Menschliche Gesellschaften weisen im Allgemeinen nicht mehr als zwei Kernzellen auf: eine von beiden ist die Familie oder Partnerschaft. Allen Fortschritten der In-vitro-Technologie zum Trotz wird sie auch heute noch für den Fortbestand der Spezies Mensch gebraucht. Die andere ist das Unternehmen, eine Institution zur Sicherung der physischen Selbsterhaltung einer Gesellschaft. Auch ihr Überleben scheint einigermaßen gesichert, selbst wenn das Paradies auf Erden verwirklicht wird: die bedingungslose Grundsicherung für alle, die mit Gottes Hilfe dereinst wie Manna vom Himmel regnet. Das Unternehmen hat also Zukunft. Es hat außerdem auch noch eine überaus lange Vergangenheit. Wir begegnen ihm zuallererst in Gestalt von Unternehmungen. So taten sich unsere fernen Ahnen, die Jäger und Sammler, in männlichen bzw. weiblichen Gruppen zusammen, um das Lebensnotwendige zu sammeln und zu erbeuten. Es spricht manches dafür, dass dies die bei weitem glücklichste Epoche menschlicher Geschichte war. Der Mensch verfügte über mehr Freizeit als jemals danach, vor allem aber brauchte er damals noch nicht in einer Klassengesellschaft zu leben. (1)
Bauern und die jagende Minderheit
Dann kam der Fortschritt im Zuge der sogenannten neolithischen Revolution. Um das menschliche Glück war es bald danach um vieles schlechter bestellt. Die kleinsten Produktionseinheiten waren nun die bäuerlichen „Betriebe“. Die Jäger aber lebten trotzdem weiter, nämlich als Herrenschicht, die jetzt vor allem die Jagd auf menschliches Wild betrieb. Auf diese Art vergrößerte sie ihre Macht und ihren Herrschaftsbereich. Obwohl die jagende Minderheit selten mehr als fünf Prozent der Bevölkerung umfasste, verstand sie es doch, unter steter Androhung von Gewalt den größten Teil der von den übrigen 95% erwirtschafteten Güter – Nahrung und Handwerksprodukte – als Tribut für sich einzufordern. Wir lieben die großartigen kulturellen Errungenschaften, welche während der zehntausend Jahre Agrarzeit entstanden, müssten wir allerdings die Klagen der Massen hören, die das alles mit Ausbeutung und Versklavung bezahlten, so würde unser Genuss doch einigermaßen geschmälert.
Die Anklagen des Karl Marx
Jäger und Sammler hat es Hunderttausende von Jahren gegeben, die Agrargesellschaft brauchte weit eine kürzere Zeit, um sich von neuem zu häuten. Diesmal kam der Fortschritt mit der industriellen Revolution. Und wiederum wurde die Frage nach dem menschlichen Glück gestellt. Zunächst konnte es scheinen, als hätte der Mensch sich nun in ein neues noch viel schrecklicheres Unglück verrannt. So jedenfalls sah es Karl Marx, als er seine Anklagen gegen die unglaublichen Zustände in den Fabriken Manchesters erhob (er würde sie heute noch gegen die Kinderarbeit in Asien erheben). Zwischen den Herren der Unternehmen und der Arbeiterschaft bestand dasselbe Verhältnis totaler Abhängigkeit wie zuvor zwischen dem Fürsten und seiner Bauernschaft.
Doch Wissen und Können veränderten das Unternehmen
Doch diese Zustände währten nicht allzu lange. Sie bildeten nur eine Übergangsphase. Mit dem weiteren wissenschaftlich-technischen Fortschritt wurde auch die Struktur der Unternehmen verwandelt: Denn diese setzten bei ihren Mitarbeitern im Laufe der Zeit immer mehr Wissen und Können voraus. Die katastrophalen Missstände, die Marx damals beschrieb, ließen die Betriebe mit der Zeit weit hinter sich. Denn im Unterschied zur Sklavenarbeit, zu der sich jeder zur Not auch freiwillig verkauft, wenn er sonst nicht zu überleben vermag, lassen sich Wissen und Können weder verordnen noch erzwingen. Ein modernes Unternehmen muss entsprechende Anreize bieten, um Ingenieure, Entwickler, Informatiker, Marktanalysten etc. an sich zu binden. Die Bauernschaft der Agrarwirtschaften war noch ohnmächtig gegen den Zehnten des Staats und den zusätzlichen Zehnten der Kirche. Die Herren forderten und die Bauern hatten zu liefern – es ging um ihr Überleben. Die heutigen Spezialisten, ohne die kein moderner Betrieb überlebt, sind in einer ganz anderen Position: Sie können Forderungen stellen. Der Betrieb ist zumindest ebenso sehr auf sie, wie umgekehrt sie auf den Betrieb angewiesen. Insofern werden wir, wie ich meine, behaupten dürfen, dass der Fortschritt von Technik und Wissenschaft die Summe menschlichen Glücks erhöhte.
