Bekanntlich beschäftigt sich die Anthropologie mit dem Menschen, aber den Menschen als Abstraktum gibt es nicht. Entweder steht er uns als einzigartiges Individuum gegenüber, eindeutig unterscheidbar von allen anderen Menschen, oder er ist Mitglied einer Gruppe, Ethnie, Nation (oder Rasse, wie man einmal sagte), die sich ihrerseits von allen anderen unterscheiden. Und zu alledem kommt noch der Unterschied der Perspektive hinzu, nämlich ob wir die Perspektive der Wissenschaft beziehen oder die des Glaubens.
Die Biogenetik gibt ein eindeutiges Urteil ab. Aus genetischer Sicht ist der Unterschied zwischenden sogenannten „Rassen“ geringer als die genetische Schwankungsbreite innerhalb jeder einzelnen von ihnen. Anders gesagt, sind ein Deutscher oder ein Jude von den meisten ihrer Mitbürger in Deutschland bzw. in Israel genetisch weiter entfernt als ihre jeweiligen Gruppen insgesamt von Japanern, Sudanesen oder Grönländern. Aus genetischer Perspektive gibt es keine Lappen, Kenianer, Japaner, Deutsche oder Juden. Was sie hauptsächlich unterscheidet kann nicht auf ihre biologische Ausstattung zurückgeführt werden sondern beruht auf den Einflüssen ihrer Umgebung, vor allem also auf denen der Menschen, in deren Mitte sie aufgewachsen sind. Verpflanzt man ein Neugeborenes in eine andere Kultur, dann spielt seine genetische Ausstattung nur im Hinblick auf das angeborene Potenzial von Intelligenz und Emotion eine Rolle. Ansonsten wird es zu einem getreuen Abbild seiner jeweiligen Umgebung. Oder anders gesagt: Die Unterschiede, welche in der Geschichte des Menschen eine so prominente Rolle spielen, weil sie stets der Hauptanlass der zwischen ihnen aufkommenden Kriege waren, sind allesamt künstlicher Art – künstlich im Sinne von anerzogen, menschengemacht, nicht angeboren. Wir können von Menschenkunst sprechen, denn sie sind Ausdruck menschlicher Freiheit. Damit unterscheiden sie sich strikt und eindeutig von den biologisch bewirkten, denn diese sind den Menschen in die Wiege gelegt, genetisch fixiert. An der Form unserer Augen, der Farbe unserer Haut und anderen biologischen Eigenheiten können wir nichts ändern. Aber niemand kommt als ein Deutscher, niemand kommt als Japaner oder Jude auf die Welt.
Die Auskunft der Wissenschaft ist einerseits tröstlich. Sie beweist, dass es einen gemeinsamen Urgrund des Menschlichen gibt. Wenn die Deutschen glaubten, dass eine rassische Eigenart existiere, die ihnen von Natur aus zugehört; oder wenn orthodoxe Juden bis heute überzeugt sind, dass man eine jüdische Mutter besitzen müsse, um ein echter Jude zu sein, dann können die Folgen eines solchen Glaubens zwar sehr verschieden sein – harmlos im einen, verbrecherisch im anderen Fall – dennoch haben wir es beide Male mit einem unwissenschaftlichen Glauben mit rassistischen Zügen zu tun. In früheren Zeiten war dieser Glaube über den ganzen Globus verbreitet. Man darf davon ausgehen, dass es kein Volk gegeben hat, dass sich nicht irgendwann im Laufe seiner Geschichte für erwählt und anderen überlegen gehalten hätte. Noch bis vor einem Jahrhundert hat kaum ein Mensch zwischen Biologie und Kultur unterschieden.
