Nexus oder Harari, der Visionär

Welch eine Biografie! Die Spannweite dieses großen Denkers erstreckt sich von „Sapiens – a brief History of Mankind“ bis zu „Nexus – A Brief History of Information Networks from the Stone Age to AI“. Damit umfasst dieser Überblick nicht weniger als drei Jahrhunderte europäischer Geistesgeschichte. War das große Anfangswerk „Sapiens“ noch durchdrungen von jener Wissenschaftseuphorie, zumindest von jenem Erstaunen vor ihren demiurgischen Leistungen, wie wir sie schon von Francis Bacon im frühen 17. Jahrhundert kennen, so überrascht uns Nexus mit seiner radikalen Wissenschaftsskepsis.

Dass sich diese Skepsis, nein dieser massive Pessimismus, gerade an der Künstlichen Intelligenz entzündet, überzeugt mich zwar weniger. In ihrer Unvorhersehbarkeit und mit ihren durchaus absehbaren apokalyptischen Folgen geht die nukleare Bedrohung meines Erachtens weit über jene Gefahr hinaus, die Harari der Künstlichen Intelligenz zuschreibt. Künstliche Intelligenz werde der Demokratie das Grab schaufeln, so die Prognose des israelischen Denkers. Das ist sicher vollkommen richtig. Ein nuklearer Schlagabtausch würde aber nicht nur die Demokratie beenden, sondern mit großer Wahrscheinlichkeit auch noch das Leben auf unserem Planeten. Die Rolle, welche KI auch im nuklearen Bereich spielt, wird dabei meist unterschlagen. Da die Vorwarnzeiten bei einem Erstschlag mit immer schnelleren Überschallraketen zusehends kürzer werden, fehlt der Staatsführung jetzt schon die Zeit zwischen einem Fehlalarm und einem tatsächlichen Überfall zu unterscheiden. Deswegen kommt heute schon Künstliche Intelligenz zum Einsatz, welche die Informationen der zu Land und im Satellitengürtel verteilten Sensoren bewertet. Schon jetzt liegt das Schicksal der Menschheit in ihrer Hand. Der Missbrauch der Künstlichen Intelligenz durch Fälschung und Verzerrung der Information ist daher nur eine der zu erwartenden Folgen. An die nukleare Bedrohung hat sich die Welt allerdings seit einem dreiviertel Jahrhundert gewöhnt und verdrängt sie beflissen, während die Künstliche Intelligenz eine faszinierende Neuheit ist, welche alle in ihren Bann zieht und in Bereichen wie der Medizin auch substanzielle Fortschritte mit sich bringt.

Man darf wohl sagen, dass Harari sich in seinem Buch „Sapiens“ noch zum Sprachrohr jenes neuzeitlichen Religionsersatzes gemacht hatte, der heute unter dem Namen „Wissenschaft“ firmiert. Deren prominentester Vertreter ist zweifellos Elon Musk, bei dem die Euphorie an das Gebaren eines nahen Vorfahren gemahnt, nämlich an das des Gorillas, der in Momenten größter Erregung vor Begeisterung auf die eigene Brust eintrommelt. Jüngst haben wir erlebt, wie der Amerikaner diesen Vorfahren nachahmt, indem er vor überschäumendem Enthusiasmus beide Arme in die Höhe wirft und dabei vor unbeherrschbarer Lust rohe Urlaute von sich gibt. Musk ist der Hohepriester der neuen Wissenschaftsreligion. Im Gegensatz zu den Vertretern vergangener Glaubensnarrative verspricht er uns allerdings weder das Paradies auf dieser Erde noch ein jenseitiges Eden – er verspricht uns die Hölle. Da wir, wie er mehrfach betonte, hier unten möglicherweise vor der physischen Auslöschung stehen, will er uns auf den Mars katapultieren. Die jedem ernstzunehmenden Wissenschaftler geläufige Tatsache, dass wir dort weder atmen, noch irgendetwas Essbares ernten können, scheint ihn nicht zu bekümmern. Auch nicht der betrübliche Umstand, dass die Temperatur auf dem Mars nur selten fünf Plusgrade erreicht, meistens aber bei minus hundert liegt. Anders gesagt, aus lauter Verliebtheit in das eigene technische Spielzeug tischt uns dieser falsche Wissenschaftspapst gegen alles bessere Wissen die reinsten Lügen auf.

Von socher Wissenschaftseuphorie – gleichgültig ob falsch oder berechtigt – ist in Nexus so gut wie nichts übriggeblieben. Dennoch ist es nicht Hararis Furcht vor einer allmächtigen Künstlichen Intelligenz, die den Menschen am Ende zu ihrem Sklaven macht und die Demokratie vernichtet, welche sein jüngstes Werk in meinen Augen zu einem Geniestreich macht. Mit geradezu spielerischer Leichtigkeit – nie pedantisch, nie zähflüssig, nie darum bemüht, den Leser durch eigene Gelehrsamkeit zu beeindrucken – gelingt es dem Autor, gerade im ersten Teil seines Buches die schwierigsten Begriffe so mühelos und in so einfacher und klarer Sprache zu erklären, dass man ihn für diese besonders in Deutschland seltene Kunst nur bewundern kann. Unser gesamtes Wissen über Natur und Mensch fasst er in dem übergeordneten Begriff der „Information“ zusammen und unterteilt diese dann in die beiden Hälften „Ordnung“ (order) und „Wahrheit“ (truth). Wahrheit umfasst unser objektives Wissen von der Natur, das so wenig unserer Willkür entspringt wie die Natur selbst. Dagegen repräsentiert Ordnung ein vom Menschen selbst erschaffenes, in der Natur nicht vorgefundenes Wissen. In Hararis eigenen Worten: „Die Informationen, die Menschen über intersubjektive Dinge austauschen, repräsentieren nichts, was bereits vor dem Informationsaustausch existierte; vielmehr schafft der Informationsaustausch diese Dinge.“

Mit ordnunggebender Information sind alle ideologischen, religiösen und sonstigen Narrative gemeint, welche Menschen zu Gemeinschaften mit einem gemeinsamen Weltbild zusammenschweißen. Andere haben statt von „Information“ von „Wissen“ gesprochen und das Wissen von der Natur unserem Wissen um Mensch und Gesellschaft entgegengestellt. Der Gegensatz zwischen den beiden Formen der Information oder des Wissens besteht darin, dass wir in jedem der beiden jeweils ganz andere Fragen stellen. Die Wissenschaften von der Natur unterscheiden nach wahr oder unwahr, weil unsere Aussagen über die Natur entweder richtig sind oder falsch. Unser in Narrativen gespeichertes Wissen von Mensch und Gesellschaft hat es mit moralischen oder ästhetischen Werten zu tun. Es geht um gut versus böse oder moralisch indifferent, bzw. um schön versus hässlich oder ästhetisch neutral.

Ich sagte schon, dieser Gegensatz spielt nicht erst bei Harari eine vorrangige Rolle, wir begegnen ihm in der gesamten Geschichte der Philosophie eine. Um eine stabile soziale Ordnung herzustellen, empfahl Plato in seiner Politeia eine staatserhaltende Lüge, nämlich dass die verschiedenen Klassen je nach ihrem Rang aus verschiedenen Metallen bestehen, angefangen vom Gold für die höchste von ihnen. Die deutsche Geistesgeschichte hebt bis zu Dilthey den Gegensatz zwischen Geistes- und Naturwissenschaften hervor. Harari aber bringt es fertig, die ganze historische Last über Bord zu werfen und auf ganz unbefangene aber hellseherische Art sozusagen von vorn zu beginnen. Den Gegensatz zwischen „Wahrheit“ (truth) und „Ordnung“ (order) stellt er als einen letztlich unaufhebbaren Widerspruch dar.

