervorging. Für die kämpferischen Sekten des Islam war und ist Religion niemals eine Sache einzelner Individuen und deren Gewissen. Vielmehr wird sie als Botschaft verstanden, die das ganze Leben und die ganze Öffentlichkeit umspannt – das Verhältnis der Geschlechter, das Rechtswesen (Sharia), die Politik.
Auch dagegen ist nichts zu sagen – genauso ist es bei uns ja bis ins 17. Jahrhundert gewesen. Es geht uns nichts an, wie Saudis und Türken ihr eigenes Land gestalten und wie sie es regieren. Andere Gesellschaften und Völker haben das gute Recht, das nach je eigenen Vorstellungen zu tun. Es geht uns aber sehr wohl etwas an, ja, ist für unsere Zukunft entscheidend, ob wir antidemokratische Kräfte im eigenen Lande gewähren lassen, Kräfte, die keinen Zweifel daran lassen, dass sie unsere Werte und politische Ordnung durch ihre eigenen ersetzen wollen.
Demokratien sind nicht von Natur aus stärker als andere Regierungsformen
Ich halte es für einen leichtfertigen Irrtum, in der Demokratie eine starke Regierungsform zu sehen. Stark und logisch überzeugend ist sie nur als abstrakte Idee in den Köpfen von Staatstheoretikern und Philosophen, nicht in der gelebten Wirklichkeit – da wird ihr vielmehr jede ernste Krise gefährlich. Eine Depression, die den Wohlstand breiter Bevölkerungskreise zerstört, vermag eine Demokratie über Nacht aus den Angeln zu heben. Wir wissen, dass genau dies im Jahr 1929 geschah, als ein Club von fanatisierten Spinnern mit einem Stimmenanteil von zuvor gerade einmal 2,6 Prozent der Reichstagssitze innerhalb von vier Jahren zur mächtigsten Bewegung Deutschlands aufrückte und 1933 die Macht ergriff.
In Russland hat die große Wirtschaftsnot der 90 Jahre den Weg für den Autokraten Putin geebnet. In den USA ist es die ungebrochene Herrschaft einer politisch-ökonomischen Machtelite, die den Weg für den autoritären Präsidenten Donald Trump überhaupt erst geebnet hat. In China hat man gar nicht erst an politische Freiheit gedacht, sondern die Freiheit des einzelnen auf wirtschaftliches Handeln beschränkt. Der unbezweifelbare ökonomische Erfolg der chinesischen Einparteiendiktatur hat dazu beigetragen, auch im Westen – zum Beispiel in Unternehmerkreisen – Zweifel an der Überlegenheit der demokratischen Ordnung aufkommen zu lassen.
Und Europa? Seit der Süden von Griechenland bis Portugal einschließlich Frankreichs wirtschaftlich schwerwiegende Erschütterungen erlebt, sind antidemokratische Kräfte im Inneren dieser Staaten im Vormarsch. Ihnen gegenüber fehlt es nicht an Kritik. Jetzt kommen aber noch äußere Kräfte hinzu, die auf weniger Bereitschaft zur Abwehr treffen, obwohl die von ihnen ausgehende Bedrohung noch weit größer sein könnte.
Ein österreichischer Außenminister spricht offene Worte
In einer Situation der allgemeinen Verunsicherung, wo die Abwehrkräfte geschwächt sind und Europa sichtlich an einem defekten Immunsystem krankt, sind aber auch Stimmen zu hören, die an den Willen zur Verteidigung und Wehrhaftigkeit appellieren, ohne dabei Funkenregen von Hass zu versprühen. Der österreichische Außenminister vertritt die selbstbewusste Verteidigung eigner Werte überzeugender und konsequenter als das nach meinem Verständnis bei irgendeinem anderen europäischen Politiker der Fall ist. Sebastian Kurz ist frei von jedem Fremdenhass, frei auch von jeder Überlegenheitspose gegenüber anderen Staaten und Kulturen, aber er ist sich sehr wohl bewusst, dass es Werte gibt, die sich mit den unsrigen nicht vertragen. Einem kämpferischen Islam gegenüber, für den Religion keine Privatsache ist, gibt es nur zwei Arten der Reaktion: Entweder weichen wir vor ihm zurück – so wie es im siebten und achten Jahrhundert geschah, als weite Teile des damals christlichen Nahen Ostens sich islamisieren ließen. Oder wir verbannen diese aggressive Spielart des Islam aus unseren Staaten, indem wir von uns aus alle dazu erforderlichen Maßnahmen ergreifen.
Alte und junge Generation
Selbstverständlich ist eine solche Abwehr freilich nur dann, wenn wir selbst an die Überlegenheit „unserer Werte“ glauben. Auf Bundespräsident Gauck trifft das zweifellos zu. Wenn man, so wie er, lange gezwungen war, unter einer Diktatur zu leben, dann ist Demokratie über jeden Zweifel erhaben. Ebenso sicher fühlt sich ein Großteil der älteren Generation. Die Einheit Europas und der Frieden, den diese zwischen einst verfeindeten Völkern gestiftet hat, zählen für sie zu den fraglos akzeptierten Werten. Diese Generation hat den Krieg noch am eigenen Leibe erlebt und weiß deshalb, was sie solchen Errungenschaften verdankt. Dagegen kennt die junge Generation weder den Krieg noch hat sie je unter einer Diktatur leben müssen. Für sie ist Demokratie ein abstrakter Theoriebegriff und in der Praxis oft unerquicklich. Aus der Perspektive manchen Bürgers besteht sie in einem ewigen Machtgerangel zwischen Parteien, wobei das Allgemeinwohl viel weniger zu zählen scheint als die jeweils verfolgten egoistischen Zwecke.
