Es lässt sich endlos darüber streiten, ob es gerecht ist, dass ein Firmenchef zehnmal oder hundertmal so viel verdient wie der einfachste seiner Mitarbeiter. Ein hervorragender Chef verwandelt eine Klitsche in ein Weltunternehmen, ein schlechter treibt es in den Ruin.
Meist ist es unmöglich, die jeweiligen Leistungen zu vergleichen und noch viel schwieriger die ihnen zugrunde liegenden Voraussetzung von Ausbildung, Wissen und Können. Allgemeine Einigkeit herrscht hingegen darüber, dass es schreiendes Unrecht ist, wenn eine Gruppe von Mafiosi ihren eigenen Lebensunterhalt mit Schutzgelderpressungen bestreitet, also sich parasitär in einer Gesellschaft einnistet.
Es herrscht auch Einigkeit darüber, dass die Polizei unser Eigentum schützen soll, indem sie Einbrecher daran hindert, in unsere Häuser einzudringen. Alle würden es aber als größtes Unrecht bekämpfen, wenn die Polizei den Villenbesitzern bei der Erweiterung oder Verschönerung ihrer Häuser hilft. Die Polizei als Dienstpersonal der Allgemeinheit ließe sich in diesem Fall für die Interessen der Besitzenden einspannen.
Umso seltsamer muss es erscheinen, dass demokratische Staaten diesen offenkundigen Verstoß gegen unser Gerechtigkeitsgefühl in anderen Bereichen auf krasse Weise missachten. Gewiss, es wäre sehr ungerecht, wenn jemand Vermögen, das er durch eigene Arbeit erwarb, ohne eigene Schuld dahinschmelzen sieht. Daher halten wir es für durchaus gerecht, wenn Polizei und Staat dafür sorgen, dass eine solche Verletzung der Eigentumsrechte verhindert wird – so wie sie eben auch für den Schutz unserer Häuser und unseres sonstigen Eigentums sorgen. Doch nur in Diktaturen wird die Polizei dazu missbraucht, über diesen selbstverständlichen Schutz hinaus, dieses Eigentum zu vermehren. Das wäre nichts anderes als die oben beschworene Praxis parasitärer Mafiaorganisationen.
Müssen wir dann nicht umso mehr darüber erstaunen, dass genau diese Praxis bei anderen Arten des Eigentums sehr wohl geduldet wird, zum Beispiel beim Geldkapital. Nur seltsam: Hier hört man so gut wie keinen Protest, obwohl grundsätzlich nicht der geringste Unterschied zum Treiben der Mafia besteht.
Im Augenblick findet in Deutschland eine Diskussion darüber statt, ob es noch als gerecht gelten darf, dass abhängig Beschäftigte einer Einkommenssteuer von bis zu 45% unterliegen, die Kapitalvermögen aber nur einer Last von 25%. Im Sinne der Gerechtigkeit habe sich das deutsche Bundesverfassungsgericht von jeher für eine gleiche Besteuerung eingesetzt.
Gerechtigkeit? Was ist denn daran gerecht, dass der Staat statt das Vermögen lediglich zu schützen, dessen üppige Vermehrung gestattet, und zwar ohne alle eigene Leistung? Bekanntlich vergrößert und verschönert sich eine Villa niemals von selbst – ihr Besitzer muss dafür schon etwas tun, z.B. indem er Arbeiter dafür bezahlt. Und bekanntlich wächst Geldkapital genauso wenig, wenn sein Eigentümer dafür keine Leistung erbringt. Doch nein! Genau das stimmt eben nicht. In diesem Fall ist tatsächlich alles anders. Geldkapital darf ohne eigene Leistung wachsen: Der Staat drückt angestrengt beide Augen zu, wenn die Geldvermögen Schutzgelderpressung betreiben. Entweder ihr, die Allgemeinheit, sorgt für leistungslose Vermehrung oder wir streiken!