Wir alle wissen, dass die ordnunggebenden Narrative überall auf der Welt Wahrheit bewusst unterdrückten, wenn diese für sie zur Gefahr zu werden drohte. Das Beispiel Galileis ging in die Geschichte ein, aber er ist nur einer unter den zahllosen Ketzern, deren wahre oder oft auch nur vermeintlichen Erkenntnisse ein bestehendes Narrativ und damit eine bestehende Ordnung zu unterminieren drohten. Die daraus resultierenden Spaltungen der Gemeinschaft wurden als weit gefährlicher angesehen als es der Gewinn sein konnte, den eine wahre Erkenntnis bringt (im Fall Galileis interessierte diese zu seiner Zeit ohnehin nur eine Handvoll von Intellektuellen). Dieselbe Abwägung verbirgt sich unter dem Widerstand der sogenannten Kreationisten gegen die längst als unwiderlegbar bewerteten Erkenntnisse eines Charles Darwin. Die Zertrümmerung der biblischen Autorität und der durch sie geeinten Gemeinschaft vermag in ihren Augen der kleine Gewinn nicht wettzumachen, der aus der Erkenntnis erwächst, dass wir einen gemeinsamen Stammbaum mit den Affen teilen. Das gegenwärtige Putinregime hält selektiv an der objektiven Wahrheit fest, soweit diese der Entwicklung von Waffen mit immer größerer Vernichtungskraft dient. Wie schon zuvor die Sowjetunion verbietet es aber alle wissenschaftliche Erkenntnis, die ihrem Narrativ im Wege steht, in vollem Recht zu sein, wenn es die eigene angeblich weit überlegene moralische Ordnung den Nachbarvölkern mit Gewalt aufzwingt.

Das ist das eine, Information, die der Ordnung dient, unterdrückt objektive Wahrheit, wenn diese der Ordnung gefährlich wird. Aber das Gegenteil gehört ebenso zur evidenten historischen Realität. Überall auf der Welt haben Religionen und Ideologien unter dem Ansturm der Wissenschaften ein Dogma nach dem anderen aufgeben müssen. Im Namen der Wahrheit haben sich Voltaire und andere Aufklärer in seinem Gefolge über die Religionen lustig gemacht. Sie und vollends die großen Fortschrittsapostel des neunzehnten Jahrhunderts – man denke etwa an Ludwig Büchner, den Bruder des großen Georg – ähnelten einem Elon Musk in der naiven Überzeugung, dass im Zeitalter der Wissenschaften irgendwann sämtliche Fragen abschließend beantwortet und alle Rätsel gelöst sein würden – Antworten und Fragen, auf welche die Religionen keine oder nur falsche Antworten zu geben wussten. Heute dagegen wissen wir – und Harari versteht es, den Leser davon zu überzeugen – dass diese Erwartung nicht nur trügerisch ist sondern schlicht falsch. Unsere Werte und die Narrative, womit wir sie begründen, lassen sich nicht aus der Natur ableiten. Sie sind nicht Teil einer objektiven, außerhalb von uns selbst bestehenden und in diesem Sinne wahren Realität, sondern werden von uns selbst in die Welt gesetzt. Selbst wenn wir statistisch nachweisen könnten, dass neunzig Prozent aller Menschen unserer und früherer Generationen lieber mit anderen im Frieden leben als sie zu bekriegen oder zu morden, bleiben doch zehn Prozent übrig, die ihren eigenen Vorteil gerade darin sehen, sich gegen die Mehrheit zu stellen und bereit sind, dafür auch Kampf und Mord auszuüben. Auf solche Weise haben Hitler und Putin Deutschen bzw. Russen das Narrativ von Hass und Vernichtung im Namen eines von ihnen erfundenen, angeblich unanfechtbaren Weltbilds aufgezwungen.

Narrative sind Werkzeuge, um soziale Ordnung herzustellen. Als Menschen sind wir frei und bleiben daher für unsere Mitmenschen unberechenbar, solange wir nicht durch ein gemeinsames Narrativ, sprich durch eine Religion, eine Ideologie oder sonstige geistig-emotionale Inhalte miteinander verbunden sind. An diese ordnunggebenden Inhalte können wir nur glauben, da ihre Ge- und Verbote nicht zu den wissenschaftlich nachweisbaren Wahrheiten gehören. Damit aber ist nichts anderes gesagt, als dass wir – ob wir wollen oder nicht – immer Narrative erfinden werden und sie erfinden müssen, da darauf die Existenz menschlicher Gemeinschaften beruht. In unserer Zeit sind diese Narrative überwiegend von säkularer Art. Sie verbergen sich beispielsweise in den ethischen Grundsätzen einer Verfassung aber auch in denen jedes einzelnen Wirtschaftsbetriebs. Den Menschen, die mit ihnen leben, erscheinen solche Grundsätze als rationale Notwendigkeit, z.B. um einen Betrieb wirtschaftlich erfolgreich zu führen. Aber die Rationalität selbst steht immer im Dienste ethischer Imperative, die als solche rational unbegründbar sind. Nur weil ein moderner Betrieb ein erstrebenswertes Ziel darin sieht, unaufhörlich zu produzieren und wettbewerbsfähig zu sein, gelangt die dabei verlangte Rationalität zur Anwendung. In der Vergangenheit hat es Gesellschaften gegeben und wird sie zweifellos in Zukunft von neuem geben, welche völlig andere Ziele verfolgen und diese daher auch mit einer anderen Rationalität verwirklichen.

Auf dieser Erkenntnis von einer existenziellen Freiheit, die jenseits aller Wahrheit der Naturerkenntnis besteht, beruht für mich der außerordentliche Beitrag von Nexus, dem jüngsten Buch von Juval Noah Harari. Mit unglaublich leichter Hand und der Meisterschaft eines Philosophen, der sich wie ein Kind zum ersten Mal die eigentlich wichtigen Fragen stellt, versetzt er der heutigen Wissenschaftsreligion einen größeren Stoß als David Hume, Immanuel Kant oder Karl Popper. Anders als der Welterfolg „Sapiens“ verlangt „Nexus“ von seinen Lesern allerdings mehr als nur Staunen, es verlangt tätiges Mitdenken, das – ganz wie es die These seines Buches belegt – einige seiner Gewissheiten zu erschüttern vermag. Da Denken weniger beliebt ist als das Staunen, würde es mich wundern, wenn Harari mit diesem philosophischen Meisterwerk so viele Leser erreicht wie mit Sapiens, diesem geflügelten Galopp durch die Weltgeschichte.

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Ausgewählte Kommentare

Frank Engert schreibt:

Lieber Gero Jenner,

herzlichen Dank für Ihren Aufsatz über Nexus.

Sie schreiben darin:

„Narrative sind die Werkzeuge sozialer Ordnung. Als Menschen sind wir frei und bleiben daher für unsere Mitmenschen unberechenbar, solange wir nicht durch ein gemeinsames Narrativ, sprich durch eine Religion, eine Ideologie oder sonstige geistigemotionale Inhalte miteinander verbunden sind. An diese ordnunggebenden Inhalte können wir nur glauben, da sie nicht zu den wissenschaftlich nachweisbaren Wahrheiten gehören. Damit aber ist nichts anderes gesagt, als dass wir – ob wir wollen oder nicht – immer Narrative erfinden werden und sie erfinden müssen, da darauf die Existenz menschlicher Gemeinschaften beruht.“

Glauben Sie allen Ernstes, dass es ein solches Narrativ an das alle glauben nach der Aufklärung überhaupt noch geben kann [wir werden/müssen es erfinden]? Ich glaube das nicht. Und wenn dem nicht so ist, wäre damit der Zerfall menschlicher Gesellschaften vorprogrammiert? Oder kann eine Gesellschaft, in der die Religion, das Narrativ, zur Privatsache per Verfassung erklärt ist, doch existieren? Ist das das Experiment, was unsere Zivilisation heute gerade unbewusst exerziert?

Sind das Fragen, die Harari in seinem Buch versucht anzugehen?

