Nexus oder Harari, der Visionär

Welch eine Biografie! Die Spannweite dieses großen Denkers erstreckt sich von „Sapiens – a brief History of Mankind“ bis zu „Nexus – A Brief History of Information Networks from the Stone Age to AI“. Damit umfasst dieser Überblick nicht weniger als drei Jahrhunderte europäischer Geistesgeschichte. War das große Anfangswerk „Sapiens“ noch durchdrungen von jener Wissenschaftseuphorie, zumindest von jenem Erstaunen vor ihren demiurgischen Leistungen, wie wir sie schon von Francis Bacon im frühen 17. Jahrhundert kennen, so überrascht uns Nexus mit seiner radikalen Wissenschaftsskepsis.

Dass sich diese Skepsis, nein dieser massive Pessimismus, gerade an der Künstlichen Intelligenz entzündet, überzeugt mich zwar weniger. In ihrer Unvorhersehbarkeit und mit ihren durchaus absehbaren apokalyptischen Folgen geht die nukleare Bedrohung meines Erachtens weit über jene Gefahr hinaus, die Harari der Künstlichen Intelligenz zuschreibt. Künstliche Intelligenz werde der Demokratie das Grab schaufeln, so die Prognose des israelischen Denkers. Das ist sicher vollkommen richtig. Ein nuklearer Schlagabtausch würde aber nicht nur die Demokratie beenden, sondern mit großer Wahrscheinlichkeit auch noch das Leben auf unserem Planeten. Die Rolle, welche KI auch im nuklearen Bereich spielt, wird dabei meist unterschlagen. Da die Vorwarnzeiten bei einem Erstschlag mit immer schnelleren Überschallraketen zusehends kürzer werden, fehlt der Staatsführung jetzt schon die Zeit zwischen einem Fehlalarm und einem tatsächlichen Überfall zu unterscheiden. Deswegen kommt heute schon Künstliche Intelligenz zum Einsatz, welche die Informationen der zu Land und im Satellitengürtel verteilten Sensoren bewertet. Schon jetzt liegt das Schicksal der Menschheit in ihrer Hand. Der Missbrauch der Künstlichen Intelligenz durch Fälschung und Verzerrung der Information ist daher nur eine der zu erwartenden Folgen. An die nukleare Bedrohung hat sich die Welt allerdings seit einem dreiviertel Jahrhundert gewöhnt und verdrängt sie beflissen, während die Künstliche Intelligenz eine faszinierende Neuheit ist, welche alle in ihren Bann zieht und in Bereichen wie der Medizin auch substanzielle Fortschritte mit sich bringt.

Man darf wohl sagen, dass Harari sich in seinem Buch „Sapiens“ noch zum Sprachrohr jenes neuzeitlichen Religionsersatzes gemacht hatte, der heute unter dem Namen „Wissenschaft“ firmiert. Deren prominentester Vertreter ist zweifellos Elon Musk, bei dem die Euphorie an das Gebaren eines nahen Vorfahren gemahnt, nämlich an das des Gorillas, der in Momenten größter Erregung vor Begeisterung auf die eigene Brust eintrommelt. Jüngst haben wir erlebt, wie der Amerikaner diesen Vorfahren nachahmt, indem er vor überschäumendem Enthusiasmus beide Arme in die Höhe wirft und dabei vor unbeherrschbarer Lust rohe Urlaute von sich gibt. Musk ist der Hohepriester der neuen Wissenschaftsreligion. Im Gegensatz zu den Vertretern vergangener Glaubensnarrative verspricht er uns allerdings weder das Paradies auf dieser Erde noch ein jenseitiges Eden – er verspricht uns die Hölle. Da wir, wie er mehrfach betonte, hier unten möglicherweise vor der physischen Auslöschung stehen, will er uns auf den Mars katapultieren. Die jedem ernstzunehmenden Wissenschaftler geläufige Tatsache, dass wir dort weder atmen, noch irgendetwas Essbares ernten können, scheint ihn nicht zu bekümmern. Auch nicht der betrübliche Umstand, dass die Temperatur auf dem Mars nur selten fünf Plusgrade erreicht, meistens aber bei minus hundert liegt. Anders gesagt, aus lauter Verliebtheit in das eigene technische Spielzeug tischt uns dieser falsche Wissenschaftspapst gegen alles bessere Wissen die reinsten Lügen auf.

Von socher Wissenschaftseuphorie – gleichgültig ob falsch oder berechtigt – ist in Nexus so gut wie nichts übriggeblieben. Dennoch ist es nicht Hararis Furcht vor einer allmächtigen Künstlichen Intelligenz, die den Menschen am Ende zu ihrem Sklaven macht und die Demokratie vernichtet, welche sein jüngstes Werk in meinen Augen zu einem Geniestreich macht. Mit geradezu spielerischer Leichtigkeit – nie pedantisch, nie zähflüssig, nie darum bemüht, den Leser durch eigene Gelehrsamkeit zu beeindrucken – gelingt es dem Autor, gerade im ersten Teil seines Buches die schwierigsten Begriffe so mühelos und in so einfacher und klarer Sprache zu erklären, dass man ihn für diese besonders in Deutschland seltene Kunst nur bewundern kann. Unser gesamtes Wissen über Natur und Mensch fasst er in dem übergeordneten Begriff der „Information“ zusammen und unterteilt diese dann in die beiden Hälften „Ordnung“ (order) und „Wahrheit“ (truth). Wahrheit umfasst unser objektives Wissen von der Natur, das so wenig unserer Willkür entspringt wie die Natur selbst. Dagegen repräsentiert Ordnung ein vom Menschen selbst erschaffenes, in der Natur nicht vorgefundenes Wissen. In Hararis eigenen Worten: „Die Informationen, die Menschen über intersubjektive Dinge austauschen, repräsentieren nichts, was bereits vor dem Informationsaustausch existierte; vielmehr schafft der Informationsaustausch diese Dinge.“

Mit ordnunggebender Information sind alle ideologischen, religiösen und sonstigen Narrative gemeint, welche Menschen zu Gemeinschaften mit einem gemeinsamen Weltbild zusammenschweißen. Andere haben statt von „Information“ von „Wissen“ gesprochen und das Wissen von der Natur unserem Wissen um Mensch und Gesellschaft entgegengestellt. Der Gegensatz zwischen den beiden Formen der Information oder des Wissens besteht darin, dass wir in jedem der beiden jeweils ganz andere Fragen stellen. Die Wissenschaften von der Natur unterscheiden nach wahr oder unwahr, weil unsere Aussagen über die Natur entweder richtig sind oder falsch. Unser in Narrativen gespeichertes Wissen von Mensch und Gesellschaft hat es mit moralischen oder ästhetischen Werten zu tun. Es geht um gut versus böse oder moralisch indifferent, bzw. um schön versus hässlich oder ästhetisch neutral.

Ich sagte schon, dieser Gegensatz spielt nicht erst bei Harari eine vorrangige Rolle, wir begegnen ihm in der gesamten Geschichte der Philosophie eine. Um eine stabile soziale Ordnung herzustellen, empfahl Plato in seiner Politeia eine staatserhaltende Lüge, nämlich dass die verschiedenen Klassen je nach ihrem Rang aus verschiedenen Metallen bestehen, angefangen vom Gold für die höchste von ihnen. Die deutsche Geistesgeschichte hebt bis zu Dilthey den Gegensatz zwischen Geistes- und Naturwissenschaften hervor. Harari aber bringt es fertig, die ganze historische Last über Bord zu werfen und auf ganz unbefangene aber hellseherische Art sozusagen von vorn zu beginnen. Den Gegensatz zwischen „Wahrheit“ (truth) und „Ordnung“ (order) stellt er als einen letztlich unaufhebbaren Widerspruch dar.

Wir alle wissen, dass die ordnunggebenden Narrative überall auf der Welt Wahrheit bewusst unterdrückten, wenn diese für sie zur Gefahr zu werden drohte. Das Beispiel Galileis ging in die Geschichte ein, aber er ist nur einer unter den zahllosen Ketzern, deren wahre oder oft auch nur vermeintlichen Erkenntnisse ein bestehendes Narrativ und damit eine bestehende Ordnung zu unterminieren drohten. Die daraus resultierenden Spaltungen der Gemeinschaft wurden als weit gefährlicher angesehen als es der Gewinn sein konnte, den eine wahre Erkenntnis bringt (im Fall Galileis interessierte diese zu seiner Zeit ohnehin nur eine Handvoll von Intellektuellen). Dieselbe Abwägung verbirgt sich unter dem Widerstand der sogenannten Kreationisten gegen die längst als unwiderlegbar bewerteten Erkenntnisse eines Charles Darwin. Die Zertrümmerung der biblischen Autorität und der durch sie geeinten Gemeinschaft vermag in ihren Augen der kleine Gewinn nicht wettzumachen, der aus der Erkenntnis erwächst, dass wir einen gemeinsamen Stammbaum mit den Affen teilen. Das gegenwärtige Putinregime hält selektiv an der objektiven Wahrheit fest, soweit diese der Entwicklung von Waffen mit immer größerer Vernichtungskraft dient. Wie schon zuvor die Sowjetunion verbietet es aber alle wissenschaftliche Erkenntnis, die ihrem Narrativ im Wege steht, in vollem Recht zu sein, wenn es die eigene angeblich weit überlegene moralische Ordnung den Nachbarvölkern mit Gewalt aufzwingt.

Das ist das eine, Information, die der Ordnung dient, unterdrückt objektive Wahrheit, wenn diese der Ordnung gefährlich wird. Aber das Gegenteil gehört ebenso zur evidenten historischen Realität. Überall auf der Welt haben Religionen und Ideologien unter dem Ansturm der Wissenschaften ein Dogma nach dem anderen aufgeben müssen. Im Namen der Wahrheit haben sich Voltaire und andere Aufklärer in seinem Gefolge über die Religionen lustig gemacht. Sie und vollends die großen Fortschrittsapostel des neunzehnten Jahrhunderts – man denke etwa an Ludwig Büchner, den Bruder des großen Georg – ähnelten einem Elon Musk in der naiven Überzeugung, dass im Zeitalter der Wissenschaften irgendwann sämtliche Fragen abschließend beantwortet und alle Rätsel gelöst sein würden – Antworten und Fragen, auf welche die Religionen keine oder nur falsche Antworten zu geben wussten. Heute dagegen wissen wir – und Harari versteht es, den Leser davon zu überzeugen – dass diese Erwartung nicht nur trügerisch ist sondern schlicht falsch. Unsere Werte und die Narrative, womit wir sie begründen, lassen sich nicht aus der Natur ableiten. Sie sind nicht Teil einer objektiven, außerhalb von uns selbst bestehenden und in diesem Sinne wahren Realität, sondern werden von uns selbst in die Welt gesetzt. Selbst wenn wir statistisch nachweisen könnten, dass neunzig Prozent aller Menschen unserer und früherer Generationen lieber mit anderen im Frieden leben als sie zu bekriegen oder zu morden, bleiben doch zehn Prozent übrig, die ihren eigenen Vorteil gerade darin sehen, sich gegen die Mehrheit zu stellen und bereit sind, dafür auch Kampf und Mord auszuüben. Auf solche Weise haben Hitler und Putin Deutschen bzw. Russen das Narrativ von Hass und Vernichtung im Namen eines von ihnen erfundenen, angeblich unanfechtbaren Weltbilds aufgezwungen.