Die Frage danach, was ein Jude sei, erhält damit eine umfassende Dimension. Sie wird zu einer Frage nach dem Menschen schlechthin. Wenn wir, wie die Wissenschaft gegen jeden Zweifel beweist, als Juden, Deutsche oder Franzosen untereinander viel verschiedener sind als Juden versus Deutsche oder Juden versus Franzosen, was bewirkt dann, dass wir an nichts so sehr festhalten, wie an den künstlich geschaffenen ethnischen (rassischen) Unterschieden, auf denen wir unsere Identität begründen? Offenbar ist die genetische Perspektive für die meisten Menschen schlicht irrelevant, während die künstlichen Unterschiede, die darin bestehen, dass einer nach seiner Geburt zu einem Juden, ein anderer zu einem Franzosen oder Deutschen wird, die einzige Realität ausmachen, die für sie zählt. Dabei fällt zusätzlich auf, dass dieses Festhalten nicht nur bei jenen als selbstverständlich gilt, die sich selbst für anderen überlegen halten sondern in gleichem Maße selbst noch für Völker, welche in den Augen anderer als minderwertig herabgestuft wurden. Der große Max Weber hatte gewiss nicht einen seiner größten Momente, als er die Juden ein „Pariahvolk“ nannte, denn das war ein Werturteil, das sich objektiv nicht begründen lässt. Der große Gelehrte wiederholte nur ein zu seiner Zeit geläufiges Vorurteil. Der jüdischen Selbsteinschätzung, in den Augen Gottes ein erwähltes Volk zu sein, war diese Bewertung ohnehin diametral entgegengesetzt. Es gibt wenige Völker, vielleicht kein einziges, das trotz Jahrtausende langer Verfolgung so unerschütterlich an der eigenen Identität festhielt und damit an dem Glauben, dass es besser sei Jude zu bleiben als durch Assimilation an andere Völker die eigene Besonderheit zu opfern.
Denn diese Möglichkeit bestand natürlich schon immer. Nicht nur war es einzelnen Menschen von jeher möglich, aus eigenem Entschluss die jüdische Identität anzunehmen, sie konnten sich sogar kollektiv als jüdische Nation deklarieren. In seinem Buch Der dreizehnte Stamm hat Arthur Koestler die These vertreten, dass die Mehrzahl aller heute lebenden Juden gar keinen semitischen Ursprung haben (eine aus begreiflichen Gründen vor allem unter den Juden selbst heftig umstrittene Hypothese). Andererseits konnte man auch den umgekehrten Schritt vollziehen, das Judentum abzulegen, wie einer der größten Juden, Baruch de Spinoza, seinen Landsleuten empfahl. „Deshalb haben die heutigen Juden… so viele Jahre in der Zerstreuung ohne Reich ausgehalten…, da sie sich von allen Völkern abgesondert und sich den Hass aller aufgeladen haben… Die Erfahrung lehrt aber, dass der Hass der Völker sie erhält… Als der König von Spanien einst die Juden zwang, entweder die Religion seines Staates anzunehmen oder in die Verbannung zu gehen, nahmen sehr viele Juden die katholische Religion an, und indem diese alle Vorrechte der eingeborenen Spanier erhielten und in allen Ehrenrechten ihnen gleichgestellt wurden, so vermischten sie sich sofort mit den Spaniern in der Art, dass nach kurzer Zeit keine Spur und kein Andenken von ihnen geblieben ist.“ Spinoza sagt es in diesen Zeilen mit aller Entschiedenheit. Die Juden hätten sich assimilieren können und nicht wenige von ihnen haben dies auch immer wieder getan, z.B. in Deutschland.
Nach dem Preußischen Judenedikt vom März 1812 und der endgültigen rechtlichen Gleichstellung von 1869 waren die Voraussetzungen für eine derartige Assimilation nirgendwo so günstig wie gerade im protestantischen Teil des deutschsprachigen Raums. Bildung zählte dort mehr als irgendwo sonst – und wenn es ein zweites Volk gab, das schon seit mehr als zweitausend Jahren der Schriftgelehrsamkeit, also der Bildung, eine überragende Bedeutung zuerkannte, so waren es die Juden. Deutsche und Juden waren sich in diesem Bestreben mehr als nur einig, sie waren sich überraschend ähnlich. Nur so ist zu erklären, dass den Juden nirgendwo sonst innerhalb von wenigen Jahrzehnten eine so vollständige Integration gelang. „… die deutschen Juden waren in ihrer großen Masse bis zu Hitler – rührenderweise zu einem kleinen Teil sogar über Hitler hinaus und trotz Hitler – geradezu in Deutschland vernarrt“, schrieb Sebastian Haffner.
Aber zurück zu Spinoza. Dieser argumentiert wie ein moderner Wissenschaftler. Die Unterschiede zwischen den Menschen, auch und gerade solche, die zu Hass und Verfolgung führen, sind künstlicher Art, wir haben es in der Hand, sie aufzuheben. Warum tun wir es nicht? Die Antwort scheint auf den ersten Blick eher einfach. Unser eigentliches Leben beginnt jenseits des Säuglingsstadiums, es beginnt, wie oben betont, mit der künstlichen post-biologischen Formung durch unsere Umgebung. So gesehen haben die wissenschaftlichen Untersuchungen sowohl im Hinblick auf unsere genetische Gleichheit wie auf unsere individuelle Verschiedenheit eine eher geringe Bedeutung. Die künstlich herbeigeführten Unterschiede zwischen den Menschen, d.h. ihre kulturellen Identitäten, sind es, die von jeher eine überragende Bedeutung besaßen. Nur sie erklären, warum ein Volk wie die Juden, das wie kein anderes unter Hass und Verfolgung zu leiden hatte, dennoch an seiner Besonderheit festhielt, ja durch Hass und Verfolgung – wie Spinoza ausdrücklich bemerkt – überhaupt erst zu einer die Jahrtausende überdauernden kulturellen Einheit zusammengeschweißt worden ist.