Mit freundlichem Gruß

Frank Engert

Meine Replik:

Lieber Herr Engert,

im Anschluss an das von Ihnen besprochene Zitat meines Aufsatzes habe ich noch einige Zeilen hinzugefügt, welche die Sache, wie ich hoffe, deutlicher machen. Religionen spielen zumindest in der westlichen Welt nur noch eine untergeordnete Rolle, aber nicht die Ethik, die einigen der größten von ihnen zugrundeliegt. Ethik beherrscht zum Beispiel jeden Betrieb, obwohl das den meisten dort arbeitenden Menschen überhaupt nicht bewusst ist. Sie glauben, dass sie einer Rationalität gehorchen, die sozusagen mit Unausweichlichkeit aus dem Zwang der Verhältnisse selbst resultiert. Aber es ist, wie ich in dem hinzugefügten Absatz sage, keineswegs notwendig, dass wir immer mehr produzieren und konsumieren, dass wir dabei mit anderen in unerbittlichem Wettbewerb stehen usw. Es sind ethische Entscheidungen von der Art ob wir uns und der Gesellschaft nützen oder schaden, die letztlich unser Handeln bestimmen, wenn die sachliche Rationalität, die sich daraus ergibt, dann auch durch die Verhältnisse (den Stand von Technik und Wissenschaft) bedingt wird. Ethische Entscheidungen aber führen zu Narrativen auch dann, wenn sie rein säkular sind.

Diese Überlegungen stehen im Einklang mit den Argumenten von Harari. Dieser würde Ihnen gewiss auch darin beipflichten, dass Religionen die wohl wirksamsten Narrative geschaffen haben, weil es uns leichter fällt, uns einem überirdischen Gott unterzuordnen, den wir uns als unendlich weise vorstellen, als einer irdischen Instanz, von der wir wissen, dass sie genauso fehlbar ist wie wir selbst. Dadurch wird die „intersubjektive Realität“, welche laut Harari den Erfolg unserer Art begründet, sozusagen gegen jeden Einspruch abgeschirmt. Das ist natürlich eine rein technische Sicht auf den Glauben, mit der sich Harari bei den Vertretern der Religion nicht beliebt machen kann.

Er behandelt im zweiten Teil seines Buches aber vor allem die seiner Meinung nach kaum mehr beherrschbaren Gefahren der Künstlichen Intelligenz. Er ist der Meinung, dass diese das Potential besitzt, jedes Narrativ zu zerstören.

He who does not work shall not eat!

This highly controversial saying, which goes back to St. Paul, is one of the most significant of all, because all existing or utopian social systems can be derived from it. All either arise from agreement with it or from protest against it.

Civilization versus war, barbarism and extreme poverty

An important qualification is, however, called for. No society, except those at war or in the worst periods of barbarism, has ever strictly adhered to it. At the earliest age, humans are not yet capable ofwork. The biological survival of society would be endangered if it did not sustain the growing new generation. At their latest period of age, humans are no longer capable of work. A society that does not feed its old people would be considered inhumane, unless it acts out of extreme necessity, as was the case in ancient Japan and probably in many other parts of the world. Before the industrial era, some mountains in Japan were still called Sute-Baba-Yama, that is “mountains where grandmothers are abandoned”. Japan has always been a country where special reverence was shown to the elderly. But extreme food shortages could force people to choose between the survival of newborns and that of the elderly. In some particularly poor mountain areas, the elderly were sacrificed in such cases.

But not only in the case of those not yet or no longer able to work did almost all societies make an exception to the abovementioned rule. It also applied to the sick and other temporarily or permanently disabled people.

The saying therefore applies only to the employable part of society. Should employable people be allowed to eat even if they don’t work?

Sometimes you may hear that it was the unfortunate insistence on the “primacy of labor” that brought about the social aberrations of our time, for example capitalism. I consider this to be superficial and untenable chatter. After all, the question underlying this saying is a different one. Should people be entitled to the services of their fellows even if they themselves are not willing to provide services for others? If you ask the question in this way, the answer will be obvious to anyone in their right mind. Of course not! Human coexistence consists of mutual give and take. If one of the parties rejects this obligation, the other party does not have to adhere to it either.

Anarchism versus humans as social beings

However, there have always been a small number of outsiders who do not accept this conclusion. Anarchists are the most implacable defenders of individual self-determination. No one other than the sovereign individual himself should rule over his destiny. Of course, we allow such a person as much food as anyone else. But as he rejects all restrictions of self-determination by others, he cannot demand any benefits from others. Consistent anarchism abolishes the principle of mutual give and take. It is irreconcilably opposed to the social existence of man, has never formed real societies and is nothing more than a rather curious ideological fringe phenomenon.

In fact, the principle of mutual give and take seems to be universal. I don’t know of any social system that questions it. What is not universal, is the way in which work is understood, i.e. the way in which giving and taking are implemented. If a person is of good will and tries very hard but, due to mental or physical weakness, contributes little or perhaps nothing at all to the good of others, what should count? Good will results?

The answer to this question produces completely different types of social communities. In families, religious sects, and very small communities, it was possible that good intention alone was completely sufficient, even if such people did not make any useful contribution to the community in the usual sense. Almost every family knows an outsider within their ranks who does not conform to the social rules of the game but is still supported because he “belongs” to them. We know of many tribes and small societies where even the mentally disturbed or physically deformed “belonged” in this elementary sense. In some of these societies, it was believed that the gods chose to speak through the mouths of such outsiders. They were maintained by the community even though they did not perform any useful work in the usual way.

Real existing socialism, capitalism versus classless society (as propagated by the Enlightenment and in the author’s theoretical works)

“Real existing socialism” of the former German Democratic Republic had carried the emphasis on goodwill as the basis for “belonging” right into modern mass society. There were millions of people in East Germany who, by the standards of Western capitalism, were underemployed but nevertheless led lives that were just as good (or bad) as those of any average citizen. Of course, even a socialist state cannot survive without real productivity. But loyalty to the regime counted for at least as much as actual contribution. In truth it even counted for a lot more. Outstanding knowledge and skills did not save anyone from prison if they openly spoke out against the regime. On the other hand, a calculating justification and glorification of the communist system could catapult a person into the highest political ranks and offices – regardless of any character flaws and other shortcomings. In real socialism, you could eat even if you didn’t really work – poverty was shared, so to speak (only the elite or “nomenklatura” allowed themselves a generous exception to this rule).

The capitalist system, as it is implemented in a democracy, is based on fundamentally different assumptions. It is the result and only the result that counts, not good will. When towards the end of the 1980s American companies discovered that they could significantly increase their profits by outsourcing production to emerging markets (at that time mainly to China), they pushed ahead with this “globalization” without regard for their own workforce. From then on, once well-off workers became impoverished in emerging „rust belts“. Later on these people formed a reliable core of the Trump electorate, with Democrat Hilary Clinton adding to misery by deriding the social losers as “deplorables”. The “belonging” of this predominantly white and formerly well-protected working class did not count in the face of the capitalist imperative to increase efficiency and profit.

However, greater efficiency itself was an undeniable fact that even European industries could not escape. Since American industrial goods became much more competitive through outsourcing, Europeans were forced to do the same. In my early book “Die Arbeitslose Gesellschaft” (Unemployed Society), which at the time (1998) turned out to be quite successful, I predicted that this process would only end when its powerful pioneers, the Americans, decided to stop it. Precisely that has now happened. The US, and now Europe in its wake, are pursuing an increasingly protectionist policy.

In fact, they have no other choice if they want to maintain at least some of their industries. Just as emerging nations have to be protectionist because their initially far inferior companies would otherwise have no chance against far superior pioneers, so must “old industrial nations” also protect themselves, since emerging countries can offer their labor and nature at close to zero cost.

Capitalist efficiency can only achieve its favorable effects if a socially minded government sets appropriate limits. A developed and generous unemployment insurance system, combined with broad retraining measures, can significantly mitigate the hardships of efficiency. This is indeed imperative, as societies only benefits from an efficient economy in the long term if they are thus protected.

Max Weber has shown that capitalism existed at least in rudimentary form in all great cultures. But it was the Protestant ethic that first gave the spirit of capitalism a religious blessing. The pursuit of profit was not considered a sin provided it served the good of the community rather than selfish ends. Nor was efficient economic activity an end in itself but should be a form of worship (an “inner-worldly asceticism”, as Weber had called it). It was not until the Enlightenment in the 18th century that efficient economic activity was completely removed from its previous religious context and became purely secular. However, the Enlightenment added an essential element because its aim was to abolish all hereditary privileges and replace them with demonstrable knowledge and skills.