Narrative sind Werkzeuge, um soziale Ordnung herzustellen. Als Menschen sind wir frei und bleiben daher für unsere Mitmenschen unberechenbar, solange wir nicht durch ein gemeinsames Narrativ, sprich durch eine Religion, eine Ideologie oder sonstige geistig-emotionale Inhalte miteinander verbunden sind. An diese ordnunggebenden Inhalte können wir nur glauben, da ihre Ge- und Verbote nicht zu den wissenschaftlich nachweisbaren Wahrheiten gehören. Damit aber ist nichts anderes gesagt, als dass wir – ob wir wollen oder nicht – immer Narrative erfinden werden und sie erfinden müssen, da darauf die Existenz menschlicher Gemeinschaften beruht. In unserer Zeit sind diese Narrative überwiegend von säkularer Art. Sie verbergen sich beispielsweise in den ethischen Grundsätzen einer Verfassung aber auch in denen jedes einzelnen Wirtschaftsbetriebs. Den Menschen, die mit ihnen leben, erscheinen solche Grundsätze als rationale Notwendigkeit, z.B. um einen Betrieb wirtschaftlich erfolgreich zu führen. Aber die Rationalität selbst steht immer im Dienste ethischer Imperative, die als solche rational unbegründbar sind. Nur weil ein moderner Betrieb ein erstrebenswertes Ziel darin sieht, unaufhörlich zu produzieren und wettbewerbsfähig zu sein, gelangt die dabei verlangte Rationalität zur Anwendung. In der Vergangenheit hat es Gesellschaften gegeben und wird sie zweifellos in Zukunft von neuem geben, welche völlig andere Ziele verfolgen und diese daher auch mit einer anderen Rationalität verwirklichen.

Auf dieser Erkenntnis von einer existenziellen Freiheit, die jenseits aller Wahrheit der Naturerkenntnis besteht, beruht für mich der außerordentliche Beitrag von Nexus, dem jüngsten Buch von Juval Noah Harari. Mit unglaublich leichter Hand und der Meisterschaft eines Philosophen, der sich wie ein Kind zum ersten Mal die eigentlich wichtigen Fragen stellt, versetzt er der heutigen Wissenschaftsreligion einen größeren Stoß als David Hume, Immanuel Kant oder Karl Popper. Anders als der Welterfolg „Sapiens“ verlangt „Nexus“ von seinen Lesern allerdings mehr als nur Staunen, es verlangt tätiges Mitdenken, das – ganz wie es die These seines Buches belegt – einige seiner Gewissheiten zu erschüttern vermag. Da Denken weniger beliebt ist als das Staunen, würde es mich wundern, wenn Harari mit diesem philosophischen Meisterwerk so viele Leser erreicht wie mit Sapiens, diesem geflügelten Galopp durch die Weltgeschichte.

+++++++++++++++++++

Ausgewählte Kommentare

Frank Engert schreibt:

Lieber Gero Jenner,

herzlichen Dank für Ihren Aufsatz über Nexus.

Sie schreiben darin:

„Narrative sind die Werkzeuge sozialer Ordnung. Als Menschen sind wir frei und bleiben daher für unsere Mitmenschen unberechenbar, solange wir nicht durch ein gemeinsames Narrativ, sprich durch eine Religion, eine Ideologie oder sonstige geistigemotionale Inhalte miteinander verbunden sind. An diese ordnunggebenden Inhalte können wir nur glauben, da sie nicht zu den wissenschaftlich nachweisbaren Wahrheiten gehören. Damit aber ist nichts anderes gesagt, als dass wir – ob wir wollen oder nicht – immer Narrative erfinden werden und sie erfinden müssen, da darauf die Existenz menschlicher Gemeinschaften beruht.“

Glauben Sie allen Ernstes, dass es ein solches Narrativ an das alle glauben nach der Aufklärung überhaupt noch geben kann [wir werden/müssen es erfinden]? Ich glaube das nicht. Und wenn dem nicht so ist, wäre damit der Zerfall menschlicher Gesellschaften vorprogrammiert? Oder kann eine Gesellschaft, in der die Religion, das Narrativ, zur Privatsache per Verfassung erklärt ist, doch existieren? Ist das das Experiment, was unsere Zivilisation heute gerade unbewusst exerziert?

Sind das Fragen, die Harari in seinem Buch versucht anzugehen?

Mit freundlichem Gruß

Frank Engert

Meine Replik:

Lieber Herr Engert,

im Anschluss an das von Ihnen besprochene Zitat meines Aufsatzes habe ich noch einige Zeilen hinzugefügt, welche die Sache, wie ich hoffe, deutlicher machen. Religionen spielen zumindest in der westlichen Welt nur noch eine untergeordnete Rolle, aber nicht die Ethik, die einigen der größten von ihnen zugrundeliegt. Ethik beherrscht zum Beispiel jeden Betrieb, obwohl das den meisten dort arbeitenden Menschen überhaupt nicht bewusst ist. Sie glauben, dass sie einer Rationalität gehorchen, die sozusagen mit Unausweichlichkeit aus dem Zwang der Verhältnisse selbst resultiert. Aber es ist, wie ich in dem hinzugefügten Absatz sage, keineswegs notwendig, dass wir immer mehr produzieren und konsumieren, dass wir dabei mit anderen in unerbittlichem Wettbewerb stehen usw. Es sind ethische Entscheidungen von der Art ob wir uns und der Gesellschaft nützen oder schaden, die letztlich unser Handeln bestimmen, wenn die sachliche Rationalität, die sich daraus ergibt, dann auch durch die Verhältnisse (den Stand von Technik und Wissenschaft) bedingt wird. Ethische Entscheidungen aber führen zu Narrativen auch dann, wenn sie rein säkular sind.

Diese Überlegungen stehen im Einklang mit den Argumenten von Harari. Dieser würde Ihnen gewiss auch darin beipflichten, dass Religionen die wohl wirksamsten Narrative geschaffen haben, weil es uns leichter fällt, uns einem überirdischen Gott unterzuordnen, den wir uns als unendlich weise vorstellen, als einer irdischen Instanz, von der wir wissen, dass sie genauso fehlbar ist wie wir selbst. Dadurch wird die „intersubjektive Realität“, welche laut Harari den Erfolg unserer Art begründet, sozusagen gegen jeden Einspruch abgeschirmt. Das ist natürlich eine rein technische Sicht auf den Glauben, mit der sich Harari bei den Vertretern der Religion nicht beliebt machen kann.

Er behandelt im zweiten Teil seines Buches aber vor allem die seiner Meinung nach kaum mehr beherrschbaren Gefahren der Künstlichen Intelligenz. Er ist der Meinung, dass diese das Potential besitzt, jedes Narrativ zu zerstören.

Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen!

Dieser höchst umstrittene, auf Paulus zurückgehende Spruch ist einer der bedeutsamsten überhaupt, weil sich sämtliche existierenden oder auch utopischen Sozialsysteme aus ihm herleiten lassen. Alle gehen entweder aus der Übereinstimmung mit ihm hervor oder aus dem Protest gegen ihn.

Zivilisation versus Krieg, Barbarei, äußerste Not

Allerdings ist eine wichtige Einschränkung von vornherein geboten. Keine Gesellschaft, außer solche im Krieg oder in den schlimmsten Zeiten der Barbarei, hat sich jemals streng an die Regel gehalten. Im frühesten Alter sind Menschen noch nicht zur Arbeit fähig. Das biologische Überleben der Gesellschaft wäre gefährdet, würde sie die heranwachsende neue Generation nicht trotzdem erhalten. Im spätesten Alter sind Menschen nicht mehr zur Arbeit fähig. Eine Gesellschaft, welche die Alten nicht trotzdem ernährt, würde als unmenschlich gelten. Oder sie handelt aus äußerster Not, wie dies im alten Japan und wohl auch sonst in vielen Teilen der Welt geschah. Früher einmal trugen in Japan einige Berge die Bezeichnung Sute-Baba-Yama: „Berge, wo die Oma ausgesetzt wird“. Japan war zwar immer ein Land, wo man den Alten besondere Ehrfurcht entgegenbrachte. Aber die äußerste Nahrungsknappheit konnte die Menschen dazu zwingen, zwischen dem Überleben der Neugeborenen und dem der Alten zu wählen. In manchen besonders armen Berggegenden wurden in einem solchen Fall die Alten geopfert.

Aber nicht nur bei den noch nicht und den nicht mehr Arbeitsfähigen pflegten fast alle Gesellschaften eine Ausnahme zu machen. Sie galt ebenso auch für die Kranken und andere temporär oder dauerhaft behinderte Menschen.

Der Spruch bezieht sich daher von vornherein nur auf den arbeitsfähigen Teil einer Gesellschaft. Sollen arbeitsfähige Menschen auch dann essen dürfen, wenn sie nicht arbeiten?

Man kann manchmal hören, dass es erst der unselige „Primat der Arbeit“ gewesen sei, der die sozialen Verirrungen unserer Zeit, zum Beispiel den Kapitalismus, hervorgebracht habe. Ich halte dies für ein oberflächliches, unhaltbares Geschwätz. Denn die diesem Spruch zugrundeliegende Frage ist doch eine andere. Sollen Menschen auch dann ein Anrecht auf die Leistungen ihrer Mitmenschen haben, wenn sie selbst nicht bereit sind, ihrerseits Leistungen für andere zu erbringen? Stellt man die Frage auf diese Weise, dann liegt die Antwort für jeden gerecht Urteilenden auf der Hand. Natürlich nicht! Menschliches Zusammenleben besteht aus wechselseitigem Geben und Nehmen. Wenn einer der Teile diese Verpflichtung zurückweist, braucht sich der andere Teil genauso wenig an sie zu halten.

Anarchismus versus Menschen als soziale Wesen

Eine kleine Zahl von Außenseitern hat es aber wohl immer gegeben, die diese Schlussfolgerung nicht akzeptieren. Anarchisten sind die unerbittlichsten Verteidiger der individuellen Selbstbestimmung. Niemand anders als der souveräne Einzelne selbst soll über das eigene Schicksal herrschen. Natürlich gönnen wir einem solchen Menschen so viel Essen wie jedem anderen. Da er aber keine Einschränkung seiner Selbstbestimmung durch andere akzeptiert, darf er auch keine Leistungen vonseiten der anderen für sich verlangen. Der konsequente Anarchismus kündigt das Prinzip des wechselseitigen Gebens und Nehmens auf. Er steht damit in einem unversöhnlichen Widerspruch zur sozialen Existenz des Menschen. Kein Wunder, dass er niemals real existierende Gesellschaften gebildet hat und nicht mehr als eine eher kuriose ideologische Randerscheinung ist.

