Unser Verhältnis zu Wunder und Wunderbarem ist ambivalent. Einerseits sehnen wir uns nach dem Außerordentlichen, verschlingen alle Berichte und Gerüchte über das Auftreten irgendeines nicht für möglich gehaltenen Geschehens, andererseits fürchten wir uns davor, weil das Ungeplante, Ungewollte, Unvorhergesehene unsere Sicherheit bedroht. Die Haltung der Wissenschaften ist demgegenüber von Eindeutigkeit bestimmt. Sie verpönt das Wunder und verspottet alle, die daran glauben. Wenn die Geltung der Naturgesetze per definitionem keine Ausnahme kennt, kann es keine Wunder geben.
Auch das Wunderbare verwirft sie als anrüchig, es sei denn, dass sie die Formeln, womit sie physikalische Vorgänge beschreibt, z.B. die berühmte Gleichung Einsteins, die das Verhältnis von Masse und Energie quantifiziert, selbst als Ausdruck einer überwältigend wunderbaren Einfachheit zum Gegenstand der Ehrfurcht und Bewunderung erhebt. Die meisten Wissenschaftler würden jedoch im selben Augenblick darauf bestehen, dass auch diese Formel nur zum Ausdruck bringt, dass alles in der Welt auf ganz natürliche Art geschieht. Sich wundern und staunen könne man allenfalls über die außerordentliche Intelligenz jener Menschen, denen es als ersten gelang die Maschinerie der Natur zu durchschauen und sie in so eleganten und einfachen Formeln darzustellen.
Diskussionen über das Wunderbare in der Natur
finden in der Wissenschaft allenfalls unter Experten statt, z.B. wenn diese sich um ein Verständnis der Quantentheorie bemühen. Immerhin fühlte sich einer der größten Fachleute auf diesem Gebiet, der Physiker Richard Feynman, zu der Bemerkung veranlasst: „Wenn Sie glauben, dass Sie die Quantentheorie verstanden haben … dann /ist das ein Beweis dafür/, dass Sie sie nicht verstehen.“
Kein Zweifel, hier stoßen wir unmittelbar auf das Wunderbare. Eine Theorie, welche in der Praxis brauchbare statistische Vorhersagen physikalischer Vorgänge erlaubt, ist der verstehenden Vernunft dennoch unzugänglich. So illustriert es auch die sogenannte Kopenhagener Deutung mit der populären Metapher der schwarzen Box. Solange wir sie nicht öffnen, ist die darin befindliche Katze sowohl tot wie lebendig. Sobald wir sie öffnen, ist sie nur noch eines von beiden: entweder tot oder lebendig.
Wer das Paradox von der Katze verstehen will,
die zugleich tot und lebendig ist, darf sich nicht mit der Metapher begnügen. Er muss ein jahrelanges Studium der Quantenphysik absolvieren. So könnte es scheinen, als bliebe die Begegnung mit dem Wunderbaren den Experten vorbehalten. Fühlen wir uns bei diesem Tatbestand nicht gleich an frühere, dunkle Zeiten erinnert? So war es doch auch schon bei dem Vorgänger der Wissenschaft, der Religion. Über eineinhalb Jahrtausende war die Lektüre der Bibel nur den Experten erlaubt, das heißt den Priestern. Damit das Volk sich nicht anmaßte, über deren oft groteske und widersprüchliche Inhalte ein eigenes Urteil zu fällen, sollte ihm nicht nur die Bibel unzugänglich bleiben, aus demselben Grund wurden auch die Predigten in einer dem Laien unverständlichen Sprache, dem Latein, gehalten. Wenn sich Unbefugte dennoch erdreisteten, in das Gehege der damaligen priesterlichen Monopolisten der Wahrheit einzudringen, riskierten sie die Verfolgung als Ketzer, unter Umständen sogar den Tod auf dem Scheiterhaufen.