Classless Society

If the Enlightenment had succeeded in realizing this crucial point, mankind would now live in a classless society, because knowledge and skills are not inherited. With each generation, they pass to new minds, since each generation must learn them anew. In contrast, large sums of money and all kinds of material assets can be passed on by way of inheritance – without any effort being required from the respective heirs. Great wealth usually provides many more advantages than even great individual knowledge and ability. Today’s capitalism, with its inheritability of privileges, which the Enlightenment fought so fiercely but unsuccessfully against, has the unmistakable tendency to createnew feudalistic conditions and political plutocracies. In contrast to Karl Marx, who wanted to establish a classless society by inciting one part of the population against the other, the Enlightenment correctly recognized the evil and proposed the right medicine against it.

Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen!

Dieser höchst umstrittene, auf Paulus zurückgehende Spruch ist einer der bedeutsamsten überhaupt, weil sich sämtliche existierenden oder auch utopischen Sozialsysteme aus ihm herleiten lassen. Alle gehen entweder aus der Übereinstimmung mit ihm hervor oder aus dem Protest gegen ihn.

Zivilisation versus Krieg, Barbarei, äußerste Not

Allerdings ist eine wichtige Einschränkung von vornherein geboten. Keine Gesellschaft, außer solche im Krieg oder in den schlimmsten Zeiten der Barbarei, hat sich jemals streng an die Regel gehalten. Im frühesten Alter sind Menschen noch nicht zur Arbeit fähig. Das biologische Überleben der Gesellschaft wäre gefährdet, würde sie die heranwachsende neue Generation nicht trotzdem erhalten. Im spätesten Alter sind Menschen nicht mehr zur Arbeit fähig. Eine Gesellschaft, welche die Alten nicht trotzdem ernährt, würde als unmenschlich gelten. Oder sie handelt aus äußerster Not, wie dies im alten Japan und wohl auch sonst in vielen Teilen der Welt geschah. Früher einmal trugen in Japan einige Berge die Bezeichnung Sute-Baba-Yama: „Berge, wo die Oma ausgesetzt wird“. Japan war zwar immer ein Land, wo man den Alten besondere Ehrfurcht entgegenbrachte. Aber die äußerste Nahrungsknappheit konnte die Menschen dazu zwingen, zwischen dem Überleben der Neugeborenen und dem der Alten zu wählen. In manchen besonders armen Berggegenden wurden in einem solchen Fall die Alten geopfert.

Aber nicht nur bei den noch nicht und den nicht mehr Arbeitsfähigen pflegten fast alle Gesellschaften eine Ausnahme zu machen. Sie galt ebenso auch für die Kranken und andere temporär oder dauerhaft behinderte Menschen.

Der Spruch bezieht sich daher von vornherein nur auf den arbeitsfähigen Teil einer Gesellschaft. Sollen arbeitsfähige Menschen auch dann essen dürfen, wenn sie nicht arbeiten?

Man kann manchmal hören, dass es erst der unselige „Primat der Arbeit“ gewesen sei, der die sozialen Verirrungen unserer Zeit, zum Beispiel den Kapitalismus, hervorgebracht habe. Ich halte dies für ein oberflächliches, unhaltbares Geschwätz. Denn die diesem Spruch zugrundeliegende Frage ist doch eine andere. Sollen Menschen auch dann ein Anrecht auf die Leistungen ihrer Mitmenschen haben, wenn sie selbst nicht bereit sind, ihrerseits Leistungen für andere zu erbringen? Stellt man die Frage auf diese Weise, dann liegt die Antwort für jeden gerecht Urteilenden auf der Hand. Natürlich nicht! Menschliches Zusammenleben besteht aus wechselseitigem Geben und Nehmen. Wenn einer der Teile diese Verpflichtung zurückweist, braucht sich der andere Teil genauso wenig an sie zu halten.

Anarchismus versus Menschen als soziale Wesen

Eine kleine Zahl von Außenseitern hat es aber wohl immer gegeben, die diese Schlussfolgerung nicht akzeptieren. Anarchisten sind die unerbittlichsten Verteidiger der individuellen Selbstbestimmung. Niemand anders als der souveräne Einzelne selbst soll über das eigene Schicksal herrschen. Natürlich gönnen wir einem solchen Menschen so viel Essen wie jedem anderen. Da er aber keine Einschränkung seiner Selbstbestimmung durch andere akzeptiert, darf er auch keine Leistungen vonseiten der anderen für sich verlangen. Der konsequente Anarchismus kündigt das Prinzip des wechselseitigen Gebens und Nehmens auf. Er steht damit in einem unversöhnlichen Widerspruch zur sozialen Existenz des Menschen. Kein Wunder, dass er niemals real existierende Gesellschaften gebildet hat und nicht mehr als eine eher kuriose ideologische Randerscheinung ist.

Denn das Prinzip vom wechselseitigen Geben und Nehmen scheint universal zu sein. Mir ist kein soziales System bekannt, das diesen Grundsatz in Frage stellt. Nicht universal aber ist, wie man Arbeit versteht, also das jeweilige Geben und Nehmen. Wenn ein Mensch guten Willens ist, sich die größte Mühe gibt, aber aufgrund geistiger oder körperlicher Unterlegenheit wenig oder vielleicht auch gar nichts zum Wohl anderer beiträgt, was soll dann zählen? Der gute Wille oder das Resultat?

Die Antwort auf diese Frage bringt völlig verschiedene Typen sozialer Gemeinschaft hervor. In Familien, religiösen Sekten, sehr kleinen Gemeinschaften war es möglich, dass die Absicht allein völlig ausreichend war, auch wenn bestimmte Menschen keinen im üblichen Sinne nützlichen Beitrag für die Gemeinschaft leisten. Fast jede Familie kennt einen Außenseiter in den eigenen Reihen, der sich den sozialen Spielregeln nicht fügt, aber trotzdem von ihr erhalten wird, weil er nun einmal „dazugehört“. Wir wissen, dass es viele kleinere soziale Verbände gab, wo selbst geistig Verwirrte oder körperlich Missgestaltete in diesem elementaren Sinne dazugehörten. In manchen dieser Gesellschaften glaubte man, dass die Götter gerade aus dem Munde solcher Außenseiter sprechen. Sie wurden von der Gemeinschaft erhalten, obwohl sie keine im üblichen Sinne nützliche Arbeit verrichten.

Real-existierender Sozialismus, Kapitalismus versus klassenlose Gesellschaft, (wie sie die Aufklärung und ich in meinen theoretischen Schriften propagieren)

Der „real-existierende Sozialismus“ der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik hatte diese Betonung des guten Willens als Grundlage für Dazugehörigkeit in eine moderne Massengesellschaft hineingetragen. Es gab dort Millionen von Menschen, die nach dem Maßstab des westlichen Kapitalismus unterbeschäftigt waren, aber trotzdem ein ebenso gutes (oder schlechtes) Leben führten wie der Durchschnitt ihrer Mitbürger. Natürlich kann auch ein sozialistischer Staat ohne Leistung nicht überleben. Aber die Loyalität zum Regime zählte mindestens ebenso viel wie der faktische Beitrag der Bürger zur gesamtgesellschaftlichen Arbeit. Nein, sie zählte in Wahrheit um einiges mehr. Hervorragendes Wissen und Können bewahrte niemanden vor dem Gefängnis, wenn der Betreffende sich offen gegen das Regime aussprach. Andererseits konnte eine berechnende Rechtfertigung und Verklärung des Systems einen Menschen in die höchsten politischen Ränge und Ämter katapultieren – ungeachtet aller sonstigen charakterlichen und sonstigen Mängel. Im real-existierenden Sozialismus konnte man essen, auch wenn man nicht wirklich arbeitete – die Armut wurde sozusagen geteilt (nur die Elite oder „Nomenklatura“ genehmigte sich eine Ausnahme von dieser Regel).

Das kapitalistische System geht von grundsätzlich anderen Voraussetzungen aus. Es zählt ausschließlich das Resultat, nicht der gute Wille. Als amerikanische Unternehmen gegen Ende der achtziger Jahre entdeckten, dass sie ihren Profit bedeutend steigern, wenn sie die Produktion in Schwellenländer (damals vor allem nach China) verlagern, haben sie die „Globalisierung“ entschieden vorangetrieben – ohne Rücksicht auf die eigene Arbeiterschaft. Die vegetierte von da an in den entstehenden Rostgürteln dahin und wurde später zu einem verlässlichen Kern der Trumpwählerschaft, wobei die Demokratin Hilary Clinton das Unglück auch noch durch Spott vermehrte, indem sie die sozialen Verlierer als „Deplorables“ schmähte. Die „Dazugehörigkeit“ dieser überwiegend weißen und früher einmal gut abgesicherten Arbeiterschicht zählte nicht angesichts des kapitalistischen Imperativs, die Effizienz und den Profit mit allen Mitteln zu steigern.