Denn das Prinzip vom wechselseitigen Geben und Nehmen scheint universal zu sein. Mir ist kein soziales System bekannt, das diesen Grundsatz in Frage stellt. Nicht universal aber ist, wie man Arbeit versteht, also das jeweilige Geben und Nehmen. Wenn ein Mensch guten Willens ist, sich die größte Mühe gibt, aber aufgrund geistiger oder körperlicher Unterlegenheit wenig oder vielleicht auch gar nichts zum Wohl anderer beiträgt, was soll dann zählen? Der gute Wille oder das Resultat?

Die Antwort auf diese Frage bringt völlig verschiedene Typen sozialer Gemeinschaft hervor. In Familien, religiösen Sekten, sehr kleinen Gemeinschaften war es möglich, dass die Absicht allein völlig ausreichend war, auch wenn bestimmte Menschen keinen im üblichen Sinne nützlichen Beitrag für die Gemeinschaft leisten. Fast jede Familie kennt einen Außenseiter in den eigenen Reihen, der sich den sozialen Spielregeln nicht fügt, aber trotzdem von ihr erhalten wird, weil er nun einmal „dazugehört“. Wir wissen, dass es viele kleinere soziale Verbände gab, wo selbst geistig Verwirrte oder körperlich Missgestaltete in diesem elementaren Sinne dazugehörten. In manchen dieser Gesellschaften glaubte man, dass die Götter gerade aus dem Munde solcher Außenseiter sprechen. Sie wurden von der Gemeinschaft erhalten, obwohl sie keine im üblichen Sinne nützliche Arbeit verrichten.

Real-existierender Sozialismus, Kapitalismus versus klassenlose Gesellschaft, (wie sie die Aufklärung und ich in meinen theoretischen Schriften propagieren)

Der „real-existierende Sozialismus“ der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik hatte diese Betonung des guten Willens als Grundlage für Dazugehörigkeit in eine moderne Massengesellschaft hineingetragen. Es gab dort Millionen von Menschen, die nach dem Maßstab des westlichen Kapitalismus unterbeschäftigt waren, aber trotzdem ein ebenso gutes (oder schlechtes) Leben führten wie der Durchschnitt ihrer Mitbürger. Natürlich kann auch ein sozialistischer Staat ohne Leistung nicht überleben. Aber die Loyalität zum Regime zählte mindestens ebenso viel wie der faktische Beitrag der Bürger zur gesamtgesellschaftlichen Arbeit. Nein, sie zählte in Wahrheit um einiges mehr. Hervorragendes Wissen und Können bewahrte niemanden vor dem Gefängnis, wenn der Betreffende sich offen gegen das Regime aussprach. Andererseits konnte eine berechnende Rechtfertigung und Verklärung des Systems einen Menschen in die höchsten politischen Ränge und Ämter katapultieren – ungeachtet aller sonstigen charakterlichen und sonstigen Mängel. Im real-existierenden Sozialismus konnte man essen, auch wenn man nicht wirklich arbeitete – die Armut wurde sozusagen geteilt (nur die Elite oder „Nomenklatura“ genehmigte sich eine Ausnahme von dieser Regel).

Das kapitalistische System geht von grundsätzlich anderen Voraussetzungen aus. Es zählt ausschließlich das Resultat, nicht der gute Wille. Als amerikanische Unternehmen gegen Ende der achtziger Jahre entdeckten, dass sie ihren Profit bedeutend steigern, wenn sie die Produktion in Schwellenländer (damals vor allem nach China) verlagern, haben sie die „Globalisierung“ entschieden vorangetrieben – ohne Rücksicht auf die eigene Arbeiterschaft. Die vegetierte von da an in den entstehenden Rostgürteln dahin und wurde später zu einem verlässlichen Kern der Trumpwählerschaft, wobei die Demokratin Hilary Clinton das Unglück auch noch durch Spott vermehrte, indem sie die sozialen Verlierer als „Deplorables“ schmähte. Die „Dazugehörigkeit“ dieser überwiegend weißen und früher einmal gut abgesicherten Arbeiterschicht zählte nicht angesichts des kapitalistischen Imperativs, die Effizienz und den Profit mit allen Mitteln zu steigern.

Die größere Effizienz selbst war allerdings ein unleugbares Faktum, dem sich auch europäische Industrien nicht zu entziehen vermochten. Da amerikanische Industriegüter durch die Auslagerung (outsourcing) auf dem Weltmarkt wesentlich konkurrenzfähiger wurden, waren die Europäer gezwungen, sie gleichfalls zu betreiben. In meinem damals (1998) recht erfolgreichen Buch „Die arbeitslose Gesellschaft“ hatte ich vorausgesagt, dass dieser Prozess in Europa erst dann enden würde, wenn seine mächtigen Pioniere, die Amerikaner, sich zu einer Umkehr entschließen. Genau das ist inzwischen geschehen. Die USA und in ihrem Gefolge nun auch Europa betreiben eine zunehmend protektionistische Politik.

Es bleibt ihnen auch gar nichts anderes übrig, wenn sie ihre Industrien wenigsten teilweise erhalten wollen. So wie aufstrebende Staaten protektionistisch sein müssen, weil ihre anfangs weit unterlegenen Unternehmen andernfalls keine Chance gegen weit überlegene Pioniere hätten, so müssen „alte Industrienationen“ sich gleichfalls schützen, da aufstrebende Länder ihre Arbeiterschaft und die Natur nahe am Nulltarif anbieten können.

Ein effizienter Kapitalismus kann nur dann die günstigsten Wirkungen erzielen, wenn ein sozialer Staat ihm die entsprechenden Grenzen setzt. Eine entwickelte und großzügige Arbeitslosenversicherung in Verbindung mit breit angelegten Umschulungsmaßnahmen vermag die Härten der Effizienz wesentlich abzumildern. Das ist allerdings auch unbedingt notwendig, denn der Staat profitiert von einer effizienten Ökonomie auf lange Sicht nur dann, wenn er die Bevölkerung wirksam gegen deren unvermeidliche Härten schützt, also ökonomische Effizienz sozial verträglich macht.

Wie Max Weber zeigte, hat es Kapitalismus zumindest in Ansätzen in allen großen Kulturen gegeben. Doch erst die protestantische Ethik hat dem Geist des Kapitalismus den religiösen Segen erteilt. Das Streben nach Gewinn war keine Sünde, wenn der Mensch damit nicht egoistischen Zielen sondern dem Wohl der Gemeinschaft diente. Effizientes Wirtschaften durfte kein Selbstzweck sondern sollte weiterhin eine Art von Gottesdienst sein (eine „innerweltliche Askese“, wie Weber es nannte). Erst die Aufklärung löste effizientes Wirtschaften ganz aus diesem religiösen Kontext heraus und machte daraus eine rein säkulare Veranstaltung. Die Aufklärer brachten allerdings ein wesentliches Element hinzu: Es ging ihnen darum, alle erblichen Privilegien abzuschaffen, um sie durch nachweisbares Wissen und Können zu ersetzen.

Klassenlose Gesellschaft

Wäre es gelungen, diesen Hauptpunkt ihrer Forderungen zu verwirklichen, dann würden wir heute in einer klassenlosen Gesellschaft leben, denn Wissen und Können lassen sich nicht vererben. Mit jeder Generation gehen sie auf neue Köpfe über, da jede Generation sie von neuem erlernen muss. Dagegen fällt großes Geld den Erben zu, ohne dass dabei irgendwelche Leistungen von ihnen gefordert werden. Großer Reichtum vermag dem, der ihn besitzt, noch viel größere Vorteile zu verschaffen als großes individuelles Wissen und Können. Der heutige Kapitalismus mit seinem von der Aufklärung so heftig aber erfolglos bekämpften Pferdefuß der vererbbaren Privilegien besitzt die unverkennbare Tendenz neuerlich feudalistische Zustände und politische Plutokratien zu schaffen. Im Gegensatz zu Karl Marx, der die klassenlose Gesellschaft dadurch begründen wollte, dass er einen Teil der Bevölkerung gegen den anderen aufhetzte, hat die Aufklärung das Übel richtig erkannt und dagegen auch die richtige Medizin vorgeschlagen.

Israel und Ukraine – Über Fürsten- und Glaubenskriege

Die Genfer Konvention von 1949 hat Kriegsverbrechen definiert, indem sie spezifische Regeln aufstellte, wie Kriege keinesfalls geführt werden dürfen. Die Schonung der Zivilisten steht da an erster Stelle. Diese Übereinkunft war ein großartiger Versuch, der Humanität zum Sieg zu verhelfen. Das Bemühen war allerdings von vornherein zum Scheitern verdammt.

Bis etwa zum Beginn der industriellen Revolution lagen Fürsten permanent miteinander im Krieg. Kriege dienten der Erweiterung ihrer Macht. Man besiegte gegnerische Truppen, um auf diese Weise das eigene Territorium und die eigene Nahrungsbasis zu vergrößern. Es war nicht im Interesse dieser Herren von Gottes Gnaden die Nahrungsbasis selbst zu vernichten, also die achtzig bis fünfundneunzig Prozent der Nahrung erzeugenden Bauernschaft auf dem Lande. Nicht selten hatten die Bauern zwar unter gegnerischen Besatzungen furchtbar zu leiden, von ihren eigenen Herren wurden sie zudem regelmäßig bis aufs Blut ausgequetscht (siehe Huizinga: Herbst des Mittelalters), aber keiner der Kriegsherren sah es auf ihre Vernichtung ab. So blieb die zivile Bevölkerungsmehrheit damals einigermaßen geschützt.

Neben den Kriegen der Fürsten, die sich zwischen Rittern oder Söldnern abspielten und im Hinblick auf die Zahl der Opfer vergleichsweise harmlos waren, gab es aber schon immer, und gibt es bis heute, die Glaubenskriege. Die christlichen Kreuzfahrer sind in Palästina knietief durch Blut gewatet, weil Muslime Heiden waren und damit von Gott ohnehin zur Hölle verdammt. Etwas später fielen die Muslime in Indien ein und haben dort noch ärger als die christlichen Kreuzfahrer gewütet. „Die muslimische Eroberung Indiens,“ so sagt es der große US-amerikanische Historiker Will Durant, „ist wahrscheinlich das blutigste Ereignis der Weltgeschichte. Es ist eine entmutigende Geschichte, weil es die offensichtliche Einsicht vermittelt, dass die Zivilisation stets gefährdet ist.“ Von Sultan Ahmad Shah ist überliefert, dass er jedes Mal drei Tage lang feierte, wenn die Zahl der an einem Tag hingeschlachteten Hindus die Marke von zwanzigtausend übertraf.