Innerbetriebliche Demokratie
Aber Unternehmen ist nicht gleich Unternehmen. Nach Ende des zweiten Weltkriegs kam es nicht selten vor, dass ehemalige Kriegskameraden sich zu Gruppen zusammentaten, um in gemeinsamer und oft härtester Arbeit das zerstörte Land wieder aufzurichten. Der Chef war Primus inter Pares, nicht selten hat er für das gemeinsame Ziel noch härter als seine Mitarbeiter geschuftet. Die Analyse von Marx, in denen der Unternehmer pauschal als Ausbeuter hingestellt wird, zielt an solchen Verhältnissen völlig vorbei. Familienbetriebe, in denen sich auch die Mitarbeiter als gleichberechtigt empfinden, stellen die größte Annäherung an eine innerbetriebliche Demokratie dar.
Doch hat es meist nicht lange gedauert, bis sich die Verhältnisse von diesem Idealzustand wieder entfernten und die betriebliche Demokratie im besten Fall in eine paternalistische Monarchie, im schlechtesten Fall in eine Diktatur oder gar Tyrannei überging. Denn die juristische Ordnung der Machtverteilung in Unternehmen weist deren Lenkung nicht dem größten Wissen und Können zu, sondern demjenigen, der – aufgrund welcher Zufälle auch immer – das größte Kapital in den Betrieb einbringt.
In die Diktatur zurückgeglitten
So geschah es nur allzu oft, dass zwar der Ersteigentümer mit den Kameraden noch von gleich zu gleich verkehrte, sein Sohn sich aber – kaum hatte er das Erbe seines Vaters angetreten – menschlicher Rücksichten durchaus enthoben fühlte: Seine juristische Stellung gibt ihm dazu das Recht. Nicht selten entschließt er sich, die Firma samt menschlichem und sachlichem Inventar an den Meistbietenden zu verkaufen. Auf eine solche Idee wäre nach dem Kriege noch niemand verfallen. Schon deswegen nicht, weil die arbeitsfähige Bevölkerung damals stark dezimiert und es daher schwierig war, überhaupt fähige und loyale Mitarbeiter für den Betrieb zu gewinnen.
Das änderte sich nach wenigen Jahrzehnten. Bald ging das Angebot über die Nachfrage hinaus, und der Unternehmer machte nun wieder von seiner Macht Gebrauch. Während – zumindest in Deutschland – die politische Verfassung demokratisch geworden war, fiel das Unternehmen, die produktive Urzelle der Gesellschaft, erneut in die feudale Ordnung zurück: Oben der Unternehmensfürst, der den Betrieb so mit sich selbst identifiziert wie Ludwig der XIV. ganz Frankreich mit seiner eigenen Person; unten die Masse der Mitarbeiter, die ebenso beliebig ersetzbar erscheint wie die im Betrieb verwendeten Maschinen. Von betrieblicher Demokratie und einer Gleichstellung der gleich Befähigten war keine Rede.
Der Staat machte die Unternehmer zu seinen Steuereintreibern
Der Staat stand und steht auf Seiten der Unternehmensfürsten, er machte sich zu ihrem Verbündeten. Dabei ging er wie der Feudaladel vor, der bestallte Steuereintreiber auf seine Güter schickte, um den Zehnten von der Bauernschaft einzutreiben. Dieselbe Aufgabe weist der heutige Staat den Unternehmern zu: Sie haben für den größten Teil staatlichen Einkommens zu sorgen. Den mächtigsten unter ihnen wird diese Aufgabe freilich versüßt. Der Staat räumt den Kapitalgebern und Vorständen der großen Konzerne zahlreiche Vergünstigungen ein. Auch in dieser Hinsicht kopiert er ziemlich genau das Verhalten des Adels gegenüber den von ihm beauftragten Steuereintreibern.