Die größere Effizienz selbst war allerdings ein unleugbares Faktum, dem sich auch europäische Industrien nicht zu entziehen vermochten. Da amerikanische Industriegüter durch die Auslagerung (outsourcing) auf dem Weltmarkt wesentlich konkurrenzfähiger wurden, waren die Europäer gezwungen, sie gleichfalls zu betreiben. In meinem damals (1998) recht erfolgreichen Buch „Die arbeitslose Gesellschaft“ hatte ich vorausgesagt, dass dieser Prozess in Europa erst dann enden würde, wenn seine mächtigen Pioniere, die Amerikaner, sich zu einer Umkehr entschließen. Genau das ist inzwischen geschehen. Die USA und in ihrem Gefolge nun auch Europa betreiben eine zunehmend protektionistische Politik.

Es bleibt ihnen auch gar nichts anderes übrig, wenn sie ihre Industrien wenigsten teilweise erhalten wollen. So wie aufstrebende Staaten protektionistisch sein müssen, weil ihre anfangs weit unterlegenen Unternehmen andernfalls keine Chance gegen weit überlegene Pioniere hätten, so müssen „alte Industrienationen“ sich gleichfalls schützen, da aufstrebende Länder ihre Arbeiterschaft und die Natur nahe am Nulltarif anbieten können.

Ein effizienter Kapitalismus kann nur dann die günstigsten Wirkungen erzielen, wenn ein sozialer Staat ihm die entsprechenden Grenzen setzt. Eine entwickelte und großzügige Arbeitslosenversicherung in Verbindung mit breit angelegten Umschulungsmaßnahmen vermag die Härten der Effizienz wesentlich abzumildern. Das ist allerdings auch unbedingt notwendig, denn der Staat profitiert von einer effizienten Ökonomie auf lange Sicht nur dann, wenn er die Bevölkerung wirksam gegen deren unvermeidliche Härten schützt, also ökonomische Effizienz sozial verträglich macht.

Wie Max Weber zeigte, hat es Kapitalismus zumindest in Ansätzen in allen großen Kulturen gegeben. Doch erst die protestantische Ethik hat dem Geist des Kapitalismus den religiösen Segen erteilt. Das Streben nach Gewinn war keine Sünde, wenn der Mensch damit nicht egoistischen Zielen sondern dem Wohl der Gemeinschaft diente. Effizientes Wirtschaften durfte kein Selbstzweck sondern sollte weiterhin eine Art von Gottesdienst sein (eine „innerweltliche Askese“, wie Weber es nannte). Erst die Aufklärung löste effizientes Wirtschaften ganz aus diesem religiösen Kontext heraus und machte daraus eine rein säkulare Veranstaltung. Die Aufklärer brachten allerdings ein wesentliches Element hinzu: Es ging ihnen darum, alle erblichen Privilegien abzuschaffen, um sie durch nachweisbares Wissen und Können zu ersetzen.

Klassenlose Gesellschaft

Wäre es gelungen, diesen Hauptpunkt ihrer Forderungen zu verwirklichen, dann würden wir heute in einer klassenlosen Gesellschaft leben, denn Wissen und Können lassen sich nicht vererben. Mit jeder Generation gehen sie auf neue Köpfe über, da jede Generation sie von neuem erlernen muss. Dagegen fällt großes Geld den Erben zu, ohne dass dabei irgendwelche Leistungen von ihnen gefordert werden. Großer Reichtum vermag dem, der ihn besitzt, noch viel größere Vorteile zu verschaffen als großes individuelles Wissen und Können. Der heutige Kapitalismus mit seinem von der Aufklärung so heftig aber erfolglos bekämpften Pferdefuß der vererbbaren Privilegien besitzt die unverkennbare Tendenz neuerlich feudalistische Zustände und politische Plutokratien zu schaffen. Im Gegensatz zu Karl Marx, der die klassenlose Gesellschaft dadurch begründen wollte, dass er einen Teil der Bevölkerung gegen den anderen aufhetzte, hat die Aufklärung das Übel richtig erkannt und dagegen auch die richtige Medizin vorgeschlagen.

Israel und Ukraine – Über Fürsten- und Glaubenskriege

Die Genfer Konvention von 1949 hat Kriegsverbrechen definiert, indem sie spezifische Regeln aufstellte, wie Kriege keinesfalls geführt werden dürfen. Die Schonung der Zivilisten steht da an erster Stelle. Diese Übereinkunft war ein großartiger Versuch, der Humanität zum Sieg zu verhelfen. Das Bemühen war allerdings von vornherein zum Scheitern verdammt.

Bis etwa zum Beginn der industriellen Revolution lagen Fürsten permanent miteinander im Krieg. Kriege dienten der Erweiterung ihrer Macht. Man besiegte gegnerische Truppen, um auf diese Weise das eigene Territorium und die eigene Nahrungsbasis zu vergrößern. Es war nicht im Interesse dieser Herren von Gottes Gnaden die Nahrungsbasis selbst zu vernichten, also die achtzig bis fünfundneunzig Prozent der Nahrung erzeugenden Bauernschaft auf dem Lande. Nicht selten hatten die Bauern zwar unter gegnerischen Besatzungen furchtbar zu leiden, von ihren eigenen Herren wurden sie zudem regelmäßig bis aufs Blut ausgequetscht (siehe Huizinga: Herbst des Mittelalters), aber keiner der Kriegsherren sah es auf ihre Vernichtung ab. So blieb die zivile Bevölkerungsmehrheit damals einigermaßen geschützt.

Neben den Kriegen der Fürsten, die sich zwischen Rittern oder Söldnern abspielten und im Hinblick auf die Zahl der Opfer vergleichsweise harmlos waren, gab es aber schon immer, und gibt es bis heute, die Glaubenskriege. Die christlichen Kreuzfahrer sind in Palästina knietief durch Blut gewatet, weil Muslime Heiden waren und damit von Gott ohnehin zur Hölle verdammt. Etwas später fielen die Muslime in Indien ein und haben dort noch ärger als die christlichen Kreuzfahrer gewütet. „Die muslimische Eroberung Indiens,“ so sagt es der große US-amerikanische Historiker Will Durant, „ist wahrscheinlich das blutigste Ereignis der Weltgeschichte. Es ist eine entmutigende Geschichte, weil es die offensichtliche Einsicht vermittelt, dass die Zivilisation stets gefährdet ist.“ Von Sultan Ahmad Shah ist überliefert, dass er jedes Mal drei Tage lang feierte, wenn die Zahl der an einem Tag hingeschlachteten Hindus die Marke von zwanzigtausend übertraf.

Der Krieg gegen die Ukraine war zu Anfang ein klassischer Fürstenkrieg. Ein russischer Diktator, namens Wladimir Putin, der mit Zbigniew Brzeziński, dem Verfasser des Buches „Das Große Schachspiel“ darin einer Meinung ist, dass Russland ohne die Ukraine kein Imperium mehr sei, entschied, dass dieses Land wieder unter die Herrschaft Russlands kommen müsse. Aus der Sicht Putins schien das zunächst auch ziemlich einfach zu sein. Er selbst hatte die Ukrainer zunächst noch „russische Brüder“ genannt, deren gottgegebenes historisches Schicksal darin besteht, sich der russischen Führung zu unterwerfen. Erstaunlich für Russland ebenso wie für den Rest der Welt war es dann aber, dass die Ukraine sich ihrer Einverleibung schon während der ersten Tage des Überfalls mit aller Kraft widersetzte. Das wiederum führte zu einem Sinneswandel des russischen Diktators. Aus dem Fürsten- wurde ein Glaubenskrieg – äußerlich daran erkennbar, dass aus den ukrainischen Brüdern und Schwestern nun Faschisten und Neofaschisten wurden, gegen die ein Ausrottungskrieg geführt werden darf.