Das ist schon überaus seltsam: Wir schreien laut auf, wenn ein Villenbesitzer oder Schlossherr die Polizei oder andere staatliche Organe für eigene Zwecke missbraucht. Mit Recht stellen wir dann mafiose Zustände an den Pranger. Aber grundsätzlich liegt genau derselbe Fall vor, wenn sich statt seiner Villa sein Geldvermögen ohne jedes eigene Zutun vermehrt. Dieser Fall ist sogar um einiges schlimmer, weil nicht nur Teilorgane wie Polizei oder Gerichtsbarkeit vor die Interessen einer kleinen Schicht gespannt werden, sondern der gesamte abhängig arbeitende Teil der Bevölkerung ungefragt dafür herhalten muss.
Wie abgehoben von wirklicher Gerechtigkeit mutet da die Diskussion um die Angleichung von Einkommens- und Geldkapitalbesteuerung an! Da kommt mafioses Verhalten gar nicht erst in den Blick, sondern bloß das Problem, wie weit man es dulden will. Dabei liegt wirkliche Gerechtigkeit in diesem Fall doch offenkundig zutage! Mit vollem Recht darf ich vom Staat verlangen, dass er mein Haus vor marodierenden Banden schützt. Mit gleichem Recht darf ich ebenso verlangen, dass meine angesparte Million – sei es als Wertpapier oder als Sparguthaben – in ihrem vollen Kaufwert erhalten bleibt; aber mit welchem Recht poche ich darauf, dass sich mein Eigentum vermehrt, wenn eine solche Vermehrung zwangsläufig auf der Ausnutzung und Arbeit anderer Menschen beruht? Was ist daran gerecht?
Nein, über Gerechtigkeit brauchen wir hier gar nicht zu streiten, so wie wir es im Fall des Unternehmenschefs tun, dessen Leistung nicht eindeutig bestimmt werden kann. Hier ist im Gegenteil die größtmögliche Eindeutigkeit gegeben. Die Leistung, die ich für den Geldkapitalertrag, also die Vermehrung meines Vermögens, aufbringe, beläuft sich auf Null. Ich brauche keinen Finger dafür zu rühren. Wie kann es sein, dass das deutsche Bundesverfassungsgericht, ein Einkommen, das ich im Schlaf ‚verdiene’, als genauso gerecht bewertet wie eines, für das ich hart, unter Umständen sehr hart, arbeiten muss?
Warum stellt sich das Bundesverfassungsgericht dieser elementaren Ungerechtigkeit nicht entgegen? Warum findet sich die Gesellschaft stillschweigend mit einem parasitären Verhalten ab, das noch dazu ihre am härtesten errungenen Prinzipien verrät? Müssen wir uns nicht aufs Höchste darüber verwundern, dass die Grundwerte der Gerechtigkeit überhaupt der Verteidigung bedürfen, zumal es erst in langen Kämpfen gelang, die Privilegien der Geburt zu beseitigen und die individuelle Leistung zur Grundlage und Rechtfertigung persönlichen Aufstiegs zu machen?
Wenn der Staat mir die Kaufkrafterhaltung meiner ersparten Million garantiert, kann es nur eine einzige gerechte Lösung geben: Alles was diese Million an Ertrag aufgrund der Arbeit anderer hervorbringt, steht nicht mir, sondern der Allgemeinheit zu, und zwar in voller Höhe. Ich profitiere genug davon, dass dieselbe Allgemeinheit Polizei und Gerichtswesen mit hohen Kosten dafür bezahlt, dass mein Geldvermögen ebenso wie mein Haus und sonstiges Eigentum seinen Wert über die Jahre bewahrt.
Ich weiß schon, gegen dieses elementare Gerechtigkeitsgebot wird sofort eine ganze Breitseite von Argumenten abgeschossen, selbst von denen, die in leistungslosem Einkommen einen Bruch des Gesellschaftsvertrages sehen. Solche Kritik sei ja zu verstehen, aber der Fachmann wisse, wie viele unübersteigbare Hürden dabei zu überwinden wären. Gewiss, aber das Gleiche lässt sich auch gegen das parasitäre Treiben der Mafia einwenden. Immer gibt es tausend Gründe, warum die ewigen Verhinderer den Kampf gegen den Status quo als hoffnungslos deklarieren. Dabei ist es ja einfach nicht wahr, dass sich niemand mehr dazu hergeben würde, sein Geld anzulegen, wenn er für leistungsfreies Handeln nicht die gleiche Belohnung empfängt wie der Durchschnittsbürger für seine meist aufreibende tägliche Arbeit. Würde ein gerecht handelnder Staat die Kaufkraft des Ersparten garantieren und zugleich eine leichte Inflation zulassen, so dass niemand sein Geld unter der Matratze verwahrt, dann zwingt er die Vermögen weiterhin in den Kreislauf, wo sie Investitionen und damit die Erhaltung der Wirtschaftskraft garantieren.* Zusammen mit einem Mindestmaß an Kontrolle über Gold, Edelsteine und andere Mittel der Wertaufbewahrung kann er auch alternative, für die Wirtschaft ungünstige Arten der Vermögenshortung verhindern.