Der daraus erwachsende Schaden ist heute so groß wie damals.
Damit schadet der Staat der Wirtschaft. Er beschwert die Unternehmen mit einer Last, die sie zu Boden drückt – vor allem die kleineren unter ihnen. Wie sehr dies der Fall ist, das beweist der hohe Grad der Verschuldung beinahe sämtlicher (mit Ausnahme der erfolgreichsten) Unternehmen. Diese Schuldenlast beträgt in Deutschland mehr als das Dreifache der Staatsverschuldung – ein Faktum, das seltsamerweise so gut wie nie in den Lichtkegel öffentlicher Aufmerksamkeit gerät. Der Großteil deutscher Unternehmen – von ihren Konkurrenten im restlichen Europa ganz zu schweigen – ist hochgradig verschuldet. Dazu konnte es kommen, weil der Fortschritt, der die moderne Gesellschaft aus dem Stadium der Agrarwirtschaft in das industrielle Zeitalter katapultierte, die archaischen Gewohnheiten staatlicher Steuererhebung praktisch unangetastet ließ.
Arbeit wird durch Besteuerung bestraft
In Agrarwirtschaften hatte die Gier der Herren (Adel und Klerus) nicht selten die Last auf den Schultern der Bauern so sehr erhöht, dass diese Haus und Hof aufgaben und das Land sich entvölkerte. Die Steuerlast auf Unternehmen und Arbeit wirkt sich ebenso hemmend aus. Arbeit – ganz gleich, ob die eines Informatikers, eines Angestellten, Mechanikers oder die des Betriebschefs – sollte grundsätzlich unbesteuert bleiben. Steuern sind eine Art von Bestrafung; der Staat bestraft also, was er im Sinne des Gemeinwohls auf jede Art fördern sollte. Denn im Betrieb finden Menschen zusammen, die mit der Erzeugung von Gütern ebenso für sich selbst wie für das Gemeinwohl sorgen. Der Unsinn einer Besteuerung der Arbeit ist nur aufgrund der historischen Genese der Industrie- aus der vorangehenden Agrargesellschaft zu verstehen.
Der Staat hat der Arbeit die Würde genommen
Ein Unternehmen sollte nur eine einzige Art von Steuern entrichten – die aber in entsprechender Höhe: Im Sinne der Nachhaltigkeit sollte es für seinen Verbrauch an Energie und Rohstoffen einschließlich des Landverbrauchs für seine Anlagen, Büros etc. einen entsprechenden Beitrag an die Gesellschaft zahlen, weil er diese der Verfügung durch andere entzieht. Im Übrigen aber sollte die eigentliche Steuerlast den individuellen Verbrauch betreffen (soweit er ein steuerfreies Lebensminimum überschreitet). Denn statt die Gesellschaft durch die Arbeit jedes Einzelnen zu bereichern, nimmt der Verbrauch ihr etwas, und zwar umso mehr, je weiter sich der Einzelne durch einen überdurchschnittlichen Verbrauch vom unbesteuerten Minimum entfernt. Eine progressive Besteuerung des Konsums (nicht Mehrwertsteuer!) stellt einen Durchbruch für eine gerechte Verteilung dar. Aufgrund der Fortschritte in der Datenübertragung ist er seit Ende des vergangenen Jahrhunderts auch technisch zum ersten Mal möglich. (2) Aufkommensneutral wälzt der Staat die bisherige Steuerlast einerseits von der Arbeit auf den Rohstoff- und Energieverbrauch der Unternehmen und andererseits auf den individuellen Verbrauch der Konsumenten über. Das Einkommen für die geistige Arbeit eines Professors, Schriftstellers und Managers ebenso wenig angetastet wie für die körperliche Arbeit eines Schlossers oder Fliesenlegers. Statt dass er die Arbeit als strafwürdig behandelt, gibt er ihr die Würde zurück.
