(auch erschienen in: Zeitschrift "Humane Wirtschaft" 1/2017 und fbkfinanzwirtschaft)
Das Streben nach Gleichheit bis hin zur forcierten Uniformierung ist so alt wie die Menschheit, und das aus einem einleuchtenden Grund: Ungleichheit und deren Billigung führt im Extrem zur Deklassierung von Menschen: Man lehnt die Ungleichen als minderwertig, überflüssig oder gar ausrottenswert ab. Nur weil wir andere Menschen, seien es die der eigenen Nation, seien es die fremder Völker, als grundsätzlich gleich betrachten, sind wir zu einem friedlichen Miteinander bereit. Tiere, selbst nah verwandte, betrachten wir nicht so – die Auswirkungen sind bekannt.
Das Streben nach Gleichheit und Vereinheitlichung kommt überall da zur Geltung, wo Frieden zwischen Nationen und Gesellschaften dauerhaft hergestellt werden soll. Die Europäische Union verdankt ihm ihre Entstehung, ebenso die „Vereinigten“ Staaten und überhaupt alle Zusammenschlüsse kleiner menschlicher Gemeinschaften zu großen. Nicht anders gehen Religionen vor, wenn sie sich als universalistisch betrachten: Sie bieten einen gemeinsamen Glauben an, um Menschen durch das Band ideologischer Gleichheit aneinander zu ketten und so gegenseitiges Verständnis und letztlich Frieden zwischen ihnen zu stiften.
Weltstaat und ewiger Friede
Aus der historischen Vogelperspektive betrachtet, begann menschliche Geschichte bei den kleinsten Einheiten aus nomadischen Sippen, entwickelte sich zu Stämmen und Völkern, weitete sich zu Reichen und Imperien aus, bis in unserer Zeit zwei, drei Supermächte entstanden, deren abschließender Zusammenschluss unter einer globalen Weltregierung den logischen Abschluss dieser Entwicklung bedeuten würde – allerdings nur, wenn diese Mächte sich nicht zuvor in einem apokalyptischen Feuerwerk gegenseitig vernichten. Da der Staat seiner Definition nach eine Institution ist, die durch Gleichheit der Gesetze inneren Frieden stiftet – er ist nach Max Webers Definition der einzige Quell legitimer Gewalt – kann allein ein künftiger Weltstaat ewigen Frieden stiften – so wie von Immanuel Kant und Albert Einstein vorausgesehen und auch gefordert.
Separatismus
Eine zu einfache und geradezu irreführende Sicht auf menschliche Geschichte wäre es allerdings, wenn man sie nur als Bestreben in Richtung auf Vereinheitlichung deuten würde. Denn zur gleichen Zeit lassen sich überall auf der Welt gegenläufige Tendenzen bemerken. Im Herzen Europas wollen sich belgische Flamen von ihren wallonischen Landsleuten trennen, katholische Iren würden ihre protestantischen Mitbürger am liebsten nach England verbannen, katalanische Spanier erstreben die Unabhängigkeit von Madrid, Edinburgh will sich von London lösen. Ebenso bringen zentrifugale Kräfte das Gebälk zwischen den Staaten Europas zum Knistern, also zwischen eben denselben Staaten, die noch vor wenigen Jahren glücklich waren, Mitglieder eines Vereinten Europas zu sein. England ist aus der Union bereits ausgeschieden. Sollte Brüssel die Visegrád-Staaten zur Aufnahme unerwünschter Flüchtlinge und Zuwanderer zwingen, so ist jetzt schon abzusehen, dass einer oder mehrere unter ihnen dem Beispiel Englands folgen werden.
Abwägung von Nutzen und Schaden
Wie kommt es zu diesem seltsamen Konflikt zwischen Einheitsbestrebungen, die in historischer Sicht die unverkennbare Hauptströmung bilden, und den vielen hartnäckigen Versuchen, sich dem Souveränitätsverzicht und der Unterordnung, die jede Einheit zwangsläufig mit sich bringt, immer erneut zu entziehen?