Ein Glaubenskrieg ist auch der Kampf, den der Iran und seine Handlanger, Hamas und Hisbollah, gegen Israel führen. Der Iran wird von Israel nicht bedroht, er hat auch keine gemeinsamen Grenzen mit diesem Land. Die üblichen Gründe für einen Krieg sind in diesem Fall nicht vorhanden. Allerdings ist das schiitische Mullah-Regime ein Paria innerhalb der Mehrheit sunnitischer Länder. Indem es den Hass auf Israel schürte und seinen Vasallen Waffen zu dessen Vernichtung verschaffte, erzwang es sich die Anerkennung der muslimischen Welt. Diese Chance schien aber vertan, als Israel mit den meisten seiner muslimischen Nachbarn diplomatische Beziehungen und damit ein normales Verhältnis begründete. Um neuerlich einen Keil zwischen Israel und die islamische Welt zu treiben, hetzte der Iran daher die Hamas zu ihrem blutigen Anschlag vom 7. Oktober auf – die Folge war eine Orgie von hemmungsloser Brutalität. Trotz aller Härte gegen die Muslime im Westjordanland und der Übergriffe der jüdischen Siedler hat das säkulare Israel niemals einen Glaubenskrieg gegen seine muslimischen Nachbarn geführt, sieht man einmal von einer Minderheit rechter Fanatiker und orthodoxer Juden ab.

Warum geht das Land Israel dennoch mit kompromissloser Härte gegen seine Angreifer vor? Warum mussten schon mehr als zehntausend Zivilisten in Gaza sterben?

Der Krieg Israels gegen seine Feinde fällt in eine besondere Kategorie. Er ist weder ein Glaubens- noch ein Fürstenkrieg sondern hier kämpft ein hochmoderner demokratischer Zwergstaat schlicht um sein Überleben. Die Genfer Konvention hat die Bombardierung von Hospitälern, Schulen und anderen zivilen Einrichtungen zu einem Kriegsverbrechen erklärt. Da Israel derartige Ziele in großem Maßstab vernichtet hat, werden zunehmend Rufe laut, Israel wegen Kriegsverbrechen zu verklagen. Die idealistischen Verfasser der Konvention haben nicht vorausgesehen, dass die Bombardierung ziviler Einrichtungen zu einem Überlebensimperativ werden kann.

Denn die Verletzung der Konvention wird dann unumgänglich, wenn der Feind zivile Einrichtungen bewusst dazu benutzt, um Raketenbasen oder eigene Kommandozentralen darin zu verstecken. Wird die eigene Bevölkerung dem feindlichen Militär bewusst als Schutzschild und Geisel preisgegeben, wer ist dann schuld, wenn ein Hospital bombardiert wird – der berechnende Geiselmacher oder der Feind, der die militärische Basis vernichtet, aber damit zugleich auch die Menschen, die dabei als lebender Schutzschild missbraucht worden sind? Wie immer man die Bestimmungen der Genfer Konvention auch drehen und wenden mag, der Missbrauch der eigenen Zivilbevölkerung durch Hamas und Hisbollah ist nicht weniger unmenschlich als die durch den Gegner eben dadurch erzwungene Auslöschung unschuldiger Frauen und Kinder. Es ist zu befürchten, dass dieser Missbrauch von Zivilisten als lebendiger Schutzschild für militärische Einrichtungen künftigen Kriegen zur Norm werden wird.

Fürstenkriege sind in unserer Zeit selten geworden, sieht man von dem neuen Zaren Wladimir Putin ab, der sich weiterhin bemüht, die ehemaligen sowjetischen Vasallenländer, die inzwischen zu selbständigen Staaten wurden, mit einer Vielzahl von Verträgen allmählich wieder unter das russische Joch zu zwingen (weil der Zusammenbruch der Sowjetunion aus seiner Sicht „die größte Katastrophe der zwanzigsten Jahrhunderts“ war). In demokratischen Staaten liegt die Macht nicht länger bei einem Zaren oder Herrscher von Gottes Gnaden sondern bei den gewählten Vertretern des Volks. Der seit der industriellen Revolution aufkommende Nationalismus musste aus dem früheren Krieg der Fürsten daher einen Krieg der Völker machen, der dann die typische Färbung von Glaubenskriegen besitzt. In den Augen ihrer jeweiligen ideologischen Feinde wird gegnerischen Nationen seitdem pauschal ein Brandmal aufgeprägt: Sie sind unwerte Rassen, Faschisten, Kommunisten, Juden oder eine andere Art von Untermenschen.

Warum kommt es überhaupt zu Kriegen? Wären sie nicht grundsätzlich zu vermeiden? Brave deutsche Friedensforscher pflegen dazu eine feste Meinung zu vertreten. Man müsse nur immer im Gespräch miteinander bleiben! Interessant ist es in diesem Zusammenhang, dass die gleiche Botschaft auch aus Peking zu uns kommt. Durch Verhandlungen, sagen uns die Chinesen, ließen sich alle Probleme lösen. Leider ist das der Gipfel der Heuchelei, denn Peking besteht zur gleichen Zeit auf roten Linien, die prinzipiell kein Gegenstand von Verhandlungen sind. Über Tibet, über Xin Jiang, über Taiwan und über die vollständige Souveränität Pekings im südchinesischen Meer – darüber könne es keine Gespräche geben. (1) Die braven deutschen Friedensforscher haben leider einen Punkt außer Acht gelassen, der aber der wichtigste ist, nämlich dass der Beginn eines Krieges regelmäßig darin besteht, dass alles Reden und Verhandeln kategorisch verworfen wird.

Glaubenskriege werden nicht durch Gespräche beendet sondern durch eindeutige Siege oder die Erschöpfung der Gegner. Vorerst ist Putin an Gesprächen nicht interessiert, solange diese irgendwelche Zugeständnisse von seiner Seite erfordern. Stattdessen treibt er den Westen mit der Drohung eines Atomkrieges vor sich her. So wie Hitler in den Beschwichtigungsversuchen der Alliierten nur Schwäche erblickte, die seine Aggressionsbereitschaft zusätzlich steigerten, macht auch Putin sich die Angst seiner Gegner zunutze. Seit einem dreiviertel Jahrhundert hängt das Damoklesschwert des nuklearen Holocaust über dem Globus. Es wird sicher nicht durch Beschwichtigung abgewehrt sondern allein dadurch, dass alle Parteien sich gegenseitig daran erinnern, was mit ihnen geschieht, wenn sie diese furchtbare Errungenschaft unseres scheinbar unaufhaltsamen „Fortschritts“ tatsächlich verwenden. Glücklicherweise wissen die russischen Militärs darüber genauso gut bescheid wie die amerikanischen. Der Krieg gegen die Ukraine wird weder aufgrund von Drohung noch durch Beschwichtigung oder den eindeutigen Sieg einer Seite enden, sondern eher aufgrund von Erschöpfung. Ich wünsche dem tapferen Land und seinem Präsidenten, dass westliche Hilfe am Ende zur Entkräftigung Russlands führt und zu einer Palastrevolution gegen Putin. Das ist jedoch keinesfalls sicher. In Europa bleiben die russischen Drohungen nicht ohne Wirkung, und der potenzielle Präsident Donald Trump hat eine ausgeprägte Schwäche für Diktatoren wie Kim Jong-un und den russischen Zaren, weil er selbst so gern einer wäre.

Und wie wird der Überlebenskrieg Israels enden? Wäre er nicht überhaupt vermeidbar gewesen, hätte Israel sich rechtzeitig zu einer Zweistaatenlösung entschlossen? Und hätte nicht Netanyahu – wie es ein bedeutender Teil der israelischen Bevölkerung längst von ihm fordert – mit der Hamas einen Waffenstillstand schließen, die Geiseln befreien und ein Übergreifen der Kampfhandlungen auf den Libanon, vielleicht sogar auf den Iran, dadurch vermeiden können? Gewiss. Der Friede wäre dann für ein, zwei Jahre gesichert. Aber eben nur für eine kurze Zeit, denn, wie schon gesagt, leitet das blutige Mullah-Regime im Iran sein politisches Ansehen im islamischen Raum wesentlich von seiner Feindschaft gegen Israel ab. Einen vorzeitigen Frieden hätte das Regime dazu genutzt, um Hamas und Hisbollah in aller Stille neuerlich aufzurüsten. Der Staat Israel hätte nur eine Atempause gewonnen, aber die Gefahr für sein Überleben wächst exponentiell, wenn die Gotteskrieger des Iran demnächst eine eigene Atombombe besitzen.