Die Fürsten leben nach wie vor in unserer Mitte
Das wäre ein Fortschritt im Sinne Jeremy Benthams, nämlich in Richtung der Vermehrung des allgemeinen menschlichen Glücks. Allerdings stößt auch dieser Fortschritt auf Grenzen, denn die Fürsten, die vor der industriellen Revolution allein aufgrund ihrer Geburt Macht und Reichtum auf sich konzentrierten, leben ja weiterhin in unserer Mitte. Nur treten sie in neuer Verkleidung auf, nämlich als Manager und Aufsichtsräte. Den vielen Ackermännern und Winterkörnern braucht man nur ins Gesicht zu schauen, um in ihnen die zeitgenössischen Avatars ehemaliger Fürsten vom Schlage eines Talleyrand oder eines Metternich zu erkennen. Ihr unerschütterliches Selbstvertrauen, ihr hochmütig verfochtener Anspruch auf Macht und exorbitanten Reichtum lässt an dieser Deszendenz wenig Zweifel. Zweifel entstehen nur im Hinblick auf die Rechtmäßigkeit ihres Gebarens. Vielleicht übertreibe ich, aber ich möchte allem Anschein zum Trotz behaupten, dass Reichtum und Wohlstand in Deutschland nicht den geringsten Schaden nähmen, wenn die meisten dieser Leute von heute auf morgen verschwinden würden. Andererseits wird wohl kaum jemand meiner Feststellung widersprechen, dass die gesamte deutsche Wirtschaft augenblicklich zusammenbräche, wenn das gleiche Schicksal die Träger von Wissen und Können beträfe, also Ingenieure, Entwickler, Informatiker, Rechtsexperten etc. Die ersteren wären, so behaupte ich, schnell zu ersetzen. Das Wissen der letzteren aber wird nur in jahrelanger Ausbildung erworben.
Nur langjährig erworbenes Wissen und Können sind unersetzbar
Es besteht hier nämlich ein ähnliches Verhältnis wie zwischen Ministern und dem Beamtenapparat, der ihnen die nötige Expertise verschafft. Im Auftrag der Wähler gibt der Politiker die allgemeine Richtung vor, er legt sozusagen den Kurs des Staatsschiffes fest. Aber weil seine Aufgabe so allgemein ist, lässt er sich ohne Schaden ersetzen, und tatsächlich treten regelmäßig die Vertreter anderer Parteien an seine Stelle. Zerschlägt man dagegen den Apparat, der über das nötige Fachwissen verfügt, bricht im Staat augenblicklich das Chaos aus.
Das gilt ebenso für Unternehmen. Mao Zedong hatte geglaubt, die Verhältnisse auf den Kopf stellen zu können. Im „Großen Sprung nach vorn“ setzte er ideologisch geschulte Kader an die Stelle der Experten und Ingenieure. Mit der richtigen Gesinnung, so glaubte er, würde man auch die richtigen Ergebnisse erzielen. Das Resultat war der totale Zusammenbruch der chinesischen Wirtschaft und eine Hungersnot, die Millionen von Menschen das Leben kosten sollte. Erst Deng Xiao Ping warf das Ruder herum. Mit der Losung, dass es wenig bedeute, ob eine Katze schwarz oder weiß ist, wenn sie nur Mäuse fange, stellte er Maos Lehre vom Kopf auf die Füße. Deng hatte begriffen, dass die richtige Gesinnung ohne Wissen und Können geradewegs ins Verderben führt. Mit diesem Pragmatiker begann der Aufstieg Chinas zur Weltmacht. Wissen und Können und die sie begründenden Bildungsinstitutionen wurden von da an systematisch gefördert.