Vordergründig gilt auch hier die menschlich-allzumenschliche Abwägung zwischen Nutzen und Schaden. Flamen, Katalanen und Schotten betrachten sich als die Zahlmeister ihrer jeweiligen Staaten. Bei politischer Unabhängigkeit rechnen sie sich größeren Wohlstand und ein höheres Maß an Freiheit aus. Das Vereinigte Königreich wollte sich von Brüssel nicht länger die ethnische Zusammensetzung der eigenen Bevölkerung diktieren lassen – auch nicht um den Preis ökonomischer Einbußen. Dieser Gesichtspunkt steht für die sogenannten Visegrád-Staaten im gleichfalls Vordergrund. Denn der eigentliche und ursprüngliche Nutzen, der seinerzeit die Vision eines „Vereinten“ Europa überhaupt erst heraufbeschwor, geriet ja längst in Vergessenheit. Ich spreche von der Abschaffung des Krieges unter den Mitgliedstaaten. Die junge Generation kennt nichts anderes als den Frieden innerhalb der Grenzen Europas; er erscheint ihnen daher als selbstverständlich.
Was dagegen mehr und mehr in das Blickfeld vieler Europäer gerät, ist das Versagen der Union: ihre Versprechen auf immer größeren und weiter wachsenden Wohlstand erscheinen unglaubwürdig, seitdem Arbeitslosigkeit und Verschuldung bis nahe am Staatsbankrott den ganzen europäischen Süden zwischen Griechenland und Portugal heimsuchen und mit politischer Instabilität bedrohen. Es ist keineswegs überraschend, dass die Abwägung von Nutzen und Schaden in einer derartigen Situation die zentrifugalen Kräfte stärkt.
Zwei Seiten derselben Medaille
Dennoch bezeichne ich dieses Abwägen von Nutzen und Schaden als vordergründig, weil es einen weiteren und ungleich tiefer liegenden Grund dafür gibt, dass neben friedenstiftender Einheit und Vereinheitlichung auch immer das gegenläufige Bestreben nach Differenzierung besteht. Gerade dann, wenn Einheit erfolgreich errungen wurde, zum Beispiel in der institutionell abgesicherten Form eines Staates oder einer Union, welche die Gefahr eines inneren Krieges mit Erfolg überwindet, streben die ihn konstituierenden Individuen nach jenem Maximum an gegenseitiger Ungleichheit, das sich mit dem Frieden verträgt. Denn nur die ihnen gewährte Ungleichheit ermöglicht jedem einzelnen von ihnen, jene Talente auszuleben und durch Bildung noch auszuweiten, mit denen sie im gebändigten (friedlichen) Wettbewerb den größtmöglichen Beitrag zum Wohl des Ganzen leisten. Und selbst wenn das Wohl des Ganzen dabei nicht im Vordergrund steht, sondern eher das jeweils eigene, ist dieses Bestreben genauso ausgeprägt: Es äußert sich in Gestalt eines von allen erstrebten Individualismus. Jeder versucht sich zumindest durch Äußerlichkeiten von seinen Mitmenschen zu unterschieden – geradezu als Beleidigung wird es gesehen, wenn man in den Augen anderer eine bloße Kopie ist: nichts als ein gesichtsloser Einheits- und Massenmensch.
Es ist also richtig, das Gleichheit und Ungleichheit zwei Seiten ein und derselben Medaille sind – man könnte auch sagen, dass sie sich gegenseitig bedingen, sobald Menschen zu Bürgern eines befriedeten Staates werden. Denn die institutionelle Vereinheitlichung, wie sie durch eine gemeinsame Verfassung hergestellt wird, bildet die unerlässliche Grundlage für die Entfaltung menschlicher Vielfalt und Differenzierung.
Chancengleichheit: Die Gründungscharta der modernen Gesellschaft
Den Raum für die Entfaltung der Unterschiede auf der Grundlage von Gleichheit haben die beiden großen Revolutionen des 18. Jahrhunderts geschaffen, die amerikanische und die französische. Damals setzte sich einerseits die linke Forderung durch, dass Privilegien gleich welcher Art obsolet sind und abgeschafft werden müssen – das entsprach einem Aufruf zur Gleichheit. In der Anfangsphase der französischen Revolution wurde dieses Programm mithilfe der Guillotine auf blutige Art durchgesetzt.