Der Krieg gegen die Ukraine war zu Anfang ein klassischer Fürstenkrieg. Ein russischer Diktator, namens Wladimir Putin, der mit Zbigniew Brzeziński, dem Verfasser des Buches „Das Große Schachspiel“ darin einer Meinung ist, dass Russland ohne die Ukraine kein Imperium mehr sei, entschied, dass dieses Land wieder unter die Herrschaft Russlands kommen müsse. Aus der Sicht Putins schien das zunächst auch ziemlich einfach zu sein. Er selbst hatte die Ukrainer zunächst noch „russische Brüder“ genannt, deren gottgegebenes historisches Schicksal darin besteht, sich der russischen Führung zu unterwerfen. Erstaunlich für Russland ebenso wie für den Rest der Welt war es dann aber, dass die Ukraine sich ihrer Einverleibung schon während der ersten Tage des Überfalls mit aller Kraft widersetzte. Das wiederum führte zu einem Sinneswandel des russischen Diktators. Aus dem Fürsten- wurde ein Glaubenskrieg – äußerlich daran erkennbar, dass aus den ukrainischen Brüdern und Schwestern nun Faschisten und Neofaschisten wurden, gegen die ein Ausrottungskrieg geführt werden darf.

Ein Glaubenskrieg ist auch der Kampf, den der Iran und seine Handlanger, Hamas und Hisbollah, gegen Israel führen. Der Iran wird von Israel nicht bedroht, er hat auch keine gemeinsamen Grenzen mit diesem Land. Die üblichen Gründe für einen Krieg sind in diesem Fall nicht vorhanden. Allerdings ist das schiitische Mullah-Regime ein Paria innerhalb der Mehrheit sunnitischer Länder. Indem es den Hass auf Israel schürte und seinen Vasallen Waffen zu dessen Vernichtung verschaffte, erzwang es sich die Anerkennung der muslimischen Welt. Diese Chance schien aber vertan, als Israel mit den meisten seiner muslimischen Nachbarn diplomatische Beziehungen und damit ein normales Verhältnis begründete. Um neuerlich einen Keil zwischen Israel und die islamische Welt zu treiben, hetzte der Iran daher die Hamas zu ihrem blutigen Anschlag vom 7. Oktober auf – die Folge war eine Orgie von hemmungsloser Brutalität. Trotz aller Härte gegen die Muslime im Westjordanland und der Übergriffe der jüdischen Siedler hat das säkulare Israel niemals einen Glaubenskrieg gegen seine muslimischen Nachbarn geführt, sieht man einmal von einer Minderheit rechter Fanatiker und orthodoxer Juden ab.

Warum geht das Land Israel dennoch mit kompromissloser Härte gegen seine Angreifer vor? Warum mussten schon mehr als zehntausend Zivilisten in Gaza sterben?

Der Krieg Israels gegen seine Feinde fällt in eine besondere Kategorie. Er ist weder ein Glaubens- noch ein Fürstenkrieg sondern hier kämpft ein hochmoderner demokratischer Zwergstaat schlicht um sein Überleben. Die Genfer Konvention hat die Bombardierung von Hospitälern, Schulen und anderen zivilen Einrichtungen zu einem Kriegsverbrechen erklärt. Da Israel derartige Ziele in großem Maßstab vernichtet hat, werden zunehmend Rufe laut, Israel wegen Kriegsverbrechen zu verklagen. Die idealistischen Verfasser der Konvention haben nicht vorausgesehen, dass die Bombardierung ziviler Einrichtungen zu einem Überlebensimperativ werden kann.

Denn die Verletzung der Konvention wird dann unumgänglich, wenn der Feind zivile Einrichtungen bewusst dazu benutzt, um Raketenbasen oder eigene Kommandozentralen darin zu verstecken. Wird die eigene Bevölkerung dem feindlichen Militär bewusst als Schutzschild und Geisel preisgegeben, wer ist dann schuld, wenn ein Hospital bombardiert wird – der berechnende Geiselmacher oder der Feind, der die militärische Basis vernichtet, aber damit zugleich auch die Menschen, die dabei als lebender Schutzschild missbraucht worden sind? Wie immer man die Bestimmungen der Genfer Konvention auch drehen und wenden mag, der Missbrauch der eigenen Zivilbevölkerung durch Hamas und Hisbollah ist nicht weniger unmenschlich als die durch den Gegner eben dadurch erzwungene Auslöschung unschuldiger Frauen und Kinder. Es ist zu befürchten, dass dieser Missbrauch von Zivilisten als lebendiger Schutzschild für militärische Einrichtungen künftigen Kriegen zur Norm werden wird.

Fürstenkriege sind in unserer Zeit selten geworden, sieht man von dem neuen Zaren Wladimir Putin ab, der sich weiterhin bemüht, die ehemaligen sowjetischen Vasallenländer, die inzwischen zu selbständigen Staaten wurden, mit einer Vielzahl von Verträgen allmählich wieder unter das russische Joch zu zwingen (weil der Zusammenbruch der Sowjetunion aus seiner Sicht „die größte Katastrophe der zwanzigsten Jahrhunderts“ war). In demokratischen Staaten liegt die Macht nicht länger bei einem Zaren oder Herrscher von Gottes Gnaden sondern bei den gewählten Vertretern des Volks. Der seit der industriellen Revolution aufkommende Nationalismus musste aus dem früheren Krieg der Fürsten daher einen Krieg der Völker machen, der dann die typische Färbung von Glaubenskriegen besitzt. In den Augen ihrer jeweiligen ideologischen Feinde wird gegnerischen Nationen seitdem pauschal ein Brandmal aufgeprägt: Sie sind unwerte Rassen, Faschisten, Kommunisten, Juden oder eine andere Art von Untermenschen.

Warum kommt es überhaupt zu Kriegen? Wären sie nicht grundsätzlich zu vermeiden? Brave deutsche Friedensforscher pflegen dazu eine feste Meinung zu vertreten. Man müsse nur immer im Gespräch miteinander bleiben! Interessant ist es in diesem Zusammenhang, dass die gleiche Botschaft auch aus Peking zu uns kommt. Durch Verhandlungen, sagen uns die Chinesen, ließen sich alle Probleme lösen. Leider ist das der Gipfel der Heuchelei, denn Peking besteht zur gleichen Zeit auf roten Linien, die prinzipiell kein Gegenstand von Verhandlungen sind. Über Tibet, über Xin Jiang, über Taiwan und über die vollständige Souveränität Pekings im südchinesischen Meer – darüber könne es keine Gespräche geben. (1) Die braven deutschen Friedensforscher haben leider einen Punkt außer Acht gelassen, der aber der wichtigste ist, nämlich dass der Beginn eines Krieges regelmäßig darin besteht, dass alles Reden und Verhandeln kategorisch verworfen wird.

Glaubenskriege werden nicht durch Gespräche beendet sondern durch eindeutige Siege oder die Erschöpfung der Gegner. Vorerst ist Putin an Gesprächen nicht interessiert, solange diese irgendwelche Zugeständnisse von seiner Seite erfordern. Stattdessen treibt er den Westen mit der Drohung eines Atomkrieges vor sich her. So wie Hitler in den Beschwichtigungsversuchen der Alliierten nur Schwäche erblickte, die seine Aggressionsbereitschaft zusätzlich steigerten, macht auch Putin sich die Angst seiner Gegner zunutze. Seit einem dreiviertel Jahrhundert hängt das Damoklesschwert des nuklearen Holocaust über dem Globus. Es wird sicher nicht durch Beschwichtigung abgewehrt sondern allein dadurch, dass alle Parteien sich gegenseitig daran erinnern, was mit ihnen geschieht, wenn sie diese furchtbare Errungenschaft unseres scheinbar unaufhaltsamen „Fortschritts“ tatsächlich verwenden. Glücklicherweise wissen die russischen Militärs darüber genauso gut bescheid wie die amerikanischen. Der Krieg gegen die Ukraine wird weder aufgrund von Drohung noch durch Beschwichtigung oder den eindeutigen Sieg einer Seite enden, sondern eher aufgrund von Erschöpfung. Ich wünsche dem tapferen Land und seinem Präsidenten, dass westliche Hilfe am Ende zur Entkräftigung Russlands führt und zu einer Palastrevolution gegen Putin. Das ist jedoch keinesfalls sicher. In Europa bleiben die russischen Drohungen nicht ohne Wirkung, und der potenzielle Präsident Donald Trump hat eine ausgeprägte Schwäche für Diktatoren wie Kim Jong-un und den russischen Zaren, weil er selbst so gern einer wäre.

Und wie wird der Überlebenskrieg Israels enden? Wäre er nicht überhaupt vermeidbar gewesen, hätte Israel sich rechtzeitig zu einer Zweistaatenlösung entschlossen? Und hätte nicht Netanyahu – wie es ein bedeutender Teil der israelischen Bevölkerung längst von ihm fordert – mit der Hamas einen Waffenstillstand schließen, die Geiseln befreien und ein Übergreifen der Kampfhandlungen auf den Libanon, vielleicht sogar auf den Iran, dadurch vermeiden können? Gewiss. Der Friede wäre dann für ein, zwei Jahre gesichert. Aber eben nur für eine kurze Zeit, denn, wie schon gesagt, leitet das blutige Mullah-Regime im Iran sein politisches Ansehen im islamischen Raum wesentlich von seiner Feindschaft gegen Israel ab. Einen vorzeitigen Frieden hätte das Regime dazu genutzt, um Hamas und Hisbollah in aller Stille neuerlich aufzurüsten. Der Staat Israel hätte nur eine Atempause gewonnen, aber die Gefahr für sein Überleben wächst exponentiell, wenn die Gotteskrieger des Iran demnächst eine eigene Atombombe besitzen.

Die unbeugsame Hartnäckigkeit Netanyahus hat sicher auch etwas mit seinem politischen Überleben zu tun, aber ich kann verstehen, dass dieser Mann das weitere Erstarken Irans und seiner fanatisierten Gefolgschaft um jeden Preis zu verhindern sucht. Wenn es dem israelischen Premier gelingt, die atomaren Anlagen des Iran zu vernichten – wozu er allerdings die speziellen Bunkerbrecher der Vereinigten Staaten braucht – dann darf sich Israel Ruhe erhoffen, Ruhe und Frieden zumindest für die kommenden zehn bis fünfzehn Jahre.

Leider werden Kriege nie durch bessere Einsicht beendet oder die gutgemeinten Ratschläge deutscher Friedensforscher, sondern in aller Regel nur durch einen eindeutigen Sieg oder gegenseitige Erschöpfung (siehe Jörn Leonhard: Über Kriege und wie man sie beendet). Der Widerstand der Hamas ist inzwischen so gut wie ausgeschaltet, die Hisbollah wurde mehrfach enthauptet und ist bereits weitgehend kampfunfähig. Es bleibt die Frage, ob es Netanyahu gelingt, auch den eigentlich kriegstreibenden Gegner, den Iran, bis zur Aufgabe zu schwächen. Der zweimalige Raketenüberfall des Iran hat ihm dazu jedenfalls die nötige Rechtfertigung verschafft.