Die Naturwissenschaften sind dem Verständnis des Laien inzwischen nicht weniger weit entrückt. Mit dem Cordon sanitaire ihrer jeweiligen Fachsprache schließen sie sich wirksam gegen die Laien ab. So muss – und soll – der Eindruck entstehen, als hätte nur derjenige das Recht, über Gott und Natur zu reden, der dazu die nötigen Fachseminare absolviert und ein entsprechendes Diplom erworben hat.
Demgegenüber besteht die demokratische Aufgabe
des kritischen Denkens in dem Nachweis, dass auch die höchsten Türme der Religion und der Wissenschaft auf dem Sockel weniger Grundwahrheiten errichtet sind, die jeder Mensch zu verstehen vermag. Nach dem Wunderbaren müssen wir nicht erst in der Quantentheorie suchen – es offenbart sich viel offenkundiger und mit weit größerer Anschaulichkeit gerade im Alltäglichen und Gewohnten. Dafür die Augen zu öffnen, war das Ziel der kantschen „reinen Vernunft“ in der Konfrontation mit ihren Antinomien.
Nehmen wir einen Vorgang von scheinbar äußerster Banalität: die absichtsvolle Bewegung meines Arms, weil ich das gerade in diesem Moment so will. Oder den Aufbruch einer Armee von Tankern an die ukrainische Grenze, weil Wladimir Putin das gerade so befiehlt. Bloße Gedanken setzen auf dem Globus in jeder Sekunde die größten materiellen Geschehnisse in Gang, obwohl nach den Lehrbüchern der Physik auch die kleinste materielle Veränderung oder Bewegung grundsätzlich von Naturgesetzen abhängig ist und von ihnen verursacht wird. Die Gedanken im Kopf von Wladimir Putin oder der Milliarden Akteure, die das Geschehen in unserer Welt ständig verändern, sind allerdings auf kein uns bekanntes Naturgesetz zurückzuführen.
Dieser offenkundige Widerspruch,
diese Konfrontation mit dem Wunderbaren, die sich bisher jeder Erklärung entzieht, wird kaum je zur Sprache gebracht. Die Experten haben sich darüber verständigt, dass Probleme von dieser Art zur Philosophie gehören und sie daher nichts angehen. Probleme, die im Augenblick noch ganz unlösbar erscheinen, werden schlicht verleugnet oder verdrängt. So wie die Vertreter der Religion die Widersprüche und Rätsel der Bibel vor dem Volk verbargen, damit diese nicht Zweifel an ihrem vermeintlich höheren Wissen hegten, unterdrücken die Experten der Wissenschaft die elementarsten Rätsel der uns umgebenden Wirklichkeit aus genau demselben Grund. Die Experten schweigen über das Wunderbare. Das bewahrt sie davor, ihr Unwissen einzugestehen.
Das Gewohnte ist dennoch alles andere als gewöhnlich
Diese Einsicht drängt sich uns in demselben Augenblick auf, da wir begreifen, dass es keineswegs identisch mit dem Verstandenen ist. Nehmen wir ein anderes Beispiel. Solange die Menschen glaubten, dass die Erde eine Scheibe sei, gab es für sie ein Oben ebenso wie ein Unten. Der Himmel über meinem Kopf gab die Richtung nach oben an. Wer den Rand der Scheibe erreichte, würde dort in die Tiefe fallen – er stürzt nach unten. Inzwischen wissen wir, dass die Erde eine Kugel ist und es daher weder oben noch unten gibt. Oder richtiger gesagt, bezeichnet der Himmel über den Köpfen der Australier für diese ebenso die Richtung nach oben, wie für uns auf der entgegengesetzten Seite der Kugel. Das aber bedeutet, dass die uns geläufige Vorstellung von oben und unten für den Weltraum nicht gelten kann. Diese Vorstellung ist für uns ebenso unbegreiflich wie die Gravitation, die uns Deutsche genauso fest am Planeten kleben lässt wie die Australier auf seiner entgegengesetzten Seite.
