(auch erschienen in fbkfinanzwirtschaft)
Zukunftsprognosen pflegen sich notorisch als trügerisch zu erweisen. Es wäre ein Fall von belächelnswerter Hellseherei, wenn sich jemand anmaßen wollte, die Situation Deutschlands nach einem Jahrzehnt, sagen wir im Jahr 2030, vorherzusagen. Möglich ist aber, Entwicklungsalternativen aufzuzeigen, die sich logisch ausschließen und daher nicht gleichzeitig auftreten können. Dann ergibt sich folgendes Spektrum, wobei ich das meiner Ansicht nach wahrscheinlichste Verhältnis Deutschlands zur Europäischen Union an die erste, das unwahrscheinlichste an die letzte Stelle rücke. Mit Ausnahme einer einzigen, deren Verwirklichung wenig wahrscheinlich ist, sind leider alle anderen verstörend.
Erstens – Zerfall:
Wie die übrigen Staaten Europas ist Deutschland im Jahr 2030 zu einer eigenen Währung zurückgekehrt. Die Eurozone ebenso wie die Europäische Union sind de facto abgeschafft.
Zweitens – Transfergemeinschaft:
Europa ist nicht zerfallen, sondern hat sich zu einer Transferunion entwickelt.
Drittens – Geschlossene Handelsunion:
Die Bundesstaaten verzichten auf Souveränität ausschließlich im Verhältnis zum außereuropäischen Ausland. Die politische Union verlangt keine Souveränitätsverzichte nach innen.
Viertens – Vertragskonforme Entwicklung:
Der Kommission ist es mit hartem Durchgriff gelungen, dem vielfach ausgehöhlten Vertragswerk von Maastricht, Lissabon und dem begleitenden Stabilitätspakt doch noch Anerkennung und schließlich sogar strikte Befolgung zu sichern.
1. Der Zerfall:
In Frankreich und dem ganzen Süden des Kontinents sind lange vor 2030 die Gegner des Euro und der Europäischen Union an die Macht gelangt. Auf den Brexit folgte der Grexit, dann Ixit und Spexit, weil auch Italien und Spanien Eurozone und Europäische Union quittierten. Hatten sich Frankreich und Deutschland anfangs noch um den Zusammenschluss in einem Kerneuropa bemüht, so zerfiel auch dieses Bündnis, weil ein Ausgleich zwischen den unterschiedlichen Interessen nicht mehr möglich erschien. Der Frexit bedeutete zugleich das Ende der Eurozone und der Europäischen Union. Die unzeitige Einführung des Euro und die undemokratisch verordnete Beschneidung der inneren Souveränität der Mitgliedstaaten durch eine regulierungswütige Kommission hatten das europäische Projekt ruiniert. Gegen Ende der zwanziger Jahre war Europa erneut zu einem Flickenteppich selbstständiger Nationalstaaten geworden.
Dennoch war nichts mehr wie vorher – gerade und vor allem in Deutschland nicht, denn zusammen mit den Überschussländern des Nordens hatte es den Löwenanteil der über das Target2-System angehäuften Schulden der europäischen Defizitländer zu tragen, d.h. die Schulden des Südens, die es nun selbst – bis nahe an den Staatsbankrott – zu einer bis dahin nie gekannten Verschuldung zwangen.