Aber wird Israel dann den Frieden gewinnen? Das ist leider keineswegs ausgemacht. Seine Feinde haben richtig kalkuliert, als sie ihre eigene Bevölkerung opferten, um dann umso größere Empörung auf Israel zu lenken. Das Land hat sich in aller Welt verhasst gemacht. Überall flammt neuerlich der Antisemitismus auf. Juden emigrieren aus den Vereinigten Staaten und ebenso auch aus Europa; sie wandern nach Israel aus, wo sie sich trotz Raketenbeschuss immer noch sicherer fühlen. Kann und wird Israel diesem Hass entgehen?

Dazu müsste es den militärischen Sieg gegen seine Feinde in einen politischen Sieg verwandeln. Das Land müsste dieselbe Medizin anwenden wie die USA nach dem Zweiten Weltkrieg gegenüber den besiegten Deutschen. Die Amerikaner haben ihre ehemaligen Feinde mit äußerster Großzügigkeit behandelt und so in kurzer Zeit wieder Vertrauen aufgebaut. Ein länger andauernder Friede scheint überhaupt nur auf diese Art erreichbar zu sein. Gerade weil das winzige Israel seinen Feinden bisher so stark überlegen ist, würde ein nationalistisches Triumphieren oder gar eine weitere Expansion das Verhältnis zu den Nachbarländern – auch zu den Sunniten – auf Dauer vergiften.

Und eines darf natürlich auch nicht vergessen werden. Nicht nur die Juden, auch die Palästinenser sind in ihrem Überleben bedroht. Der Gazastreifen ist eine Art Freilichtgefängnis, das Westjordanland kein Ort, wo sich die heimische Bevölkerung wohlfühlen kann, seitdem die UNO 1947 die Gründung des Staates Israel beschloss. Wir Deutschen sollten allerdings den Mund dazu halten, denn es war der Holocaust, die Ermordung von sechs Millionen Juden, welche die Staatsgründung in den Augen der Juden wie der Weltöffentlichkeit erzwang. Ein furchtbares Verbrechen setzt so eine unendliche Kette von Maßnahmen in Bewegung, welche ihrerseits großes Unrecht zur Folge haben.

1. Siehe Thomas Gomart: L‘accélération de l’histoire. „Ende August 2023 veröffentlichte das chinesische Ministerium für natürliche Ressourcen die „Nationale Karte Chinas“, welche die Grenzen von Indien, Malaysia, den Philippinen, Vietnam, Taiwan und sogar von Russland verletzt und heftige Proteste auslöste. Auf diesem Dokument ist Taiwan ein integraler Bestandteil der VR China.“

*******************

Vier ausgewählte Reaktionen


em.Prof.Dr.Dr.h.c.mult. Friedrich Schneider:

Ein ausgezeichneter Beitrag – ich gratuliere!
Gruß F.S.

Prof. Dr. Wolfgang Streeck (BSW): Bitte löschen

GJ: Sehr geehrter Herr Streeck,

bei aller Hochachtung, Sie sind leider auch einer von denen, welche nicht kommunizieren wollen, weil Sie sich längst auf eine Doktrin festgelegt haben. Aber vermutlich ist Ihnen der Jenner auch einfach zu dumm, um sich auf ihn einzulassen. Der ideologische Hochmut ist leider im linken Lager noch stärker verbreitet als im rechten.
Sie wären mir übrigens nicht zu dumm für einen Austausch von Gedanken.
Mit bedauernsvollem Gruß angesichts Ihrer unmittelbar bevorstehenden Auslöschung
Gero Jenner

Robert Menasse:
Sehr gut!

Ralf Krämer, deutscher Gewerkschaftssekretär (BSW):

Hallo Herr Jenner,

ich kann Herrn Streeck nach diesem Text nachvollziehen, er ist pure Wiederholung der üblichen Legenden und Propaganda, die im Westen verbreitet werden. Weder geht es Putin um einen „Ausrottungskrieg“

/Glaubenskriege operieren mit der Brandmarkung des Gegners: Hitler machte die Juden zu Untermenschen, Putin macht sie pauschal zu Faschisten. Das sind Feinde, die man vernichten darf und muss/

noch ist Israel das bedauernswerte Opfer, dessen völlig unverhältnismäßige, rücksichtslose und von massiven Kriegsverbrechen gekennzeichnetes Vorgehen irgendwie als „Verteidigung“ zu rechtfertigen wäre. Eher wäre die Bezeichnung „Vernichtungskrieg“ hier, gegen die Bevölkerung im Gaza-Streifen gerechtfertigt.

/Israel ist der einzige Staat der Welt, dem andere Staaten damit drohen, es völlig von der Landkarte zu tilgen. Dem Hitlerregime ist das Vorhaben der Judenvernichtung beinahe gelungen. Ist das für Sie auch nur westliche Propaganda?/

In der Ukraine sind dagegen im Verhältnis zur Dimension des Krieges und der Zahl der militärischen Opfer die zivilen Opfer bemerkenswert wenige,

/Das stimmt, aber wie das Massaker in Butscha beweist, hängt das wohl eher mit einem Mangel an Gelegenheit und der bisher recht erfolgreichen Gegenwehr der Ukrainer zusammen/

viel viel weniger als bei den diversen völkerrechtswidrigen Angriffskriegen der USA in den vergangenen Jahrzehnten.

/Es ist wahr, alle führenden Mächte – die USA, Russland, China und nicht zuletzt Deutschland während seiner dreizehn unseligen Jahre – haben ihre Macht immer wieder missbraucht, aber die USA taten es mit schlechtem Gewissen und haben die Protestbewegungen im eigenen Land geduldet. Putin unterdrückt alle Opposition gnadenlos bis zur physischen Vernichtung seiner Gegner und zeichnet seine Todesschergen anschließend auch noch demonstrativ mit Orden aus/

Also, was Sie das schreiben, ist schlicht Stuß ohne Fundierung in den Fakten

/der Vernichtungswille Irans ist kein Faktum? Wie gut sind Sie informiert? Wenn das Denken abdankt, meldet sich die Empörung. Das nächste Stadium pflegt dann die Beleidigung zu sein/

und Originalquellen, also z.B. den Reden Putins im Original bzw. Übersetzung, nicht dubiosen Interpretationen westlicher Autoren.

/Nur dass ich – vermutlich im Unterschied zu Ihnen – Pjervüi Kanal und andere russische Sender im Originalton höre und deswegen vermutlich etwas weniger anfällig für Lügen bin, nämlich für russische Lügen. Wie Donald Trump –  leider aber mit ungleich größerer Intelligenz – versteht es der derzeitige Herr im Kreml meisterhaft jedem genau das zu sagen, was er gern hören will. Wenn ihm da schon Leute wie Streeck und Wagenknecht auf den Leim gehen, was soll man da von Ihnen erwarten, einem braven deutschen Gewerkschafter?/

Auch zu Israel beginnt die Geschichte nicht mit 7. Oktober, sondern ist seit vielen Jahrzehnten von massiver Unterdrückung und Gewalt gegen die Palästinenser geprägt, die die Hauptopfer sind, nicht etwa Israel. Jeder Mensch ist gleich viel wert, es ist v.a. Israel das das nicht anerkennt und völlig normal findet, dass seit Jahrzehnten regelmäßig die Zahl der Opfer auf palästinensischer oder arabischer Seite mehr als zehn- oder zwanzigfach so hoch ist wie auf israelischer Seite, und jetzt ist es noch schlimmer als sonst schon, es grenzt an Völkermord.

/Was Sie da von sich geben, ist wiederum nur eine Halbwahrheit. Nicht die Muslime sondern die Juden waren während der vergangenen mehr als eintausend Jahre beständig von Pogromen und Auslöschung bedroht, zuletzt vonseiten der Deutschen. Bisher waren sie immer nur Opfer und fühlten sich dadurch doppelt gedemütigt. Dass der Zwergstaat Israel sich jetzt bei jeder Bedrohung mit äußerster Entschlossenheit und Härte zur Wehr setzt – ist das angesichts einer solchen Vergangenheit nicht verständlich? Deutschland hat nach der als demütigend und ungerecht verstandenen Niederlage im Ersten Weltkrieg mit viel größerer Härte zurückgeschlagen! Nur in einem Punkt gebe ich Ihnen recht: All das ist grauenhaft!/

Fast die ganze Welt sieht das realistisch, nur in Deutschland und USA und UK und einigen anderen Ländern unterstützen die Regierenden unverbrüchlich diese verbrecherische Politik.

/Soll das heißen, dass Sie nicht nur auf der Seite Russlands gegen die überfallene Ukraine sondern auch auf der Seite des Iran gegen Israel stehen? Niemand verwundert es, dass die rechtsextreme AfD so empfänglich für diktatorische Einflüsterungen ist, dass aber auch Leute vom linken Lager wie Streeck, Sarah Wagenknecht und auch Sie, Herr Krämer, dieser Position immer näher kommen, das ist schon sehr irritierend. Beiden politischen Extremen ist der ethische Kompass offenbar abhanden gekommen/

Beste Grüße Ralf Krämer

Wohin will Klaus von Dohnanyi Deutschland führen?

(Ich habe den Aufsatz an einige jener Autoren versandt, die von Dohnanyi in seinem Buch „Nationale Interessen“ zitiert)

Die folgenden Gedanken sind das Ergebnis der Lektüre zweier Bücher eines sehr klugen, hervorragend informierten und erfahrenen deutschen Politikers, des ehemaligen Hamburger Bürgermeisters und späteren Bundesminister für Bildung und Wissenschaft Klaus von Dohnanyi, der trotz immenser Belesenheit, trotz eines fast immer bemerkenswert ausgewogenen Urteils gleichwohl beim Bündnis Sarah Wagenknecht (BSW) eine späte politische Heimat fand – einer Partei, die mehr als nur US-kritisch ist, während sie Putin und sein Regime mit Samthandschuhen behandelt. Wie kann sich ein kluger Mann derart verirren?

Wohin will Klaus von Dohnanyi Deutschland führen? weiterlesen

Genozid an den Palästinensern?

Immer schon waren Kriege eine Absage an alle Humanität. Sie unter Einhaltung von Regeln zu führen, ist ein Widerspruch in sich – geradeso, als würde man den Gegner um Erlaubnis fragen, bevor man ihn erschießt. Bei Kriegen geht es um gnadenloses Morden, oft um die Ausrottung anderer Menschen. Nur Staaten mit weit überlegener militärischer Macht konnten sich leisten – und haben sich im vergangenen Jahrhundert vertraglich darauf geeinigt – das Töten der anderen und die damit einhergehende Grausamkeit zu verringern, wenn und soweit sich das mit einem vollständigen Sieg über den jeweiligen Gegner vereinbaren lässt. Sobald solche Überlegenheit nicht vorhanden ist, zählt unter Gegnern, die sich umbringen wollen, nur noch rohe Gewalt in all ihren Spielarten.

Genozid an den Palästinensern? weiterlesen

Sind wir noch zu retten?