Am Beispiel Japans
Die weitere Entwicklung bestätigt den Unterschied in der relativen Bedeutung von Fachwissen und organisatorischer Kompetenz. Der Erwerb von technisch-wissenschaftlichem Wissen und Können ist überall auf der Welt ein langwieriger Prozess, verbunden mit dem ebenso zeitraubenden Aufbau eines dazu erforderlichen Ausbildungssystems. Doch kaum ist diese Grundlage hergestellt, so schießen die organisatorischen Talente, sprich Unternehmer, wie Pilze aus dem Boden. Denn die Fähigkeit, zu organisieren und zu lenken, gehört zur Grundausstattung des Menschen. In ihrer spontanen Entfaltung lässt sie sich auf jedem Schulhof beobachten. Daher braucht es uns auch nicht sonderlich zu verwundern, dass eine der bisher erfolgreichsten Industrienationen die Rolle des Managers bewusst diminutiv behandelt. Nach den bösen Erfahrungen, die sie mit dem Raubtierkapitalismus amerikanischer Prägung in den Zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts machten, haben die großen japanischen Konzerne nach Ende des verlorenen Krieges die Rolle des Chefs bewusst klein gehalten. Auch wenn er an der Spitze eines Weltkonzerns stand, war er in der Regel nur Primus inter Pares. Das kam vor allem in seiner Entlohnung zum Ausdruck. Bis in die neunziger Jahre hat ein japanischer Konzernvorstand selten mehr als das Zehnfache seiner geringst bezahlten Mitarbeiter verdient. Seine Aufgabe ähnelte weitgehend der eines Politikers in einer modernen Demokratie. Im Auftrag der Belegschaft, aus der er fast immer durch Wahlen hervorging, sollte er die Richtung des Unternehmens vorgeben, die Kräfte aller Mitarbeiter auf bestmögliche Weise bündeln und vor allem für den Ausgleich von Spannungen und Rivalitäten sorgen. Er brauchte keine besonderen Fachqualitäten aufzuweisen, auf die konnte und sollte er bei seinen Mitarbeitern jederzeit zugreifen können. Dagegen wurde von ihm ein hervorragendes Gespür im Umgang mit Menschen verlangt – also in erster Linie moralische Qualitäten. Dass diese sich nicht mit der Stellung eines fürstlich entlohnten Unternehmensbosses vertragen, verstand sich für ihn wie für seine Mitarbeiter von selbst.
Um nicht in den Verdacht zu geraten, dass ich die japanischen Zustände idealisiere: Ausbeutung gab es auch in japanischen Unternehmen, allerdings nicht die von Marx beschriebene durch einen Chef, der seine Mannschaft wie Sklaven behandelt. Vielmehr handelte es sich um die Selbstausbeutung der Mitarbeiter, die sich mit ihrem Unternehmen weit stärker als mit der eigenen Familie identifizierten. Bei uns existiert ein ähnliches Phänomen nur in Künstlerkreisen: Manche Musiker begeistern sich bis zur Selbstaufopferung für die eigene Sache.
Unternehmen sind nicht mit Mehrheitsbeschlüssen zu lenken
Diese Selbstaufopferung im Dienste des Unternehmens war eine japanische Spezialität, sie kann schwerlich als Vorbild für den Rest der Welt dienen. Daher bleibt es bei dem Problem, dass sich in der Kernzelle unserer Gesellschaft, dort, wo der Durchschnittsmensch die meiste Zeit seines bewussten Lebens verbringt, eine entscheidungsberechtigte Führung und eine weisungsgebundene Mehrheit mehr oder weniger deutlich getrennt gegenüber stehen. Dieses Problem ist mit einer einfachen demokratischen Lösung nicht zu bewältigen: Ein Unternehmen lässt sich nicht mit Mehrheitsbeschlüssen lenken. Das wäre nur sinnvoll und möglich, wenn jeder einzelne Mitarbeiter einen vollständigen Überblick über das ganze Unternehmen besäße. Bei größeren Unternehmen ist das eine unerfüllbare Forderung.