Wenn die künstliche im Unterschied zur biologischen Verschiedenheit zwischen menschlichen Gruppen seit Beginn menschlicher Geschichte so viel Unheil bewirken konnte, dann wird die Frage umso unabweislicher, warum Menschen trotzdem so verbissen auf ihren künstlichen Eigenheiten bestehen? Warum vertiefen sich neuerlich die Gräben zwischen Juden und Muslimen, zwischen Progressiven und Traditionalisten, zwischen Befürwortern von LGBT und ihren Gegnern, etc. etc.? Oder wiederum im Hinblick auf die Juden gefragt: Wie kommt es, dass ihnen die biologisch unbegründbare, allein kulturell und damit künstlich hergestellte Identität ihrer Gruppe offenbar mehr an Befriedigung verschaffte als sie durch all das Leid einbüßten, das sie durch Jahrtausende aufgrund eben dieser Identität erleiden mussten? Denn nur so ist das Festhalten an ihr zu erklären. Sie ergibt nur dann einen Sinn, wenn die Vorteile dieser künstlichen kulturellen Selbstgestaltung insgesamt die Nachteile überwiegen. Wie Spinoza und das Beispiel der Assimilation der Juden in Deutschland zeigt, haben diese selbst nicht immer an einen solchen Vorteil geglaubt. Es hat viele Juden gegeben, die es vorzogen in der sie umgebenen Mehrheitsbevölkerung aufzugehen. Spinoza stellte diese Forderung im siebzehnten Jahrhundert auf, Arthur Koestler tat es im zwanzigsten. Albert Einstein machte sich nichts aus seinem Judentum. Er wurde sich dessen erst im Protest gegen den nationalsozialistischen Irrsinn bewusst. Aber es gab wenigstens ebenso viele Juden, die sich von all den Verfolgungen und Gräueln nicht abschrecken ließen und auf ihrer Identität bestanden. Welches Gegengewicht gab ihnen die dazu nötige Sicherheit?
Die Protokolle der Weisen von Zion und die Nazis glaubten das ganz genau zu wissen. Obwohl versprengt, verachtet und verfolgt waren die Juden nur für ihre naiven Gegner ein Pariahvolk, in Wahrheit strebten sie nach nichts Geringerem als der Weltherrschaft. Tatsächlich war ihr Anteil an der Bevölkerung auch in Deutschland von jeher verschwindend gering. Als zugehörig zur jüdischen Religionsgemeinschaft erklärten sich in der Volkszählung von 1925 überhaupt nur 0,9% der Bevölkerung. Rechnet man den assimilierten Teil hinzu, so ergeben sich insgesamt maximal zwei bis drei Prozent von Menschen mit jüdischer Wurzel. Diese numerisch unbedeutende Minderheit war aber in sämtlichen geistigen Berufen sehr bald nicht nur überdurchschnittlich sondern in sensationell hoher Zahl vertreten. Ab 1841 kontrollierten sie mehr als 40 Prozent aller Banken im Reich, nur ein Viertel befand sich im ausschließlichen Besitz von Christen. In der Weimarer Republik waren 13 Prozent aller Ärzte jüdischer Herkunft, 1933 traf das auf 36 Prozent aller Medizinstudenten zu. Das schürte den Neid und ließ sich für Verschwörungstheorien ausbeuten.
Dass Neid im Verhältnis von Juden und Deutschen eine ausschlaggebende Rolle spielte, scheint jedenfalls die Meinung keines Geringeren als des großen Historikers Theodor Mommsen gewesen zu sein, der das ganze Gewicht seiner Autorität für seine jüdischen Mitbürger mit den Worten auf die Waage legte: “Der Kampf des Neides und der Missgunst ist nach allen Seiten hin entbrannt” (so in seiner Akademierede vom 18. März 1880 in der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität).