Diese Last war im Jahre 2030 umso schwerer zu tragen, als die Stellung Deutschlands als führende Exportmacht inzwischen erschüttert war. So wie das deutsche Reich gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Weltmacht Großbritannien durch seinen rasanten ökonomischen Aufstieg das Fürchten lehrte, so waren schon seit Jahren asiatische Staaten an die Spitze der Weltproduktion vorgeprescht, allen voran China. Schon 2016 hatte China begonnen, überall auf der Welt die modernsten Eisenbahnnetzte zu bauen und erstmals machte es mit den Prototypen jener Großflugzeuge auf dem Weltmarkt Furore, die nach wenigen Jahren Boeing und Airbus aus dem Rennen warfen. Deutsche Produkte hatten ihre Qualität zwar keineswegs eingebüßt, aber sie wurden von den Europäischen Nachbarn nicht länger gekauft – einerseits weil das Verhältnis unter den Europäischen Staaten nach dem Zerfall der Union gründlich vergiftet war, andererseits weil die Waren aus China und Indien zu weit geringeren Preisen erhältlich waren. Angesichts der nach wenigen Jahren gleichwertigen, aber ungleich günstigeren Autos aus Asien hatte auch die deutsche Autoerzeugung innerhalb weniger Jahre ihre Vormachtstellung verloren. Eine gemeinsame Politik der nun wieder unabhängig agierenden Nationalstaaten Europas gegenüber der asiatischen Offensive kam nicht zustande. Es entsprach im Gegenteil der vor allem im Süden spürbaren Ablehnung der „unerträglichen deutschen Hegemonie“, dass die asiatische Offensive dort auf unverhohlenen Beifall stieß. Selbst wenn deutsche Hersteller ihre Erzeugnisse zu gleichen Preisen anboten, zog man in Griechenland und Italien chinesische Erzeugnisse vor, um die Vormacht der Deutschen zu brechen, denn ihnen schrieb man die Schuld am Zerfall Europas zu.
Die Geschichte der deutschen Wirtschaftsoffensive vom Ende des 19. und der japanischen von der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts wiederholte sich, allerdings unter grundlegend veränderten Vorzeichen, denn diesmal waren die Deutschen nicht mehr Protagonisten, sondern Getriebene, deren einst wesentlich auf einem florierenden Export beruhender Lebensstandard auf einmal gefährdet war, weil die hohe Bevölkerungsdichte des Landes den Import zunehmend teurer Nahrungsmitteln erzwang.
Politisch hatte der Zerfall Europas den Einfluss Russlands deutlich gestärkt. Die wirtschaftlich völlig zerrüttete Ukraine sah sich zu einer neuerlichen Anlehnung an den russischen Bären gezwungen, ebenso das orthodoxe Griechenland, nicht zu reden von den russisch-orthodoxen, slawischen „Brüdervölkern“ Serbien und Bulgarien. Es schien ungewiss, ob die zweite Weltmacht, die unter ihren Schulden ächzenden Vereinigten Staaten, es noch für lohnend erachten würde, dem hoffnungslos zerstrittenen alten Kontinent Hilfe gegen russische Übergriffe zu leisten. Immerhin hatte sich die US-Regierung unter der Hand bereits mit Chinesen und Russen auf eine Abgrenzung der jeweiligen Einflusssphären geeignet. Den unbequemen Zankapfel Europa hatte man bewusst erst einmal beiseite geschoben. Einige Harvardprofessoren plädierten ohnehin schon seit einiger Zeit dafür, diesen permanenten Unruheherd ganz der russischen Ordnungsmacht zu überlassen. Amerika sollte keinen einzigen seiner Soldaten für Old Europe opfern.
2. Die Transferunion:
Was niemand für möglich gehalten hätte – am wenigsten das von Anfang an skeptische Ausland – sollte sich am Ende dennoch bewahrheiten: Die Eurozone hielt auch im Jahre 2030 noch zusammen. Diese Leistung war in erster Linie den Deutschen zu danken, die ihren tief verwurzelten Widerstand gegen die Inflation überwanden. Da die Staatsschulden in sämtlichen Mitgliedstaaten die Marke von zweihundert Prozent entweder erreichten, oder schon überstiegen – Letzteres war in Griechenland, Italien und Spanien der Fall -, vermochte nur die fortwährende Inflationierung des Euro, gepaart mit Negativzinsen, die Staaten der Union davor zu bewahren, den Löwenanteil ihres Steueraufkommens für die Begleichung der Staatsschulden auszugeben.