Die Gamme reicht von demokratischer Mitbestimmung bis zum tyrannischen Menschenverschleiß
So stehen sich Demokratie und Diktatur in westlichen Unternehmen bis heute unversöhnt gegenüber. Das oben beschriebene kleine Familienunternehmen wie auch eine Freundesgruppe, die gemeinsam einen Betrieb aufbauen, entsprechen dem demokratischen Ideal noch am ehesten. Ein Großunternehmen wie Apple unter Steve Jobs kommt einer Diktatur, wenn nicht gar Tyrannei, schon verdächtig nahe. Im besten Fall – dann nämlich, wenn der Tyrann an der Spitze sich als ein Genie entpuppt – rückt das von ihm geleitete Unternehmen zur Weltklasse auf; im schlechtesten wird es von einem Versager in den Ruin getrieben. Das sind Vorzüge und Nachteile, die ebenso auch für die politische Ordnung gelten. Demokratien bringen selten außerordentliche Führungspersonen hervor, dafür sind sie gegen Versager besser geschützt und stellen daher – in langfristiger Perspektive – die erfolgreichere Variante dar. Vergleicht man die amerikanische Industrie insgesamt mit den Leistungen Nippons, das seine gewaltige industrielle Stärke auf einem Gebiet kleiner als Kalifornien erzielte, so bestätigt Japan die Überlegenheit eines demokratischen Unternehmensmodells. Gewiss, Japan hat keinen Steve Jobs hervorgebracht, dafür befinden sich seine großen Konzerne in besserem Zustand als die Mehrheit amerikanischer Unternehmen.
Das Rad der Geschichte zurückgedreht
Was aber das allgemeine Glück betrifft, oder sagen wir bescheidener, die größere Zufriedenheit, so wird sie gewiss nicht von Unternehmen gefördert, in denen ein Tyrann von der Art eines Steve Jobs gnadenlos über das Schicksal seiner Mitarbeiter verfügt. (3) Den Schlüssel für den Erfolg einer Gesellschaft und wohl auch für das Glück der in den Unternehmen beschäftigten Menschen wird man woanders suchen müssen. Ein angemessenes Verhältnis zwischen langjährig erworbenem Wissen und Können auf der einen Seite und andererseits jener Funktion des Managements, die auf behutsamer menschlicher Lenkung und Koordination beruht, scheint mir ausschlaggebend zu sein. Auch Deutschlands einstiges Wirtschaftswunder hatte ja deutlich erkennbare psychologische Gründe. Es ist befriedigender, in einem Betrieb tätig zu sein, wo der Entscheidungsberechtigte nur als Erster unter Gleichen fungiert. Die gegenwärtige Entwicklung zielt allerdings eher in die von den Amerikanern vorgegebene Richtung. Künftige Unternehmenschefs werden auch bei uns an teuren Privatschulen ausgebildet, die nur den Reichsten im Lande zugänglich sind. Das ist eine gefährliche Weichenstellung. Wenn es noch irgendeines Beweises bedürfte, dass die Fähigkeit, Menschen zu lenken, nicht an teuren Privatschulen erlernt werden muss, dann haben Japan und das Reich der Mitte ihn deutlich genug erbracht. Das Privileg einer teuren Spezialausbildung für eine Managerkaste verfolgt denn auch einen anderen Zweck. So wie die einstigen Fürsten in der Bevölkerung den Eindruck erwecken wollten, dass sie aufgrund ihrer Geburt ein Anrecht auf Macht und Reichtum hätten, so soll das teure Diplom sogenannter privater Eliteschulen einer Kaste künftiger Manager wiederum zu einem Titel verhelfen, der ihnen einen unanfechtbaren Anspruch auf Reichtum und Macht verleiht. So wird eine neue Klassengesellschaft geschaffen: Man dreht das Rad der Geschichte zurück.
Die Trennung von funktionaler und materieller Macht
Eine gerechtere Fiskalpolitik des Staates, welche den Verbrauch statt der Leistung besteuert, könnte hier Abhilfe schaffen. Sie nimmt die Last von der Wirtschaft, verleiht ihr also eine größere Vitalität, ja hindert den Staat daran, kleinere Unternehmen mit betrieblichen Vermögens-, Erbschafts- und Schenkungssteuern in den Ruin zu treiben. Stattdessen wird alles Sachvermögen in persönlichem Eigentum – dazu gehören Villen, Yachten, Luxusautos ebenso wie der persönliche Anteil an Betrieben oder Aktien – durch eine progressive Besteuerung sinnvoll begrenzt. Das Unternehmensvermögen bleibt dem Zugriff des Staates entzogen, weil es das Resultat der Leistung aller seiner Mitarbeiter ist. Nur kann jedes Mitglied einschließlich der Führung daran nur einen maximalen Anteil halten, der Rest verteilt sich auf die Belegschaft und die außerbetrieblichen Gläubiger. Das persönliche Eigentum an Betrieben einschließlich des persönlichen Aktienbesitzes wird auf einen Maximalwert begrenzt.