Wir streiten uns ewig über Gerechtigkeit auf jenen Gebieten, wo ein abschließendes Urteil schwer oder auch gar nicht möglich ist. Viele große Vermögen werden immer noch durch hervorragende Leistungen erschaffen – wir denken dabei z.B. an Bill Gates oder Steve Jobs (ich weigere mich allerdings George Soros in diese Kategorie einzuordnen und in der Spekulation eine dem Gemeinwohl dienliche Leistung zu sehen). Doch das eigentliche Problem beginnt danach. Einmal erschaffen, werden sie durch Kapitalvermögenserträge automatisch vermehrt, so dass sie über die Leistung hinaus fortbestehen und sich über Generationen verfestigen. Jeder klar denkende Menschen ist sich des Unrechts bewusst, wenn die Mafia sich wie ein Hausschwamm parasitär in einer Gesellschaft ausbreitet. Warum begreifen die wenigsten, dass die parasitäre Vergrößerung der Vermögen und die damit einhergehende Verarmung der Mehrheit kein geringeres Übel und Unrecht ist? Jetzt schon hat sie uns in eine Privilegiengesellschaft zurückgestoßen, die wir doch angeblich überwunden und abgeschafft haben!
Dabei steht das Ziel eindeutig fest. Ebenso wie eine gerechte Gesellschaft der Mafia ihren vollen Gewinn abnimmt, pocht sie auf das Recht, Geldkapitalerträge zu hundert Prozent zu kassieren (vorausgesetzt, dass die Kaufkraft dieser Vermögen – bis zu einer gewissen Höhe – ebenfalls zu hundert Prozent garantiert wird). Das ist ein Gebot elementarer Gerechtigkeit vor und unabhängig von jeder parteipolitischen Färbung. Und es ist ein Gebot der Stunde, denn in ganz Europa fällt es mehr und mehr Menschen schwer, von ihrem Arbeitseinkommen zu leben – und das zu einer Zeit, da eine kleine Schicht astronomische Summen (zusätzlich oder nicht zu eigener Arbeit) ganz ohne eigenes Zutun ‚verdient’, indem sie auf parasitäre Art von der Arbeit anderer lebt. So ist es zu einer breiten und sich stetig ausweitenden Kluft zwischen einer superreichen Minderheit und einer allmählich verarmenden Mehrheit gekommen. Wenn es wirklich um Gerechtigkeit geht, dann sollte das Bundesverfassungsgericht Geldkapitalerträge verbieten und damit sämtliches Einkommen, das jemand im Schlaf verdient, denn es ist nicht besser als das Schutzgeld der Mafia.
*Es gibt eine ganze Reihe von Vorschlägen, wie der Staat die mafiose, d.h. die leistungsfrei vollzogene, Akkumulation der Vermögen verhindert. Die oben genannte ist die einfachste, aber keineswegs die eleganteste. Dass Staat und Allgemeinheit dabei immer gewinnen, ist evident – auch wenn sie auf dem Wege des Inflationsausgleichs die Kaufkraft der Vermögen (bis zu einer gewissen Grenze) garantieren. Sie gewinnen nämlich um genau den Betrag, der der heutigen leistungslosen Akkumulation in den Händen weniger entspricht. Ich sehe hier ausdrücklich davon ab, bestehende oder neue Lösungsvorschläge zu nennen, denn bevor man über Lösungen spricht, kommt es zunächst einmal darauf an, überhaupt das grundsätzliche Unrecht in den Blick zu bekommen. Das ist ja selbst einem so zentralen Organ des Gerechtigkeitsdiskurses wie dem Bundesverfassungsgericht bisher nicht gelungen.