Andererseits bestand das rechte Lager darauf, dass an die Stelle des Privilegs die individuelle Leistung und deren Entlohnung zu treten habe. Das entsprach der Forderung nach Differenzierung der Menschen je nach ihrem Können und Wissen. Beide Forderungen zusammen bilden bis heute das Fundament, auf dem der bisher materiell wie geistig produktivste Bau menschlicher Gesellschaft errichtet wurde.
Die beiden Forderungen fließen in dem Prinzip der Chancengleichheit zusammen: Sie ermöglicht und fördert die Entfaltung individueller Fähigkeiten aufgrund eines offenen Bildungssystems, das im Prinzip dazu dienen soll, jede neue Generation gleich zu behandeln, also die Karten durch Bildung und Ausbildung jeweils ganz neu zu mischen. Im Idealfall entscheiden weder Glück noch Privileg, sondern allein die Kompetenz jedes einzelnen Bürgers über die Stellung, die er in der Gesellschaft erringt.
Korruption hebelt die Grundprinzipien demokratischer Gesellschaften aus
Heute wird allgemein anerkannt, dass die durch Bildung und angeborene Unterschiede geschaffene Ungleichheit die Grundlage für die Entfaltung der Einzelnen und den Wohlstand der Staaten bildet, auch wenn man nach wie vor darüber streitet, wie sich angeborene und erworbene Unterschiede zueinander verhalten (nature/ nurture). Einig sind sich die beiden Lager des politischen Spektrums auch über die verderbliche Wirkung von Privilegien, weil sie das Prinzip gleicher Chancen unterminieren. Deshalb würde sich niemand, ganz gleich ob links oder rechts verortet, öffentlich zu der Meinung bekennen, dass Korruption – eine Form leistungsloser Privilegierung – zu den wünschenswerten Praktiken demokratischer Staaten gehöre. Korruption wird allgemein als ein Übel betrachtet, weil sie jenseits von Wissen und Können, also ohne jede eigene Leistung, eine Abkürzung zum Reichtum eröffnet und damit gegen eine Grundforderung der demokratischen Gründungscharta verstößt.
Leistungslose Bereicherung – eine Fortsetzung feudaler Privilegien
Wie verhält es sich aber dann mit einer allgemein bekannten Institution, die kaum Aufmerksamkeit erregt, geschweige denn Empörung, obwohl ihre Wirkungen quantitativ viel tiefer reichen als die der Korruption und sie gegen das linke Drängen nach Abschaffung von Privilegien ebenso diametral verstößt wie gegen die rechte Forderung nach ausschließlicher Honorierung von Leistung?
Im Jahre 2015 brachten die Dividenden ihrer BMW-Aktien den Familien Quandt und Klatten 815 Millionen Euro ein. Mehr als zwei Millionen pro Tag haben beide Familien im Schlafe – nein, nicht im üblichen Sinne „verdient“, denn eine Leistung brauchten sie dafür nicht zu erbringen. Sie haben diese zwei Millionen einfach Tag um Tag als Geschenk überreicht bekommen – also als ein durch nichts zu rechtfertigendes Privileg.
Natürlich ist hier nicht von dem Vermögen selbst die Rede – ich gehe davon aus, dass dieses durch persönliche Leistung so gut oder vielleicht sogar besser erarbeitet wurde wie jedes andere, das sich als Belohnung für harte, erfindungsreiche Arbeit ergibt. Ebenso wenig Einspruch ist auch gegen die Forderung an den Rechtsstaat zu erheben, dass er die Rahmenbedingungen dafür erschafft, dass erarbeitete Vermögen in voller Höhe (bei Inflation auch mit einem entsprechenden Ausgleich) ihren Besitzern über die Jahre erhalten bleiben. Durch nichts zu rechtfertigen ist einzig das phantastische Privileg, dass ein durch Leistung erworbenes Vermögen sich – ist es einmal vorhanden – anschließend ohne alle Leistung aufgrund eines institutionell verankerten Automatismus vermehrt und den Vermögenden dadurch einen mit der Zeit stetig wachsenden Vorsprung vor dem Rest der Bevölkerung verschafft – der, nebenbei bemerkt, durch die sozialstaatliche Umverteilung gerade nicht neutralisiert wird, findet diese doch allein innerhalb jener unteren 90 Prozent der Bevölkerung statt, deren Einkommen und Vermögen dem Staat auf Heller und Pfennig bekannt sind.