Die stetig anschwellenden Transferleistungen Deutschlands, Österreichs, der Niederlande und Skandinaviens für den Süden der Union ebenso wie für Frankreich sicherten zwar den Zusammenhalt der Union, allerdings wurde die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands und des gesamten Nordens dadurch so sehr geschwächt, dass die deutsche Industrie ihre Produktionsbasis nicht nur auslagern musste, sondern diese zu einem großen Teil überhaupt einbüßte. Deutschland war europäischer Zahlmeister geworden, ohne dass dies seiner Beliebtheit zugute kam, denn die zwanziger Jahre waren von einem dauernden Gerangel um die vermeintlich unerlässlichen Opfer geprägt, welche den Deutschen im Sinne der europäischen Solidarität abverlangt wurden. Sie sollten für die Bankeinlagen der Südeuropäer haften, sie sollten die Löhne im eigenen Land deutlich erhöhen, um den Produkten des Südens einen Preisvorteil zu verschaffen. Und schließlich sollten sie, als auch diese Maßnahmen nicht länger halfen, die inzwischen ausgereizte indirekte Staatsfinanzierung durch die Europäische Notenbank durch eine direkte ersetzen, damit ein von der rotierenden Notenpresse garantiertes bedingungsloses Grundeinkommen den sozialen Aufruhr in den Ländern des Südens erstickte. Über der Frage der direkten oder indirekten Subventionierung des europäischen Südens wäre es um die Mitte der zwanziger Jahre beinahe zu einem Zerfall der Union gekommen (wenn auch nicht zu einem Krieg wie um die Mitte des 19. Jahrhunderts in den Vereinigten Staaten, wo die Haftung aller für die Finanzsünden der Einzelstaaten erst durch den Bürgerkrieg auf unglaublich brutale Weise beendet wurde).
Um den Zerfall der Union zu verhindern, stimmte Deutschland der endgültigen Errichtung einer Transferunion zu, vermochte mit diesem letzten Entgegenkommen die Spannungen innerhalb des Kontinents allerdings nur temporär abzuschwächen, denn je mehr Deutschland gab, desto mehr wuchsen auch die Ansprüche seiner Partner. Als der Niedergang seiner Industrien weitere Hilfen am Ende immer dürftiger ausfallen ließ, hatte es mit Verachtung zu kämpfen: Es war finanziell ausgeblutet und wirtschaftlich zum kranken Mann Europas geworden. Und nun stellte sich im Jahre 2030 die alte Frage von neuem: Wenn keine Transfers mehr möglich waren, welchen Vorteil konnte die Union ihren Mitgliedern dann noch bieten? Das einzige Band, das sie vorläufig noch zusammenhielt, war der Umstand, dass es ruinös kostspielig war, all die gemeinsamen Institutionen wieder aufzulösen; aber war dieses Argument stark genug, um sie dauerhaft aneinander zu ketten?
Die Lage des alten Kontinents wurde wesentlich dadurch verschärft, dass seine internationale Wettbewerbsfähigkeit aufgrund eigener industrieller Auslagerung und des unter Alternative I beschriebenen Vormarsches asiatischer Produzenten in stetigem Niedergang war. In dem einst reichsten Kontinent der Erde war der Lebensstandard 2030 so tief gesunken wie in Griechenland zehn Jahre zuvor. Erschwerend kam noch hinzu, dass die Bevölkerung in den Ländern der südlichen Peripherie, vor allem in Griechenland, Spanien und Portugal, starke Einbußen erlitten hatte. Wer jung war und ausgebildet, hatte der Arbeitslosigkeit durch Migration in den Norden zu entkommen versucht.
3. Die geschlossene Handelsunion:
Im Jahre 2030 war Europa nicht wiederzuerkennen: Es hatte sich zum zweiten Mal erfunden: neue Institutionen geschaffen und bestehende abgeschafft. Die Europäische Kommission zum Beispiel war schon in den zwanziger Jahren verkümmert, weil die Einzelstaaten die bürokratisch erzwungene Vereinheitlichungspolitik durch Brüssel nicht länger ertrugen. Statt der Kommission hatte das demokratisch gewählte Parlament in Straßburg an Macht gewonnen, eine Macht, die aber ausschließlich dem Schutz der Union nach außen diente, also dazu, ihr einen gemeinsamen Handels-, Außen-, und Verteidigungsminister zu geben; alle inneren Belange fielen in die Kompetenz der nationalen Parlamente und sollten dort bleiben. Man war zu dem Schluss gekommen, dass ein weiteres inneres Zusammenrücken auf freiwilligem Wege erfolgen sollte – nur auf diese Weise war mit der Zustimmung der Bevölkerungen in den Mitgliedsländern zu rechnen.