Die unbeugsame Hartnäckigkeit Netanyahus hat sicher auch etwas mit seinem politischen Überleben zu tun, aber ich kann verstehen, dass dieser Mann das weitere Erstarken Irans und seiner fanatisierten Gefolgschaft um jeden Preis zu verhindern sucht. Wenn es dem israelischen Premier gelingt, die atomaren Anlagen des Iran zu vernichten – wozu er allerdings die speziellen Bunkerbrecher der Vereinigten Staaten braucht – dann darf sich Israel Ruhe erhoffen, Ruhe und Frieden zumindest für die kommenden zehn bis fünfzehn Jahre.

Leider werden Kriege nie durch bessere Einsicht beendet oder die gutgemeinten Ratschläge deutscher Friedensforscher, sondern in aller Regel nur durch einen eindeutigen Sieg oder gegenseitige Erschöpfung (siehe Jörn Leonhard: Über Kriege und wie man sie beendet). Der Widerstand der Hamas ist inzwischen so gut wie ausgeschaltet, die Hisbollah wurde mehrfach enthauptet und ist bereits weitgehend kampfunfähig. Es bleibt die Frage, ob es Netanyahu gelingt, auch den eigentlich kriegstreibenden Gegner, den Iran, bis zur Aufgabe zu schwächen. Der zweimalige Raketenüberfall des Iran hat ihm dazu jedenfalls die nötige Rechtfertigung verschafft.

Aber wird Israel dann den Frieden gewinnen? Das ist leider keineswegs ausgemacht. Seine Feinde haben richtig kalkuliert, als sie ihre eigene Bevölkerung opferten, um dann umso größere Empörung auf Israel zu lenken. Das Land hat sich in aller Welt verhasst gemacht. Überall flammt neuerlich der Antisemitismus auf. Juden emigrieren aus den Vereinigten Staaten und ebenso auch aus Europa; sie wandern nach Israel aus, wo sie sich trotz Raketenbeschuss immer noch sicherer fühlen. Kann und wird Israel diesem Hass entgehen?

Dazu müsste es den militärischen Sieg gegen seine Feinde in einen politischen Sieg verwandeln. Das Land müsste dieselbe Medizin anwenden wie die USA nach dem Zweiten Weltkrieg gegenüber den besiegten Deutschen. Die Amerikaner haben ihre ehemaligen Feinde mit äußerster Großzügigkeit behandelt und so in kurzer Zeit wieder Vertrauen aufgebaut. Ein länger andauernder Friede scheint überhaupt nur auf diese Art erreichbar zu sein. Gerade weil das winzige Israel seinen Feinden bisher so stark überlegen ist, würde ein nationalistisches Triumphieren oder gar eine weitere Expansion das Verhältnis zu den Nachbarländern – auch zu den Sunniten – auf Dauer vergiften.

Und eines darf natürlich auch nicht vergessen werden. Nicht nur die Juden, auch die Palästinenser sind in ihrem Überleben bedroht. Der Gazastreifen ist eine Art Freilichtgefängnis, das Westjordanland kein Ort, wo sich die heimische Bevölkerung wohlfühlen kann, seitdem die UNO 1947 die Gründung des Staates Israel beschloss. Wir Deutschen sollten allerdings den Mund dazu halten, denn es war der Holocaust, die Ermordung von sechs Millionen Juden, welche die Staatsgründung in den Augen der Juden wie der Weltöffentlichkeit erzwang. Ein furchtbares Verbrechen setzt so eine unendliche Kette von Maßnahmen in Bewegung, welche ihrerseits großes Unrecht zur Folge haben.

1. Siehe Thomas Gomart: L‘accélération de l’histoire. „Ende August 2023 veröffentlichte das chinesische Ministerium für natürliche Ressourcen die „Nationale Karte Chinas“, welche die Grenzen von Indien, Malaysia, den Philippinen, Vietnam, Taiwan und sogar von Russland verletzt und heftige Proteste auslöste. Auf diesem Dokument ist Taiwan ein integraler Bestandteil der VR China.“

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Vier ausgewählte Reaktionen


em.Prof.Dr.Dr.h.c.mult. Friedrich Schneider:

Ein ausgezeichneter Beitrag – ich gratuliere!
Gruß F.S.

Prof. Dr. Wolfgang Streeck (BSW): Bitte löschen

GJ: Sehr geehrter Herr Streeck,

bei aller Hochachtung, Sie sind leider auch einer von denen, welche nicht kommunizieren wollen, weil Sie sich längst auf eine Doktrin festgelegt haben. Aber vermutlich ist Ihnen der Jenner auch einfach zu dumm, um sich auf ihn einzulassen. Der ideologische Hochmut ist leider im linken Lager noch stärker verbreitet als im rechten.
Sie wären mir übrigens nicht zu dumm für einen Austausch von Gedanken.
Mit bedauernsvollem Gruß angesichts Ihrer unmittelbar bevorstehenden Auslöschung
Gero Jenner

Robert Menasse:
Sehr gut!

Ralf Krämer, deutscher Gewerkschaftssekretär (BSW):

Hallo Herr Jenner,

ich kann Herrn Streeck nach diesem Text nachvollziehen, er ist pure Wiederholung der üblichen Legenden und Propaganda, die im Westen verbreitet werden. Weder geht es Putin um einen „Ausrottungskrieg“

/Glaubenskriege operieren mit der Brandmarkung des Gegners: Hitler machte die Juden zu Untermenschen, Putin macht sie pauschal zu Faschisten. Das sind Feinde, die man vernichten darf und muss/

noch ist Israel das bedauernswerte Opfer, dessen völlig unverhältnismäßige, rücksichtslose und von massiven Kriegsverbrechen gekennzeichnetes Vorgehen irgendwie als „Verteidigung“ zu rechtfertigen wäre. Eher wäre die Bezeichnung „Vernichtungskrieg“ hier, gegen die Bevölkerung im Gaza-Streifen gerechtfertigt.

/Israel ist der einzige Staat der Welt, dem andere Staaten damit drohen, es völlig von der Landkarte zu tilgen. Dem Hitlerregime ist das Vorhaben der Judenvernichtung beinahe gelungen. Ist das für Sie auch nur westliche Propaganda?/

In der Ukraine sind dagegen im Verhältnis zur Dimension des Krieges und der Zahl der militärischen Opfer die zivilen Opfer bemerkenswert wenige,

/Das stimmt, aber wie das Massaker in Butscha beweist, hängt das wohl eher mit einem Mangel an Gelegenheit und der bisher recht erfolgreichen Gegenwehr der Ukrainer zusammen/

viel viel weniger als bei den diversen völkerrechtswidrigen Angriffskriegen der USA in den vergangenen Jahrzehnten.

/Es ist wahr, alle führenden Mächte – die USA, Russland, China und nicht zuletzt Deutschland während seiner dreizehn unseligen Jahre – haben ihre Macht immer wieder missbraucht, aber die USA taten es mit schlechtem Gewissen und haben die Protestbewegungen im eigenen Land geduldet. Putin unterdrückt alle Opposition gnadenlos bis zur physischen Vernichtung seiner Gegner und zeichnet seine Todesschergen anschließend auch noch demonstrativ mit Orden aus/

Also, was Sie das schreiben, ist schlicht Stuß ohne Fundierung in den Fakten

/der Vernichtungswille Irans ist kein Faktum? Wie gut sind Sie informiert? Wenn das Denken abdankt, meldet sich die Empörung. Das nächste Stadium pflegt dann die Beleidigung zu sein/

und Originalquellen, also z.B. den Reden Putins im Original bzw. Übersetzung, nicht dubiosen Interpretationen westlicher Autoren.