Mit einer solchen Frage konfrontiert, werden dem kritischen Leser mehrere Gegenfragen einfallen. Wer sei denn hier mit „wir“ gemeint? Und wovor seien die Gemeinten zu retten? Wer versteige sich überhaupt zu einer solchen Frage? Sind wir noch zu retten? weiterlesen

Die deutschen Sprachverhunzer:Innen

Spätestens seit der Antike weiß der Mensch: er ist ein zoon politikon. Er möchte von Seinesgleichen geschätzt und verstanden werden. Deswegen besteht ein elementares Bedürfnis nach Gleichklang und Resonanz – auf weniger schöne Art könnte man dieses Bestreben auch als Gleichschalterei bezeichnen. Die deutschen Sprachverhunzer:Innen weiterlesen

Der Preis der Freiheit

Es ist noch nicht lange her, da wollten uns die Politik und selbst ein Teil der Wissenschaft davon überzeugen, dass sich Demokratie schon bald über die ganze Welt ausbreiten würde, so als folge die Geschichte damit einer Art von teleologischem Gesetz. Die historische Evidenz hat zwar immer gegen eine solche Auffassung gesprochen, aber die Vernunft und unsere Gefühle für Recht und Unrecht schienen klar dafür zu stimmen. Der Preis der Freiheit weiterlesen

Natürliche versus Künstliche Intelligenz

Seit neuestem wird die Welt von einem bisher unbekannten Fieber geschüttelt, sein Name: Künstliche Intelligenz, KI (oder Artificial Intelligence AI). Angesichts der klugen Antworten, die ein Programm wie ChatGPT innerhalb von Sekunden auf beliebige Fragen erteilt, ist die kollektive Aufregung verständlich. Mancher Auskunftsuchende wähnt, dass da mehr als nur eine überaus intelligente Maschine mit ihm kommuniziert, er bildet sich ein, mit einem mitfühlenden Wesen zu reden. Yuval Noah Harari glaubt sogar, eine apokalyptische Zeit heraufdämmern zu sehen, wo wir alle nur noch Marionetten der künstlichen Intelligenz sein werden.

Lassen wir den trügerischen Eindruck, dass uns KI Gefühle entgegenbringt, zunächst einmal beiseite. Was die Intelligenz betrifft, so ist unser Erstaunen über ihr beinahe grenzenloses Wissen durchaus gerechtfertigt. ChatGPT wie auch jedes andere Programm dieser Art vermag im Prinzip auf das Wissen der ganzen Menschheit zuzugreifen, wie es in schriftlicher Form (aber auch in Bild oder Ton) gespeichert wurde. Es leuchtet ein, dass kein einzelnes Gehirn mehr als nur einen vergleichsweise infinitesimal kleinen Ausschnitt dieses kollektiven Schatzes abrufen kann. Insofern ist künstliche Intelligenz eine Errungenschaft, welche der natürlichen Intelligenz theoretisch gleich auf zweifache Weise nahezu unendlich überlegen und für Letztere auch unerreichbar ist. Erstens dadurch, dass sie sich das Wissen aller lebenden Menschen anzueignen vermag (sofern dieses gespeichert wurde), zweitens dadurch, dass sich dieses Wissen um den Faktor Zeit nahezu beliebig vermehren lässt, nämlich um das Wissen früherer Generationen (sofern es in irgendeiner Form aufbewahrt worden ist).

Damit ist nicht weniger als ein Quantensprung gegenüber der natürlichen Intelligenz vollzogen. Wenn ich ChatGPT eine elementare Frage stelle wie „Warum erfreuen sich Menschen an Blumen?“, dann wertet das Programm einerseits sämtliche zuvor gespeicherten Quellen im Hinblick darauf aus, wo Blumen im Zusammenhang mit Freude genannt worden sind, während es andererseits auch noch auf einen breiten Fächer der Mustererkennung zurückgreift – ganz wie das menschliche Gehirn. Es muss zwischen Frage und Antwort unterscheiden, zwischen relevanten und weniger relevanten Antworten, die es zudem noch nach verschiedenen Aspekten unterteilt: ästhetisch (Blumen als schöne Gegenstände), symbolisch (Blumen als Ausdrucksmittel der Verehrung usw.), kulturell (Blumen als Geschenk), Naturverbundenheit, positive Wirkung auf den Menschen etc. Würde ChatGPT ausschließlich auf Texte anderer als europäischer Kulturen oder gar auf die Überlieferungen früher Stammeskulturen zugreifen, dann ergäben sich wiederum andere Antworten und andere Kategorisierungen. Würden die Systemadministratoren dieses hingegen in erster Linie mit den Äußerungen von Geisteskranken und Verschwörern füttern, erhielte man wiederum ein völlig anderes Bild. Bei Fragen nach der politischen Relevanz von Blumen und Schönheit würden wir neuerlich andere Antworten erhalten, je nachdem ob die künstliche Intelligenz in Russland, China oder Nordkorea oder aber in Deutschland, Südkorea oder den USA programmiert worden ist. Auch die Antworten aus der Mitte des 19. Jahrhunderts oder aus der Zeit Luthers würden eine andere Gewichtung verraten. Die künstliche Intelligenz ist daher genauso wenig „objektiv“ wie die natürliche, da sie von Menschen einer bestimmten Zeit mit Inhalten aus einer bestimmten Zeit programmiert wird. Bei ChatGPT fehlt zudem auf, dass bei vielen Antworten vor rassistischen Auslegungen gewarnt wird. Wer würde nicht sofort erkennen, dass diese Systeme in den USA entwickelt wurden? Die Gewichtung der Antworten verrät uns, wie sehr diese durch den Zeitgeist und die jeweilige kulturelle Orientierung geprägt sind.

Eine Ausnahme bilden nur die Auskünfte über beliebig wiederholbare Ereignisse, wie sie in erster Linie Gegenstand der Naturwissenschaften sind. Hier besteht Objektivität darin, dass wir auf die gleichen – im Experiment gestellten – Fragen die gleichen Antworten erhalten. Darauf ist noch zurückzukommen.

Die künstliche Intelligenz verhält sich keineswegs nur passiv. Anders gesagt, imitiert sie nicht nur, sondern ist ihrerseits produktiv. Zum Beispiel ist sie imstande, neue Verse im Stil von Goethe oder Heine zu produzieren, in denen – sagen wir – Thymian- oder Fantasieblüten vorkommen sollen. Je nach Entwicklungsgrad der künstlichen Intelligenz sind diese Versuche eher plump oder bereits so gelungen, dass selbst Kenner die neuen Verse nicht von den originalen zu unterscheiden vermögen. Das Programm verfährt dabei prinzipiell auf die gleiche Weise wie ein geschulter lebender Nachdichter. Aufgrund seines umfassenden Wissens der gespeicherten Originaltexte weiß ein Nachdichter ziemlich genau, welche Wendungen und Worte vorzugsweise infrage kommen. Jede gelungene Fälschung setzt solches Wissen voraus. Wenn künstliche Intelligenz die Schriften, die Worte, die Bilder oder auch Kompositionen eines lebenden oder toten Individuums nachahmt, wird sie zum perfekten Fälschungsprogramm. Perfekt bedeutet, dass der in Schrift, Wort, Bild oder Komposition Nachgeahmte das betreffende Thema genau so produziert haben könnte. Hier handelt es sich nicht mehr um bloße Imitation, denn der jeweilige Stil wird auf neue Elemente (z.B. Thymianblüten oder neue Themen bezogen). Aus diesesr Fähigkeit des Programms, produktiv zu fälschen, ergeben sich Gefahren, die bei den derzeitigen Diskussionen um künstliche Intelligenz im Brennpunkt stehen.

Wenn künstliche Intelligenz der natürlichen so nahekommt, wenn sie also nicht nur zur Nachahmung sondern zu eigener Produktion fähig ist, läuft diese Feststellung dann nicht zwangsläufig darauf hinaus, dass die natürliche menschliche Intelligenz durch die künstliche auch völlig ersetzt werden kann? Der erste Eindruck im Umgang mit ChatGPT scheint diesen Schluss nahezulegen, zumal viele ihrer Erfinder und Propagandisten eine solche Folgerung ausdrücklich bestätigen.

Und doch wäre sie völlig falsch. Zwar ist es unbestreitbar, dass die künstliche der natürlichen Intelligenz weit überlegen ist, weil der Einzelne niemals so viel Wissen zu speichern vermag wie ein Kollektiv. Das Gegenteil trifft aber genauso zu: die künstliche Intelligenz ist der natürlichen qualitativ hoffnungslos unterlegen – und dieser Unterschied ist genauso unaufhebbar.

Nehmen wir an, dass ChatGPT bald so weit vervollkommnet wird, dass das Programm nicht nur – wie schon jetzt der Fall – zu jedem beliebigen Thema recht plumpe Verse im Stil Goethes oder Schillers zu produzieren vermag, sondern dass diese Verse von den historisch gesicherten schon in naher Zukunft nicht mehr unterscheidbar sein werden. Ist der auf diese Weise erschaffene „Pseudo-Goethe“ dann nicht schlicht und einfach ein zweiter Goethe, der ganz an die Stelle des ersten treten und diesen sozusagen durch unendliche Produktivität nicht nur ersetzen sondern weit überflügeln könnte? Und würde das nicht ebenso für einen Pseudo-Mozart und einen Pseudo-Picasso gelten, wenn künstliche Systeme deren Produkte perfekt nachahmen und vervielfältigen?

An diese Frage schließt sich unmittelbar eine andere und viel weitreichendere an. Können diese künstlichen Produzenten nicht schließlich ganz an die Stelle des Menschen treten und seine natürliche Intelligenz durch eine maschinelle ablösen? Ich habe zuvor darauf hingewiesen, dass unter den Enthusiasten der künstlichen Intelligenz viele genau auf dieser Folgerung bestehen.

Aber auf solche Mutmaßungen gibt es eine eindeutige Entgegnung, und sie ist negativ. Zwar trifft es zu, dass die perfekte künstliche Intelligenz einen Pseudo-Goethe erschaffen könnte, dessen Verse von denen des Meisters nicht zu unterscheiden sind, weil jedes vorhandene Zeichengebilde (sei es Wort, Ton, Bild etc.) sich exakt nachbilden und durch Umordnung der Elemente im selben Stil neu produzieren lässt. Die einzige Unterscheidungsmöglichkeit liegt dann in dem historischen Nachweis, dass Goethe diese Verse zu seinen Lebzeiten nie geschrieben hat. Wenn Videos von Politikern veröffentlicht werden, die von der künstlichen Intelligenz fabriziert worden sind, dann kann der Gegenbeweis gleichfalls nur durch einen historischen Nachweis erfolgen: die betreffenden Politiker haben diese Worte tatsächlich niemals gesprochen. Bei Ereignissen, die aus den Äußerungen und Handlungen von lebenden Individuen bestehen ist ein solcher Nachweis allerdings schwierig und oft unmöglich, weil sich entweder gar keine oder nur eine begrenzte Zahl von Augenzeugen ermitteln lassen.