Sind Privilegien gottgegeben?
Privilegien sind ein Verstoß gegen die Gleichheit der Chancen, aber die Macht des Faktischen ist allgemein größer als die des kritischen Denkens. Privilegien mögen daher noch so ungerechtfertigt, phantastisch oder gefährlich sein, sind sie einmal in den Institutionen verankert, werden sie mit der Zeit als derart selbstverständlich betrachtet, dass man sie am Ende ebenso widerspruchslos akzeptiert wie, sagen wir, die Unbilden des Wetters. So verhielt es sich mit den Vorrechten von Adel und Klerus bis ins 18. Jahrhundert. Damals bedurfte es wagemutiger Denker wie Voltaire und Rousseau, um in ihnen überhaupt ein Unrecht zu sehen. Beide Denker konfrontierten ihre Zeitgenossen mit der kritischen Frage, ob es denn wirklich selbstverständlich und gottgegeben sei, dass der Adel sich von dem Schweiß der Untertanen ernährt – und dafür längst keine Leistung mehr erbrachte, seit er in Versailles nur noch das Dasein von Rentnern und Parasiten führte.
Die leistungslose Bereicherung einer Vermögenselite wird in unserer Zeit ebenso unkritisch hingenommen wie damals die Vorrechte des Adels. Dabei gerät ganz aus dem Blick, dass es eine von der Bevölkerungsmehrheit mit Steuergeldern erbrachte Leistung ist, erarbeitete Vermögen überhaupt zu erhalten – denn ohne einen funktionierenden Justiz- und Polizeiapparat wäre das gar nicht möglich. Es spricht also vieles dafür, dass diese Dienstleistung der Gesellschaft statt mit Privilegien belohnt mit einer Gebühr zu entgelten wäre – und zwar je nach Höhe der zu erhaltenden Vermögen.
Natürlich sind auch die größten Vermögen nicht ewig – weder die durch eigene Leistung erschaffenen noch die durch Privileg erzeugten. Bis heute wurden sie in unregelmäßigen Abständen durch Kriege und andere Katastrophen vernichtet, aber ist das ein Grund, sie durch Privilegien irgendwelcher Art zu begünstigen? Ist es denn etwa nicht wahr, dass die Masse der Bevölkerung für Kriege und Katastrophen von jeher mit weit mehr als bloßen Vermögensverlusten bezahlt?
Appell an Gerechtigkeit
Wer Korruption bekämpft, ist nicht von Neid getrieben. Diese Anschuldigung wäre eine böswillige Unterstellung, denn der Kampf gegen die Korruption wird im Namen der Gerechtigkeit geführt, weil solche Praktiken die bestehende Ordnung verletzen, indem sie ihre legalen Grundlagen unterspült. Wer die phantastischen Privilegien an den Pranger stellt, die einer Vermögenselite nicht aufgrund von Arbeit, sondern ohne alle Leistung als Geschenk zufallen, der braucht an den Neid genauso wenig zu appellieren: Es geht um Gerechtigkeit, wie sie aufgrund einer lagerübergreifenden Gründungscharta zumindest in der Theorie sowohl von Rechts wie von Links verstanden wird.
Natürlich tragen Quandt und Platten keine persönliche Schuld an den von ihnen genossenen Privilegien; auch den einzelnen Adligen des Ancien Régime konnte man schwerlich für die ihm damals durchaus legal gewährten Vorteile verantwortlich machen. Die Schuld liegt in einem bis heute nicht beseitigten Verstoß gegen die Gleichheit der Chancen, dem Grundprinzip der modernen Gesellschaft.