Entscheidend ist aber: Funktionale Macht und persönlicher (nicht betrieblicher!) Reichtum werden auf diese Weise getrennt. Die Ausübung funktionaler Macht wird nicht geschmälert. In jedem Betrieb ist die entscheidungsbefugte Führung so unverzichtbar wie in einem funktionierenden Staat. Die Trennung hat aber in einem Unternehmen dieselbe positive Auswirkung wie im Großen und Ganzen einer Gesellschaft. Demokratie funktioniert als eine von den Bürgern akzeptierte Staatsform ja nur, solange sie nicht zur Plutokratie verkommt, denn das ist der sicherste Weg, um die von ihr verheißene Chancengleichheit mit der Zeit immer mehr auszuhöhlen. (4)
In der abendländischen Geschichte ist eine solche Trennung nicht neu
Um ein Beispiel zu finden, wo diese Trennung erfolgreich war und den allgemeinen Reichtum vermehrte – nicht zuletzt wohl auch das menschliche Glück, brauchen wir nicht nach Japan mit seinen so ganz andersartigen Traditionen zu blicken. Wir brauchen uns auch nicht auf die Aufbaujahre im Deutschland der Nachkriegsjahre zu beschränken. Ein erstaunliches Beispiel finden wir ebenso in der älteren europäischen Geschichte. In einer düsteren Epoche abendländischer Geschichte waren christliche Klöster Zentren der Bildung und nicht selten eines außerordentlichen Reichtums. Nicht wenige Äbte waren sehr mächtige Personen. Aber ihr persönlicher Reichtum war oft gering und zweifellos war ihre Glaubwürdigkeit in hohem Maße daran gebunden, dass funktionelle Macht und materieller Reichtum weitgehend getrennt worden sind. Das Kloster war reich, aber nicht der einzelne Bruder und ebenso wenig der Abt an seiner Spitze.
Wer wie ich für eine Obergrenze individueller Vermögen plädiert (bezogen auf Geld- und Sachvermögen), (5) kann sich mithin auf gegenwärtige und geschichtliche Beispiel berufen und braucht sich durchaus nicht vor dem Einwurf zu fürchten, dass damit die Effizienz der Unternehmen oder gar das menschliche Glück geschmälert würden. Das Gegenteil ist der Fall. Die Unternehmen werden von einer schweren Last befreit und die Gesellschaft gestärkt. Oder ist es denn zu verstehen, wie man im gesellschaftlichen Ganzen die Demokratie stärken will, wenn man ihr das genaue Gegenteil in den produktiven Zellen, den Unternehmen, als nachahmenswertes Beispiel vor Augen hält, nämlich eine plutokratische Diktatur?
1 Zur größeren Freizeit unserer jagenden Ahnen vgl. Marvin Harris in: „Our Kind“.
2 Auf welche Weise sich eine progressive Besteuerung des individuellen Konsums mit modernen Mitteln der Datenübertragung durchführen lässt, habe ich unter „Neuer Fiskalismus“ beschrieben.
3 Die Diktatur eines Steve Job war für die schwächeren Mitarbeiter nur deshalb halbwegs erträglich, weil Apple auf seinem Gebiet eines der weltbesten Unternehmen ist und die meisten der auch bei geringfügigen Anlässen gefeuerten Mitarbeiter, daher ziemlich mühelos neue Anstellungen fanden.
4 Wenn materielle Vorteilsnahme auch noch nach Abgabe der funktionalen Macht besteht, wie in der letzten Spiegelausgabe (2012/37; Seite 12ff) unter dem Titel „Politik lohnt sich doch!“ an den Beispielen Schröder, Fischer, Schily etc. beschrieben, dann ist das gewiss kein Beispiel für akzeptierte und akzeptable Demokratie.
5 In „Wohlstand und Armut“ habe ich die Gedanken über eine neue Rolle des Staates im Verhältnis zum Unternehmen skizziert und dann unter „Neuer Fiskalismus“ in größerem Detail ausgeführt.