Auf der symbolischen Ebene von künstlich produzierten Bildern, Tönen und Texten ist eine perfekte Fälschung nur noch durch die Konfrontation mit etwas ganz anderem zu entkräften: durch Konfrontation mit der Wirklichkeit. Gab es zur Zeit x am Ort y wirklich das in Ton, Bild oder Text dargestellte reale Ereignis oder ist es eine Erfindung der künstlichen Intelligenz? Solche Fragen werden in Zukunft sehr schwer zu beantworten sein, denn die Wirklichkeit außerhalb unseres jeweils eigenen Lebens- und Arbeitsraums befindet sich zu weit über neunuendneuzig Prozent jenseits unserer realen Erfahrung. Wir sind daher auf die Re-Präsentation der Wirklichkeit, also auf andere Fotos, Videos etc. angewiesen, auf denen dann etwa gezeigt wird, dass ein bestimmter Politiker zu der genannten Zeit und an dem genannten Ort diese oder jene Worte eben nicht gesprochen oder sich dort überhaupt nicht befand. Es stehen sich also immer nur verschiedene einander möglicherweise widerstreitende Re-Präsentationen des Wirklichen gegenüber, denn das wirkliche Ereignis kennen wir nicht und werden es – da es der Vergangenheit angehört – auch niemals kennen lernen. Diese Tatsache macht es unendlich schwer und oft unmöglich, eine perfekte Fälschung von einer wahren Re-Präsentation des Ereignisses zu unterscheiden. Die künstliche Intelligenz wird damit zu einem Instrument der Produktion von Fakes, d.h. von Abbildern einer Wirklichkeit, die so niemals existierte aber so hätte existieren können.

Fälschungen sind nicht neu, die natürliche Intelligenz war dazu immer schon in der Lage. Die künstliche Intelligenz ahmt daher nur eine Fähigkeit nach, die schon seit Jahrtausenden existiert, nämlich so lange Künstler fiktive Wirklichkeiten erdachten – in Romanen, auf Gemälden etc. Doch in diesen Fällen wussten wir immer, dass es sich um Fiktionen handelt. Genau das ist bei den Fakes der KI nicht länger der Fall. Da wir nicht in der Lage sind, durch direkte Erfahrung einen Bezug zur Wirklichkeit herzustellen und eine falsche Repräsentation der Wirklichkeit als solches zu erkennen, ist eine Entscheidung zwischen wahr und falsch unmöglich. Insofern konfrontiert uns die künstliche Intelligenz mit einer historisch einmaligen Entwicklung.

Damit ist das zerstörerische Potenzial der künstlichen Intelligenz benannt. Es bleibt, wie schon oben gesagt, nur in jenen Bereichen unwirksam, wo wir es mit beliebig wiederholbaren Ereignissen zu tun haben. Wenn eine Hausfrau aus Kenia behauptet, Wasser bei 10 Grad Celsius zum Kochen gebracht zu haben oder ein Schamane darauf besteht, dass die Einnahme von Knoblauch ihm zur Levitation verhelfe, dann lassen sich diese und ähnliche Behauptungen sehr schnell durch das Experiment widerlegen. Jedes einmalige Ereignis lässt sich fälschen, weil wir die Fälschung nicht durch Gegenüberstellung mit der Wirklichkeit zu entlarven vermögen. Wiederholbare Ereignis lassen solche Fälschung nicht zu. Im Bereich der Wissenschaften wird die künstliche Intelligenz daher ihre größten Erfolge feiern und den geringsten Gefahren ausgesetzt sein.

So lässt sich schon jetzt absehen, dass die künstliche Intelligenz das Potenzial aufweist, den Wissenschaften einen gewaltigen Aufschub zu bescheren, während sie zur gleichen Zeit den moralischen Kosmos zerstört, weil sich wahr und falsch im ersten Fall leicht voneinander unterscheiden lassen, während das im zweiten Fall sehr oft unmöglich ist. Schaden und Nutzen der künstlichen Intelligenz gleichen einander allerdings keineswegs aus. Die richtige Lebensführung, also der moralische Kosmos, ist für den Einzelnen wie für ganze Nationen weitaus wichtiger als die richtige Erkenntnis, die letztlich immer im Dienste der ersteren steht. 

Noch einmal gefragt: Kann die künstliche Intelligenz die natürliche ersetzen? Diese Frage wurde bereits verneint, aber wir können unsere Antwort jetzt umfassender begründen. Der künstlichen Intelligenz fehlt der Sockel der Wirklichkeit, durch welche die natürliche Intelligenz überhaupt erst zustandekommt. Dieser Unterschied ist von grundlegender Art.

Wie entsteht natürliche Intelligenz? Sie ist genetisch durch Jahrtausende lange Erfahrung der menschlichen Gattung im Umgang mit der Wirklichkeit entstanden. Aber die genetische Disposition ist nur das Gefäß, dass für die ganz neue Erfahrung eines gerade geborenen Erdenbürgers diesem bereitgestellt wird. Wenn ein Kind in den sprachlichen Kosmos einer bestimmten Zeit und Kultur hineingeboren wird, dann liefern ihm seine Sinnesorgane visuelle, akustische und andere Reize, auf die es seinerseits emotional, d.h. mit Zuwendung oder Abneigung, reagiert. Diesen sinnlichem Geschehen ordnet es die in der jeweiligen Kultur vorhandenen Zeichensprachen zu (Wörter und Sätze, später auch Schrift, Musik etc. zu). Anders gesagt, hüllt die natürliche Intelligenz das von den Sinnesorganen gelieferte Material in das jeweils vorhandene kulturelle Gewand, weitet dieses in der Reaktion auf neue Wirklichkeiten jedoch beständig aus, zerreißt es auch manchmal, wenn es mit der Wirklichkeit nicht mehr übereinzustimmen scheint. Die Dialektik zwischen individueller Wahrnehmung der Wirklichkeit und deren kollektiver Re-Präsentation ist ein ständiger, nie endender Prozess – das herausragende Merkmal der natürlichen Intelligenz.

Dieser Prozess fehlt der künstlichen Intelligenz, weil sie über keine Organe zum Erkennen der Wirklichkeit verfügt. Wenn wir diese Intelligenz danach fragen, warum Blumen den Menschen Freude bereiten, dann mögen uns ihre Antworten noch so intelligent, wissend oder sogar weise erscheinen. Aber diese Intelligenz, dieses Wissen und diese Weisheit beruhen nicht auf eigener Erfahrung. Die KI hat niemals eine Blume wahrgenommen und niemals Freude dabei empfunden. Denn sie hat keine Augen, keine Ohren, kein Tastorgan, keine emotionale Erfahrung. All das bezieht sie immer nur aus zweiter Hand.

Anders gesagt, fehlt der künstlichen die für die natürliche Intelligenz konstituierende Dimension: der unmittelbare Input durch die Wirklichkeit. Das Material, über das sie verfügt, ist immer nur ein Abklatsch des Wirklichen, ihre Re-Präsentation wie sie in Millionen von Texten, Bildern etc. gespeichert ist. Wenn uns ChatGPT überraschend kluge Auskünfte darüber ereilt, warum Blumen dem Menschen so viel bedeuten oder warum es moralisch verwerflich sei, andere Menschen zu verletzen – und wenn sie das überdies noch in Worten tut, die wir selbst nicht überzeugender formulieren könnten – dann sind wir intuitiv verleitet, der Maschine dieselbe, vielleicht sogar eine höher entwickelte Fähigkeit der Wirklichkeitserkenntnis zuzuschreiben als uns selbst. Doch genau hier irren wir. Die Maschine hat nur alle jene Äußerungen Zehntausender anderer Menschen über die Blume gespeichert, die wir persönlich nicht übertreffen können. Denn genau das ist es, was die Maschine uns sagt. Während du selbst beim Anblick eines überwältigend schönen Blumenstraußes vielleicht nur ein ergriffenes Ah! über die Lippen bringst, überrascht sie dich mit dem Vers eines klassischen Dichters, der deine Empfindung weit besser zum Audruck bringst als du selbst es vermagst. Und weil dich diese Überlegenheit begreiflicherweise erschüttert, traust du der Maschine zu, was ihr absolut fehlt: unmittelbare Wirklichkeitserkenntnis und eigenes Wiirklichkeitserleben.

In Wahrheit fühlt, denkt, sieht, hört die Maschine absolut nichts, während ihre Algorithmen unendliche binäre Sequenzen von 000en und 11111en ausspucken, die es jeweils in die Worte und Sätze einer historischen Sprache überträgt. ChatGPT hat sein nahezu unendliches Wissen nicht wie das Kind und jeder lebende Mensch durch den Umgang mit der Wirklichkeit erworben, auf der für den Menschen alle symbolische Repräsentation beruht. Für die künstliche Intelligenz ist der einzige Bezugspunkt diese Re-Präsentation selbst. Anders gesagt, wertet sie gespeicherte binäre Sequenzen von 0en und 1ern aus, um auf entsprechende Fragen (binäre Sequenzen) die durch das Programm vorgesehenen Antworten zu erteilen.

Damit ist die ganz zu Anfang angeschnittene Frage der „Einfühlung“ beantwortet. Die Maschine fühlt absolut nichts, weil ihr der emotionale Sockel der Wirklichkeitserfahrung fehlt. Daraus ergibt sich ein zweites Manko. Unter Auswertung der vorhandenen Quellen kann sie zwar einen Pseudo-Goethe, Pseudo-Schiller, Pseudo-Picasso erschaffen, aber keine zukünftigen großen Dichter, Maler oder Komponisten, die aufgrund einer neuen Wirklichkeitssicht neue Symbolsprachen erschaffen. Die künstliche Intelligenz kann nur Vorhandenes imititeren und neu kombinieren, aber es ist ihr prinzipiell verwehrt, im Ringen mit der Wirklichkeit neue symbolische Welten zu erschaffen, wie dies der Mensch im Laufe seiner geschichtlichen Existenz in einem fort tat und in Zukunft weiterhin tun wird. Diese Limitation der künstlichen Intelligenz scheint in dieser Hinsicht unüberwindbar.*1*

Manche KI-Enthusiasten werden gegen diese Feststellung protestieren. Tatsächlich gibt es in der Robotik zahlreiche Beispiele für die Verwertung von Signalen aus der Wirklichkeit. Nehmen wir ein ganz einfaches Beispiel. Ein eingebauter Temperatursensor sorgt dafür, dass ein „künstlicher Kellner“, der die Aufträge von Gästen entgegennimmt und die Speisen anschließend zu ihnen verteilt, nicht nur optische Reize auswertet, um die richtigen Tische zu bedienen sondern auch noch temperaturempfindlich ist, so dass er einem Ofen ausweichen kann oder Speisen zurückbringt, wenn sie nicht länger warm sind. Im Prinzip könnte man der Maschine auch noch ein Sprachprogramm einbauen, damit der Maschinenkellner Fragen der Gäste vernünftig beantwortet. Seine optischen Sensoren könnten ihm überdies auch Alter und Geschlecht der Gäste richtig abschätzen und seine Antworten danach bis zur scheinbaren „Einfühlung“ in die Sprache der Kinder modifizieren lassen. Diese und viele andere Sensoren zur Wirklichkeitsabbildung sind denkbar und werden heute auch schon verwendet. Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass sie auch nur annähernd die Komplexität der Sinneserfahrung lebender Wesen oder gar von Menschen erreichen. Diese Maschinen mögen technisch noch so vielschichtig sein. Sie sind trotzdem tote Geräte, denn im Unterschied zu wirklichen Lebewesen spüren sie nichts dabei, wenn wir sie dann irgendwann verschrotten. Die Tatsache, dass sprechende Puppen in Altersheimen immer öfter zum Ersatz für lebendige Menschen werden und dass ihnen Fantasie oder Demenz ein eigenes Leben zuschreiben wird, vermag an dieser Tatsache nichts zu ändern.