Was sind europäische Werte?
Die junge Generation kann man nur überzeugen, wenn rechtzeitig Mittel und Wege gefunden werden, um Fehlentwicklungen zu korrigieren und neue Ziele zu setzen. Wenn der ganze Süden weiterhin an Arbeitslosigkeit krankt, während der Norden vergleichsweise prosperiert, wird die Einheit Europas nicht zu erhalten sein. Transferzahlungen in den Süden – die Alimentierung der wirtschaftlichen Schwachen auf Kosten der ökonomisch Starken – sind keine Lösung. Sie sind in Notsituationen geboten, aber eben auch nur in diesen. Niemals kann ein solcher Transfer, wo die einen auf Kosten anderer leben, eine Lösung auf Dauer sein. Mit Sicherheit wird Europa zerfallen, wenn das akute Problem der Massenerwerbslosigkeit in den Ländern des Südens nicht auf eine Art überwunden wird, die von ganz Europa als befriedigend akzeptiert wird.
Das Versagen der Europäischen Kommission
Keine Medizin gegen den Zerfall hat die Brüsseler Kommission gefunden – im Gegenteil, sie selbst gehört zu dem Problem, das sie lösen soll. Seit ihrer Gründung hat sie gegen die Forderung nach Subsidiarität verstoßen, die gerade in Europa mit seiner kulturellen und politischen Vielfalt ein Grundprinzip bleiben sollte. Dieses verlangt, dass alle jene Kompetenzen grundsätzlich bei den Einzelstaaten verbleiben, welche besser vor Ort ausgeübt werden. In diesem Sinne polemisiert auch Sebastian Kurz gegen die bürokratische Allgegenwart Brüssels. Er setzt sich stattdessen für eine europäische Eingreiftruppe ein, also für gemeinsames Handeln nach außen.
Verteidigung allein ist allerdings noch kein Wert,
sie schafft keine Verbundenheit, geschweige denn eine Schicksalsgemeinschaft. Nach dem Turbokapitalismus der zwanziger Jahre und den Verwüstungen des darauffolgenden Krieges war es vor allem der globale Wettbewerb mit dem kommunistischen Gegner, der die Staaten des Westen dazu nötigte, für einen echten Wert zu sorgen, nämlich dem sozialen Ausgleich zwischen Oben und Unten und Arm und Reich. Die demokratische, soziale Verfassung schuf ein Fundament, mit dem sich eine breite Mehrheit identifizierte. In einer einzigartigen Konstellation gelang es, die wohlstandsschaffende Dynamik der privatkapitalistischen Eigeninitiative einem politischen Imperativ unterzuordnen: Man wollte das Auseinanderdriften der Bevölkerung verhindern, das in einer sich selbst überlassenen kapitalistischen Marktwirtschaft mit mathematischer Notwendigkeit wenige Superreiche und eine Mehrheit von Benachteiligten hervorbringt. Der darauf begründete Sozialstaat hatte große Fehler, da er vor allem auf Umverteilung beruhte, dennoch gehörte seine Existenz zu jenen Werten, auf denen die Einheit Europas bis in die neunziger Jahre begründet war.
Demokratie muss wehrhaft und gerecht sein!
Dieses tragende Fundament europäischer Zusammengehörigkeit wurde durch den Neoliberalismus zerstört, ohne dass dieser neue Werte geschaffen hätte. Wir brauchen eine wehrhafte Demokratie, ein wehrhaftes Europa, das sich angesichts türkischer Schmähungen solidarisch an die Seite der Niederlande stellt, einem der traditionell liberalsten Staaten. Aber die vor allem im rechten Lager erhobene Forderung nach der Verteidigung eigener Werte reicht nicht aus. Es genügt nicht, eine gemeinsame Front gegen die neuen Populisten und Demagogen zu bilden, gleichgültig ob sie im Inneren agitieren oder von außen kommen. Man muss der Mehrheit – auch den Menschen im Süden Europas – zugleich das Bewusstsein vermitteln können, dass es sich lohnt, diese Front der Abwehr zu bilden. Will man die Menschen von deren Notwendigkeit überzeugen, dann muss die vor allem aus dem linken Lager stammende Forderung nach sozialer Gerechtigkeit wieder in den Vordergrund treten, ein von den Neoliberalen so gründlich verunglimpfter Begriff.
Für Deutschland, das im Hinblick auf den außereuropäischen Export so sehr von der Schwäche seiner Nachbarn profitiert, genauer gesagt, von der des Euro, bedeutet dies eine ungeheuer schwierige Herausforderung – fast die Quadratur des Zirkels. Was immer es jetzt unternimmt, wird ihm in Zukunft schaden, auch und gerade, wenn es die Einheit Europas retten will (siehe Suchbegriffe „Freihandel“ und „Protektionismus“ auf meiner Website).