Liegt die Besonderheit der Juden demnach darin, dass sie, wo immer wir ihnen begegnen, überdurchschnittliche Leistungen erbringen? War das der Vorteil, der die Nachteile des ihnen nicht zuletzt deswegen entgegenschlagenden Hasses aufzuwiegen vermochte? Das ist wohl kaum anzunehmen, denn dieser Vorteil stellt zwischen den Juden keineswegs Einheit her, sicher keine Art von Identität. Man bringe zwei Juden zusammen und sie vertreten vier verschiedene Meinungen zu jedem Thema – auch diese Besonderheit kann einem aufmerksamen Beobachter nicht entgehen. Wie daraus ein Bestreben nach Weltherrschaft oder auch nur die Möglichkeit einer solchen entspringen soll, das wissen allein ihre Feinde und Hasser. Würden die Juden es irgendwo zu einer über den Staat Israel hinausgehenden Herrschaft bringen, dann würden sie umgehend und heillos darüber streiten, ob dieser Staat besser eine Demokratie sein solle, eine faschistoide Theokratie oder ein verallgemeinerter Kibbuz. Ihre Streitbereitschaft und intellektuelle Streitkultur hat den Juden im Laufe ihres zweitausendjährigen Exils außerordentlich genützt, weil Streit die Voraussetzung für Um- und Neudenken ist. Ihre besondere geistige Beweglichkeit hat bewirkt, dass die Juden die autochthonen Bevölkerungen so oft in deren eigenem Können übertrafen, weil sie sich mit großem Geschick auf die jeweiligen Eigenheiten der Völker einzustellen vermochten, unter und mit denen sie wohnten. Hass kann hellseherisch machen. Die Nazis haben diese geistigen Wendigkeit durchaus erkannt, ja in ihr das eigentliche Merkmal der Juden gesehen und es zu einem geistig zersetzenden Intellektualismus uminterpretiert. Aber Hass macht zur selben Zeit blind, denn diese Streitkultur konnte gerade nicht die Grundlage für eine Einheit abgeben, auf der sich ein überdauerndes Gefühl der Zusammengehörigkeit oder gar Weltherrschaft begründen ließ.
Gerade dieses Zusammengehörigkeitsgefühl ist aber bei den Juden in besonderem Maße vorhanden. Doch ist es in erster Linie gerade nicht intellektuell sondern emotional begründet. Nur eine starke emotionale Verbundenheit vermag zu erklären, warum die Juden ihr Judentum nicht als lebenslanges Verdammungsurteil auffassten, dem sie lieber heute als morgen durch ein Aufgehen in der Mehrheitsbevölkerung entkommen. Was hat sie von dieser Versuchung ferngehalten? Das lässt sich, wie ich meine, nur schwer formulieren – gewiss nicht in der Sprache der Wissenschaft wie etwa der Soziologie. Stattdessen muss man die Sprache selbst benennen und verstehen, die diese Bindung erzeugt. Da ist wohl an erster Stelle die Synagoge und da besonders die Musik zu nennen. Jeder der für diese Sprache empfänglich ist, versteht, wie sehr das geteilte Leid, aber ebenso die geteilte Freude in den unglaublich bewegenden Gesängen der Synagoge ihren Ausdruck finden. Ich habe diese Lieder nur wenige Male gehört, aber immer wenn ich einmal das Glück und die Gelegenheit hatte, ihnen zu lauschen, bezwang mich ihre magische Intimität. Als Fremder empfindet man geradezu Scheu, sich diesen sehnsuchtsvollen, diesen flehenden und zugleich triumphierenden Tönen auszusetzen. Man glaubt in ein verborgenes Reich einzutreten, zu dem nur der Eingeweihte wirklich einen Zugang besitzt. Zusammen mit den vielen Festen, welche die gleiche emotionale Bedeutung besitzen, weil sie das Leben jedes einzelnen Juden in die Geschichte zweier Jahrtausende einbetten, sind diese Gesänge nicht weniger als offenbarte Geschichte. Sie erzählen von unerhörten Aufschwüngen der Seele zugleich mit unfassbarem Leid – beides schweißt die Menschen in beständiger Erinnerung zu einer Schicksalsgemeinschaft zusammen. Welche Rolle der einzelne im täglichen Leben auch spielen mag, als Informatiker, Mediziner oder schlicht als unerträglicher Streithahn oder arroganter Besserwisser, diese gemeinsame Tradition, diese Musik und diese Feste heben ihn weit hinaus über die Zufälle der individuellen Existenz und verbinden ihn auf einer tieferen existenziellen Ebene mit seinesgleichen.