Die alte Frankensteinfrage ist damit allerdings nicht beantwortet. Wird eine Maschine an irgendeinem Punkt lebendig, wenn man die Wirklichkeitssensoren und Signale stetig vermehrt, um sich sozusagen asymptotisch dem Sockel aus optischen, akustischen, olfaktischen, haptischen und emotionalen Signalen anzunähern, die jeder normale lebende Mensch von Geburt aus sein eigen nennt? Die Komponenten dafür sind jedenfalls schon vorhanden; es spricht nichts dagegen, dass wir sie mit der Zeit beliebig vervollkommen könnten. Wird es auf diese Weise möglich sein, den Menschen sozusagen immer vollkommender nachzubauen, sodass irgendwann auf diesem Wege der Umschlag von einer toten Maschine in ein lebendes Wesen erfolgt? Wird eine solche Maschine dann plötzlich ein Bewusstsein entwickeln?

Angesicht unserer vorausgehenden Definition der natürlichen Intelligenz als die Fähigkeit, über dem Sockel der Wirklichkeitserfahrung deren symbolische Repräsentation zu erbauen, wäre diese Möglichkeit nicht grundsätzlich auszuschließen – dann nämlich, wenn es gelänge, die maschinelle Sensorik der beim Menschen vorhandenen mehr und mehr anzugleichen. Aber diese Überlegung lässt uns sofort erkennen, dass unsere Definition der natürlichen Intelligenz immer noch unzureichend ist. Es gibt lebende Wesen – das gesamte Pflanzenreich gehört dazu – die kein Bewusstsein in der Art des Menschen aufweisen, weil ein solches Bewusstsein keinen biologischen Sinn ergäbe. Ein Baum kann sich den eigenen Standort nicht aussuchen, er braucht daher keine Sensorik, um optimale Standorte zu ermitteln. Die eigenständige Reaktion auf Umweltsignale ist bei Pflanzen auf elementare Vorgänge reduziert, z.B. die Ausrichtung zum Licht. Bewusstsein ergibt einen biologischen Sinn nur für aktiv in ihre Umwelt eingreifende Lebewesen, deren Handlungen sich deshalb auch positiv oder negativ für sie auswirken. Doch selbst unter dieser Voraussetzung sind immer noch unbewusste triebhafte Reaktionen möglich, wenn sie auf Ja-Nein-Alternativen reduziert werden können – wie etwa bei Annäherung an eine Feuerquelle, denn vor zu großer Annäherung an eine solche schrecken wir intuitiv zurück. Da genügt ein einfacher Sensor statt eines Bewusstseins. Erst wenn die Umwelt ein Lebewesen mit Reizen von großer Komplexität konfrontiert, entsteht Bewusstsein als die Fähigkeit, Entscheidungen zwischen immer mehr Möglichkeiten zu treffen. Die Stimuli von Belohnung für richtiges und Bestrafung für falsches Verhalten (Freude und Schmerz) spielen da eine zentrale Rolle. Ohne sie würde es kein Bewusstsein geben, weil es biologisch ein überflüssiger Luxus wäre.

Bewusstsein ist zudem nicht identisch mit Wissen. Selbst den primitivsten Organismen muss ein evolutionär erworbenes Wissen einprogrammiert sein, damit sie ihrer jeweiligen Umwelt optimal angepasst sind. Bewusstsein ist dagegen sehr viel mehr als bloßes Wissen. In ihrer heutigen Form verfügt die künstliche Intelligenz über ein nahezu unbegrenztes Wissen und ist doch nicht mehr als eine tote Maschine. Um über Bewusstsein zu verfügen, müsste die Maschine Schmerz und Freude wie natürliche Wesen empfinden und sie nicht nur – wie jetzt der Fall – auf der symbolischen Ebene nur imitieren. Einen biologischen Sinn würde das aber nur ergeben, wenn die Maschine dem Schmerz aufgrund eigener Entscheidungen ausweichen und die Freude ebenso suchen kann.

Fazit: Die KI-Maschinen erstaunen uns damit, dass sie mit Engels- und Teufelszungen reden, und doch sind sie emotional tot und ohne eigene Wirklichkeiterfahrung – dabei wird es mit größter Wahrscheinlichkeit bleiben.*2* Apokalyptische Voraussagen wie die von Harari, wonach die künstliche Intelligenz den Menschen schon bald beherrschen und unterjochen werde, darf man getrost als Sensationshascherei übergehen. Ihre nachweisbaren Wirkungen sind auch so schon weitreichend genug. Einerseits ist künstliche Intelligenz im moralischen Kosmos das Gegenstück zur Atombombe im physischen: Sie hat das Potenzial, den moralischen Kosmos nachhaltig zu sprengen und zu zerstören – mit allen vorhersehbaren Auswirkungen für Politik und Gesellschaft. Andererseits wird sie der Wissenschaft und der Industrie zweifellos einen gewaltigen Auftrieb geben.

1 Die Sprachwissenschaft leidet besonders unter dieser Einschränkung. Sie stellt mittlerweile zwar – nahezu – perfekte Übersetzungsprogramme her, aber alle Übertragungen von einer Sprache in eine andere ergeben sich als reine Trans-Formationen: die sprachliche Form einer Sprache A wird unter Anwendung entsprechender Algorithmen in die sprachliche Form einer Sprache B übertragen. Dass die natürliche Intelligenz auf völlig andere Weise verfährt (wie oben am Beispiel kindlichen Lernens illustriert), wird bei diesem Verfahren ausgeklammert. Die natürliche Intelligenz übersetzt den Wirklichkeitsinput zunächst in Begriffe (aus dem Kontinuum elektromagnetischer Lichtwellen macht sie beispielsweise einzelne Farben wie rot, gelb usw. – ich spreche von Bedeutung). Das immaterielle Substrat der Bedeutung wird dann in Form (also in Lauten, Gesten oder anderen Zeichen) materialisiert (ich spreche von der „Realisierung der Bedeutung durch die Form“).

Die Idee, das Vorgehen der natürlichen Intelligenz in der Sprachwissenschaft nachzubilden, also den Sockel der Wirklichkeit einzubeziehen, ist an sich nicht neu. Der große dänische Linguist Otto Jespersen sprach bereits von einer „notional grammar“. Steven Pinker stellt ausdrücklich fest, dass allen Sprache eine prelinguistische Bedeutung zugrunde liege, er nennt sie Mentalese und definiert diese als „The hypothetical ‘language of thought’, or representation of concepts and propositions in the brain in which ideas, including the meanings of words and sentences, are couched.“

Das Programm, Sprachen – alle Sprachen – als unterschiedliche formale Realisierungen einer – im Kern generellen – Bedeutungsstruktur aufzufassen und dementsprechend zu analysieren, wurde allerdings bisher nur als Idee entworfen. Ich habe versucht, diese Idee systematisch auszuführen. Siehe The Principles of Language – Towards trans-Chomskyan Linguistics.

Dieses Verfahren bietet keine praktischen Vorteile – die bestehenden Übersetzungsmaschinen sind, wie gesagt, sehr weit fortgeschritten. Es bietet aber die einzige Möglichkeit, um zu verstehen, warum und wie die Vielfalt bestehender und möglicher Sprachen zustandekommt und welchen Gesetzmäßigkeiten sie unterliegt. Das Interesse der von mir begründeten linguistischen Sprachwissenschaft ist theoretischer Natur.

2 Ich sehe keine Möglichkeit, die Entwicklung der künstlichen Intelligenz zu einem lebenden Wesen grundsätzlich auszuschließen – schon jetzt kann die Biogenetik die Bausteine der Evolution zu eigenen Zwecken manipulieren, um künstliche Wesen herzustellen. Würde es uns allerdings gelingen, diese Eingriffe so zu vervollkommnen, dass wir dabei künstliche Wesen erschaffen, die nicht nur über ein nahezu unendliches Wissen verfügen sondern auch noch Erfahrung auswerten und ein Bewusstsein entwickeln, dann wäre es unausbleiblich, dass sie sich als von uns verschieden (und noch dazu weit überlegen) empfinden. Wir hätten Grund, uns vor solchen Wesen noch mehr als vor Unseresgleichen zu fürchten – und wir sind für einander schon gefährlich genug. Durch ihre Fähigkeit zur beliebigen Fälschung aller einmaligen Ereignisse, ist die künstliche Intelligenz jetzt schon eine akute Gefahr. Der Mensch könnte nichts Dümmeres tun, als sich selbst eine Konkurrenz zu verschaffen, die diese Gefahr ins Unermessliche steigert – so wie Mary Shelley und viele Horrorfilme sie ohnehin schon seit langem beschwören.

Technópolis – die Verheißung ewigen Glücks

Die längste Zeit unserer Geschichte glaubten wir Europäer, der Teufel würde uns in diesem Jammertal nur eine erbärmliche Existenz gewähren. Wirkliches Glück, das gab es für den Menschen nur in einem jenseitigen Paradies. Im siebzehnten Jahrhundert kam plötzlich die Wende. Die Aufklärung setzte ein. Sie belehrte uns, wir müssten nur endlich vernünftig werden, dann hindere uns nichts daran, das Paradies schon hienieden zu realisieren.

Technópolis – die Verheißung ewigen Glücks weiterlesen

Was ist ein Jude? Meme gegen Gene

Bekanntlich beschäftigt sich die Anthropologie mit dem Menschen, aber den Menschen als Abstraktum gibt es nicht. Entweder steht er uns als einzigartiges Individuum gegenüber, eindeutig unterscheidbar von allen anderen Menschen, oder er ist Mitglied einer Gruppe, Ethnie, Nation (oder Rasse, wie man einmal sagte), die sich ihrerseits von allen anderen unterscheiden. Und zu alledem kommt noch der Unterschied der Perspektive hinzu, nämlich ob wir die Perspektive der Wissenschaft beziehen oder die des Glaubens.

Was ist ein Jude? Meme gegen Gene weiterlesen

FALTER, SPIEGEL und Nord Stream 2 – wie steht es um die Qualität der Qualitätsmedien?

Bis heute gibt es keine Instanz, die dazu berufen wäre, die Qualität von Qualitätsmedien eindeutig und ein für alle Mal zu definieren. Es existiert kein absoluter Kanon, der uns dafür die Richtlinien liefern könnte. Sehr wohl lassen sich aber Vergleiche unter existierenden Medien anstellen. FALTER, SPIEGEL und Nord Stream 2 – wie steht es um die Qualität der Qualitätsmedien? weiterlesen