Der Schutz nach außen betraf vor allem die Handelspolitik. Durch entsprechende Außenzölle sollte sie dafür sorgen, dass sämtliche in der Union erzeugten Waren nur der innereuropäischen Konkurrenz ausgesetzt waren. Deutschland war deshalb gezwungen, seinen Bedarf an Lebensmitteln allein mit dem Angebot aus der Union abzudecken, und natürlich zu höheren Preisen als vorher, als es sich noch auf dem Weltmarkt bedienen konnte. Auf diese Weise war der Wohlstand des Südens in kurzer Zeit beachtlich gestiegen. Diesen Schutz durch die Union hatte der Süden gegenüber den Staaten des Nordens: Deutschland, Holland und Skandinavien, durchgesetzt, um sich seinerseits zu verpflichten, dass es ausschließlich Industriewaren aus dem Norden beziehen würde: Die Billigkonkurrenz aus der übrigen Welt wurde durch entsprechende Zölle an den Außengrenzen der Union abgewehrt.
Aufgrund dieses Verzichts auf den Weltmarkt nahm Deutschland zunächst einmal schwere Einbußen hin. Sein Lebensstandard sank um ca. zwanzig Prozent, die führenden Industrien des Landes protestierten aufs Heftigste. Wirtschaftsprofessoren schrien Zeter und Mordio. Andererseits kam es in den Staaten des Südens zu einem wirtschaftlichen Aufschwung, der es nun möglich machte, auf alle Transferzahlungen zu verzichten. Nicht nur der Wohlstand des Südens blühte unter diesen Umständen auf, sondern auch das zuvor stark beschädigte Selbstbewusstsein dieser Länder: Ihre erneuerte Vitalität verdankten sie nicht mehr den Almosen des Nordens, sondern der eigenen Leistung. Dies wiederum kam, verbunden mit der Akzeptanz des wiedergeborenen Europa, nach einiger Zeit auch Deutschland zugute, dessen Handel mit dem Rest des Kontinents nun wieder an Intensität gewann. Der Euro blieb nicht nur als gemeinsame Währung gesichert, sondern wurde schließlich von sämtlichen Ländern der Union übernommen. Da der Umstieg des alten Kontinents auf erneuerbare Energien rechtzeitig eingeleitet worden war, gelang es der Union, sich von den Rohstoffen des Auslands weitgehend unabhängig zu machen – eine unerlässliche Vorbedingung für die Reduktion des Außenhandels.
Fast wäre die gemeinsame Zollpolitik allerdings an der feindseligen Haltung der USA und ebenso Chinas gescheitert, die diese Politik lautstark als einen Rückfall in mittelalterliche Abschottung brandmarkten (obwohl beide Staaten lange genug eine ähnliche Politik betrieben hatten). Allerdings konnte Europa darauf verweisen, dass der Freihandel nur dann gerecht war und den Wohlstand aller tatsächlich förderte – wie die ökonomische Theorie postulierte -, wenn Lebensstandard, Naturschutz, soziale Wohlfahrt etc. in Übereinstimmung standen, andernfalls bewirkten Billigoffensiven eine Aushöhlung der industriellen Basis in den fortgeschrittenen Staaten und deren schleichende Rückentwicklung – wie in den Vereinigten Staaten ja längst zu beobachten war.
Im übrigen hatte Russland bereits bewiesen, dass es gegen die vom Westen verhängten Sanktionen mit beträchtlichem Erfolg eine Importsubstitution betrieb, die zwar zunächst sehr schmerzhaft war, sich mit der Zeit aber als wirksam erwies, denn auch Russland war groß genug, um im eurasischen Wirtschaftsverbund den gesamten Eigenbedarf aus eigenen Rohstoffen und eigener Leistung zu decken.