Über den Glauben selbst – mag er jüdisch, christlich oder muslimisch sein – schütteln viele von uns den Kopf. Dessen oft unbegründbare bis absurde Regeln werden und wurden immer wieder angezweifelt, verworfen, neu interpretiert. Nicht wenige Juden sind Agnostiker, aber selbst dann gibt es keinen Grund, warum sie nicht an dem überlieferten Kosmos der Feste und Melodien festhalten sollten. Mögen sie im Hin und Her der intellektuellen Standpunkte nie einig sein, auf dieser tieferen Ebene kann jeder dem anderen von gleich zu gleich begegnen. Um diese den einzelnen und den Zufall seiner Existenz transzendierenden Kosmos, kurz um diese Identität (heute bei vielen ein verrufener Begriff), können wir Nichtjuden dieses denk- und merkwürdige Volk nur beneiden. Denn in unserer eigenen modernen Welt wurde alle über den einzelnen hinausgehenden Bezüge zunehmend ausgedünnt oder auch ganz abgeschafft. Die Aufklärung war ein Sieg für die Vernunft, gewiss. Wir haben gelernt, den Aberglauben von uns fernzuhalten und uns selbst und die gesamte Natur den Wissenschaften zu unterwerfen. Das hat dazu geführt, dass wir nur noch an die Welt der Notwendigkeiten, des Nutzens und der Verwertbarkeit glauben. Das Potenzial für Selbstgestaltung, die uns emotional miteinander verbindet, ist bei uns nahezu aus dem Blick geraten. Das kann nicht ohne Folgen bleiben, denn Vernunft spricht eben nur unseren Kopf, nicht unsere Gefühle an sondern lässt diese oft genug verkümmern. So leben wir heute in einer Welt, wo uns eine ganze Hälfte des Menschseins fehlt: die Sprache der geteilten Gefühle. Den Kosmos der Intelligenz dehnen wir weiter und weiter aus, so weit, dass jeder von uns inzwischen seine eigene Sprache spricht. Was kann ein Dolmetscher für Gebärdensprachen einem Data Scientist sagen? Was dieser einem Reptilienkundler, Logistiker oder Sounddesigner? Intellektuell dehnt sich unsere Welt in rasendem Tempo aus, aber sie macht uns zu sprachlosen Monaden, wo jeder emotional auf einer einsamen Insel lebt.
Die Frage danach, was ein Jude sei?, ist nicht nur für die Juden, sie ist für den Menschen im Allgemeinen von Bedeutung. Das Schicksal dieses Volkes beweist, dass Menschen selbst das größte Unglück zu überwinden vermögen, wenn sie mit dem Bewusstsein leben, mit anderen in einem Kosmos geteilten Leids und geteilter Freude zu wohnen. Diese Identität verschaffte ihnen zweitausend Jahre lang eine unglaubliche Widerstandskraft (heute verwenden wir das modische Wort Resilienz). Natürlich werden alle Menschen immer zugleich von ihrer Vernunft und ihren Gefühlen beherrscht. Aber wenn eine nach der anderen die Traditionen zerstört oder vergessen werden, die diese Gefühle in der Sprache der Musik, der täglichen Gewohnheiten, Feste und Rituale Ausdruck geben, dann entsteht emotionale Leere. Gewiss sind Traditionen nicht an und für sich gut oder verteidigenswert. Es gibt grausige, grausame, unsinnige Traditionen. Aber die besten von ihnen zeichnen sich dadurch aus, dass sie über Jahrhunderte gewachsen sind und die größten Künstler ihrer Zeit an ihnen mitgewirkt haben. Wird all dies geschleift, weil eine permanente industrielle Revolution den flexiblen Menschen erfordert, der nur noch als bloße Funktion des ökonomisch-technischen Apparats in Erscheinung tritt, dann müssen Demagogen und Populisten Gefühle extemporieren, sie gewaltsam aus dem Boden stampfen, um Menschen überhaupt noch miteinander zu verbinden und ein Gefühl der Gemeinsamkeit herzustellen. So haben es die Nazis mit den Deutschen getan, so macht es heute Putin mit den Russen. Die extemporierte Identität der Demagogen schafft genau jenes Unheil, das sie verhindern soll.
Die Juden liefern das Beispiel für eine Identität, die als Bollwerk gegen das Unheil dient. Ist es nicht erstaunlich, dass gerade das Festhalten an zweitausend Jahren Geschichte es ihnen bis heute ermöglicht, besonders modern zu sein? Es sollte zu denken geben, dass sie es nicht trotz einer sie über die Grenzen von Raum und Zeit verbindenden Tradition und Identität sind sondern umgekehrt wegen dieser. Das Zusammengehörigkeitsgefühl der Juden hat nichts mit den Genen zu tun. Es entspring den Memen.