/Nur dass ich – vermutlich im Unterschied zu Ihnen – Pjervüi Kanal und andere russische Sender im Originalton höre und deswegen vermutlich etwas weniger anfällig für Lügen bin, nämlich für russische Lügen. Wie Donald Trump –  leider aber mit ungleich größerer Intelligenz – versteht es der derzeitige Herr im Kreml meisterhaft jedem genau das zu sagen, was er gern hören will. Wenn ihm da schon Leute wie Streeck und Wagenknecht auf den Leim gehen, was soll man da von Ihnen erwarten, einem braven deutschen Gewerkschafter?/

Auch zu Israel beginnt die Geschichte nicht mit 7. Oktober, sondern ist seit vielen Jahrzehnten von massiver Unterdrückung und Gewalt gegen die Palästinenser geprägt, die die Hauptopfer sind, nicht etwa Israel. Jeder Mensch ist gleich viel wert, es ist v.a. Israel das das nicht anerkennt und völlig normal findet, dass seit Jahrzehnten regelmäßig die Zahl der Opfer auf palästinensischer oder arabischer Seite mehr als zehn- oder zwanzigfach so hoch ist wie auf israelischer Seite, und jetzt ist es noch schlimmer als sonst schon, es grenzt an Völkermord.

/Was Sie da von sich geben, ist wiederum nur eine Halbwahrheit. Nicht die Muslime sondern die Juden waren während der vergangenen mehr als eintausend Jahre beständig von Pogromen und Auslöschung bedroht, zuletzt vonseiten der Deutschen. Bisher waren sie immer nur Opfer und fühlten sich dadurch doppelt gedemütigt. Dass der Zwergstaat Israel sich jetzt bei jeder Bedrohung mit äußerster Entschlossenheit und Härte zur Wehr setzt – ist das angesichts einer solchen Vergangenheit nicht verständlich? Deutschland hat nach der als demütigend und ungerecht verstandenen Niederlage im Ersten Weltkrieg mit viel größerer Härte zurückgeschlagen! Nur in einem Punkt gebe ich Ihnen recht: All das ist grauenhaft!/

Fast die ganze Welt sieht das realistisch, nur in Deutschland und USA und UK und einigen anderen Ländern unterstützen die Regierenden unverbrüchlich diese verbrecherische Politik.

/Soll das heißen, dass Sie nicht nur auf der Seite Russlands gegen die überfallene Ukraine sondern auch auf der Seite des Iran gegen Israel stehen? Niemand verwundert es, dass die rechtsextreme AfD so empfänglich für diktatorische Einflüsterungen ist, dass aber auch Leute vom linken Lager wie Streeck, Sarah Wagenknecht und auch Sie, Herr Krämer, dieser Position immer näher kommen, das ist schon sehr irritierend. Beiden politischen Extremen ist der ethische Kompass offenbar abhanden gekommen/

Beste Grüße Ralf Krämer

Where does Klaus von Dohnanyi want to lead Germany?

(I sent this essay to some of the authors quoted by Dohnanyi in his book “Nationale Interessen” (National Interests).

The following thoughts are the result of reading two books by a very clever, well-informed and experienced German politician, the former mayor of Hamburg and later Federal Minister of Education and Science Klaus von Dohnanyi, who, despite his immense reading, despite a generally remarkably balanced judgment, nevertheless found a late political home with the “Alliance Sarah Wagenknecht” (BSW) – a party that, being more than just US-critical, treats Putin and his regime with kid gloves. How can a clever man go so astray?

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Wohin will Klaus von Dohnanyi Deutschland führen?

(Ich habe den Aufsatz an einige jener Autoren versandt, die von Dohnanyi in seinem Buch „Nationale Interessen“ zitiert)

Die folgenden Gedanken sind das Ergebnis der Lektüre zweier Bücher eines sehr klugen, hervorragend informierten und erfahrenen deutschen Politikers, des ehemaligen Hamburger Bürgermeisters und späteren Bundesminister für Bildung und Wissenschaft Klaus von Dohnanyi, der trotz immenser Belesenheit, trotz eines fast immer bemerkenswert ausgewogenen Urteils gleichwohl beim Bündnis Sarah Wagenknecht (BSW) eine späte politische Heimat fand – einer Partei, die mehr als nur US-kritisch ist, während sie Putin und sein Regime mit Samthandschuhen behandelt. Wie kann sich ein kluger Mann derart verirren?

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Fiction and Truth – the modern Religion of Science

The epoch beginning in the middle of the twentieth century was described by the Dutch chemist Paul Crutzen as the ‘Anthropocene’ – a historical watershed which, for him, is characterised by the rampant transformation of the environment by humans. But apart from the fact that this term is not generally recognised in the scientific community, it merely focuses on an external characteristic. It would be much more correct to specify the spiritual basis of this transformation. In this case, we would have to speak of our time as the age of science – Scientiacene, if we were to look for a concise term.

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Dichtung und Wahrheit – die Wissenschaftsreligion

Die gerade angebrochene Epoche seit Mitte des Zwanzigsten Jahrhunderts wurde von dem niederländischen Chemiker Paul Crutzen als „Anthropozän“ bezeichnet – eine Geschichtszäsur, die für ihn durch eine ausufernde Umgestaltung der Umwelt durch den Menschen gekennzeichnet sei. Doch abgesehen davon, dass diese Bezeichnung in der Wissenschaft nicht allgemein anerkannt wird, stellt sie nur auf ein äußeres Merkmal ab. Es wäre viel richtiger, das geistige Fundament dieser Revolution zu benennen. In diesem Fall müsste man von unserer Zeit als dem Zeitalter der Wissenschaften sprechen – Scientiazän, wenn man unbedingt einen knappen Begriff dafür sucht.

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Do we need to love Europe?

Most of us will see it as an expression of common human pathology when neighbors are persistently at war with each other. One of them may be unwilling to accept that the shade of the lime tree from the neighbor’s ground falls on his own tomato patch while the other cannot stand the children’s screaming that penetrates his ears all day long. There are countless cases of neighbors feuding with each other for the rest of their lives over the most ridiculous trifles. We shake our heads, but everyone understands the motive. My home is my castle! In our own house, on our own property, we want to act like sovereigns – especially when we are no masters of our personal life in other respects.

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Muss man Europa lieben?

Wir dürfen es als Ausdruck menschlicher Pathologie betrachten, wenn Nachbarn einander hartnäckig bekriegen, zum Beispiel, weil der eine nicht akzeptieren will, dass der Schatten der Linde vom Nachbargrund auf das eigene Tomatenbeet fällt oder der andere das Geschrei der Kinder nicht erträgt, welches ihm von dort den ganzen Tag in die Ohren dringt. Legion sind die Fälle, wo Nachbarn lebenslang wegen der lächerlichsten Kleinigkeiten miteinander in Fehde liegen. Wir schütteln den Kopf, aber jeder begreift das Motiv. Im eigenen Haus, auf dem eigenen Grundstück wollen wir uns als Souveräne gebärden – vor allem dann, wenn wir es im übrigen Leben nicht sind.

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Genocide of Palestinians?

Wars have always been a rejection of all humanity. Waging them in accordance with rules is a contradiction in terms – just as if you were to ask your opponent for permission before shooting him. Wars are about merciless murder, often about the extermination of other people. Only states with far superior military power could afford – and have agreed in the last century by treaty – to reduce the killing of others and the concomitant cruelties, if and insofar as this can be reconciled with a complete victory over the respective enemies. But as soon as such superiority does not exist, only brute force in all its varieties counts among opponents who want to kill each other.

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Genozid an den Palästinensern?

Immer schon waren Kriege eine Absage an alle Humanität. Sie unter Einhaltung von Regeln zu führen, ist ein Widerspruch in sich – geradeso, als würde man den Gegner um Erlaubnis fragen, bevor man ihn erschießt. Bei Kriegen geht es um gnadenloses Morden, oft um die Ausrottung anderer Menschen. Nur Staaten mit weit überlegener militärischer Macht konnten sich leisten – und haben sich im vergangenen Jahrhundert vertraglich darauf geeinigt – das Töten der anderen und die damit einhergehende Grausamkeit zu verringern, wenn und soweit sich das mit einem vollständigen Sieg über den jeweiligen Gegner vereinbaren lässt. Sobald solche Überlegenheit nicht vorhanden ist, zählt unter Gegnern, die sich umbringen wollen, nur noch rohe Gewalt in all ihren Spielarten.

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