Im Jahr 2030 war selbst im anfänglich stark geschädigten Deutschland eine Mehrheit der Meinung, dass die Vorteile, die der dauerhaft gesicherte Absatz in einem konfliktfrei geeinten Europa mit sich brachte, die Nachteile eindeutig überwogen, die sich aus dem Verzicht auf den Weltmarkt ergaben. Das vergiftete Klima zwischen Nord und Süd gehörte im Jahr 2030 bereits der Vergangenheit an. Europa wuchs allmählich zusammen. Eine politische Union schien nun keine bloße Wunschvorstellung zu sein, da die ökonomische sich inzwischen bewährte. Mit anderen Worten, Europa ging den über Jahrhunderte bewährten Weg der Schweiz. Dieser Vielvölkerstaat hatte nie eine Kommission gebraucht, um zu staatlicher Einheit zu finden. Es genügte, dass alle Kantone und Nationalitäten sich auf eine gemeinsame Politik nach außen verständigten. Der Schutz nach außen, verbunden mit größter innerer Selbstbestimmung und Selbstverantwortung (das Gegenteil einer Haftungsgemeinschaft), verhinderte das Zerbrechen des Staats in die einzelnen Volksgruppen und hatte der Schweiz einen weltweit nahezu einmaligen Wohlstand beschert.
4. Vertragskonforme Entwicklung:
Nachdem Deutschland unter Gerhard Schröder die Regeln des Stabilitätspakts zuerst wissentlich verletzte und daraufhin ein Staat nach dem anderen entweder direkt gegen den Buchstaben der Verträge von Maastricht und Lissabon verstieß oder sich wie die Europäische Zentralbank über deren Geist unbekümmert hinwegsetzt hatte, trat eine Entwicklung ein, die diese Verträge gerade verhindern sollte: eine Vergemeinschaftung der Schulden, die de facto zur Folge hatte, dass bei der inzwischen absehbaren Zahlungsunfähigkeit der schwächeren Staaten Deutschland und seine nördlichen Nachbarn alle Verpflichtungen zu tragen hätten. Mit anderen Worten: Alternative II, die Transferunion war im Jahr 2016 bereits Realität.
Doch da geschah das Wunder! Bevor das Europäische Projekt zu einer reinen Subventionsunion verkam, wo Deutschland den Lebensstandard seiner südlichen Nachbarn einschließlich Frankreichs mittels Quantitative Easing, EFSF und schließlich auch Eurobonds und direkter Staatsfinanzierung garantierte, wurde die Kommission unerwartet von Erleuchtung heimgesucht. Sie sah nämlich ein, dass Otmar Issing, langjähriger Chef-Volkswirt von Bundesbank und EZB, im Recht mit seiner Feststellung war, dass „die Aufgabe bzw. die Einschränkung des No-Bail-Out-Prinzips keine Haftung für die Misswirtschaft anderer Länder und Institutionen eine Art Einladung sei, über seine Verhältnisse auf Kosten anderer zu leben.“ Sie begriff, dass eine Gemeinschaft, welche die vertraglichen Bestimmungen ihrer grundlegenden Verträge eine nach der anderen außer Kraft gesetzt hatte, keinen Bestand haben würde und auf Sand gebaut war. In einem geschichtlich einzigartigen Akt plötzlicher Selbstbesinnung wagte sie es im letzten Moment, die Notbremse zu ziehen. Und das Unglaubliche geschah tatsächlich: Nicht nur die Kommission erlebte den Sinneswandel, sondern alle Länder der Eurozone drängten auf einmal auf die Einhaltung der Verträge, die im Jahr 2030 von sämtlichen Mitgliedsländer zum Wohle des Ganzen peinlich genau beachtet wurden.
Dennoch schwebte ein Damoklesschwert über Europa, weil der gesamte Süden im internationalen Wettbewerb keine Rolle mehr spielte. Vor dem Beitritt zur Währungsunion hatte jeder Einzelstaat der eigenen Wirtschaft überaus bequem durch eine Abwertung der eigenen Währung helfen können, jetzt war die gleiche Wirkung nur über eine Austeritätspolitik im weitesten Sinn zu erzielen, nämlich eine Reduktion der öffentlichen Ausgaben, verbunden mit Lohnverzichten im privaten Bereich – das aber vermochte ohne den stärksten äußeren Druck keine Regierung gegen den Widerstand ihrer Bevölkerung längere Zeit durchzusetzen. So kam es zu einer fortschreitenden Entvölkerung und Verarmung der südlichen Peripherie: Von Griechenland bis nach Portugal war Sizilien allgegenwärtig. Kein Wunder, dass im Jahr 2030 in diesen Ländern die Überzeugung herrschte, dass die Währungsunion für ihre Länder ein großes Unglück sei – trotz mustergültiger Einhaltung der Verträge war von Fortschritt nichts zu bemerken.