Das Paradox besteht auch in diesem Fall darin, dass die Gravitation die allergewohnteste Tatsache ist, an welche im alltäglichen Leben niemand einen Gedanken verschwendet. Dennoch könnten wir die Aussage Richard Feynmans mit gleichem Recht auf die Gravitation beziehen: „Wenn Sie glauben, dass Sie die Gravitation verstanden haben … dann /ist das ein Beweis dafür/, dass Sie sie nicht verstehen.“ Zwar vermag die Physik die Wirkungen der Gravitation quantitativ mit größter Genauigkeit für jede Entfernung vom Erdmittelpunkt anzugeben. Dennoch entzieht sich diese unsichtbare Kraft unserem Verstehen. Wir wissen, dass sie existiert und exakt messbare Wirkungen hat, aber warum sie da ist und wieso es dieser unsichtbaren Kraft gelingt, uns verlässlich auf dem Globus festzuhalten und darüber hinaus auch die Bahnen ferner Himmelskörper zu steuern, darüber wissen wir nichts. Manche (wie beispielsweise Karl Popper) haben daraus den Schluss gezogen, dass Fragen nach dem Wesen physikalischer Erscheinungen überhaupt unzulässig seien und dass man sie deshalb als unwissenschaftlich verbieten solle. Die Essenz einer Kraft, also was sie denn eigentlich sei, brauche uns nicht zu interessieren, es genüge, dass wir ihre Wirkungen im Detail beschreiben und sie für unsere Zwecke nutzen.
Andere haben das anders gesehen
Zu diesen anderen gehört kein Geringerer als Immanuel Kant, der sich mit einem ähnlichen Problem auseinandersetzte, nämlich der Ausdehnung des Raums. Dessen Erfahrung gehört zu den gewohnten Tatsachen des Lebens, über die wir uns selten oder nie den Kopf zerbrechen. Wenn dies aber einmal geschieht, dann stoßen wir unmittelbar auf das Wunderbare – Kant nannte es „Antinomie“ (eine Sackgasse für Anschauung oder Denken). Wir können uns nicht damit abfinden, dass die Welt endlich sei, denn nach jeder Grenze erwarten wir weitere Räume. Ihre Unendlichkeit können wir uns aber ebenso wenig vorstellen, denn Unendlichkeit ist für uns schlechthin unfassbar. Kant stieß hier unmittelbar auf das Wunderbare einer Welt, die sich unserem Verstehen entzieht. So hat er es in dem Kapitel Über die Antinomien der reinen Vernunft dargestellt. Darüber wird noch zu reden sein (vgl. Kap. Pioniere der Antignosis)
Tatsache ist, dass unsere Fähigkeit,
die uns umgebende Wirklichkeit zu begreifen, keineswegs grenzenlos ist – genau deswegen erschüttert uns ja die von Kant so vortrefflich geschilderte Antinomie des Raums, den wir uns weder endlich noch unendlich vorstellen können. Unsere Sinne und unser Begreifen sind nur für die Mittlere Welt zwischen dem Unendlich-Kleinen der Atome und dem Unendlich-Großen des Alls gemacht. Die Quantenphysik hat schon vor mehr als einem Jahrhundert gezeigt, dass wir das Allerkleinste nicht verstehen, die moderne Astrophysik weist auf Schwarze Löcher hin, sogenannte Singularitäten, wo die in der Mittleren Welt geltenden Naturgesetze nicht länger gelten. Genau aus diesem Grund sind diese Punkte singulär. Es wird nicht ausgeschlossen, dass aus ihnen Universen mit völlig anderen Gesetzmäßigkeiten entstehen.Vermutlich wird es darüber einen ewigen Streit der Experten geben. Der braucht uns aber nicht zu interessieren. Wir müssen nicht erst die Mittlere Welt in Richtung des Allergrößten bzw. des Allerkleinsten verlassen, um auf das Wunderbare zu stoßen, in Wahrheit sind wir davon auf allen Seiten umringt. Wir nehmen es nur deswegen nicht wahr, weil wir das Gewohnte mit dem Verstehbaren verwechseln und es dadurch zu etwas Gewöhnlichem machen. (Kapitel aus meinem Buch Das Wunderbare und seine Feinde).