TrumpoLitics, MuskaRade – eine Ära der Gesetzlosigkeit beginnt

Nach mehr als einem halben Jahrhundert Frieden zumindest bei uns in der westlichen Welt schrillt in den USA gerade das Startsignal für den Beginn einer neuen Ära der Gesetzlosigkeit im Umgang der Nationen. Den Panama-Kanal, bisher der Besitz eines souveränen Staates, will Donald Trump unter US-amerikanische Verwaltung stellen, d.h. okkupieren. Natürlich nicht ohne Grund. Für ihren Handel zwischen der West- und Ostküste ihres Landes sind die USA existenziell auf den Seeweg angewiesen, da die völlig veraltete und marode Infrastruktur der Schienenwege den Güterhandel nicht zu bewältigen vermag und der Transport auf den Straßen zu teuer ist. 1989 sahen die Vereinigten Staaten ihre Interessen schon einmal gefährdet. Damals sind sie gegen Diktator Noriega entsprechend vorgegangen. Trump ist eiskalter Realist. Er weiß genau, was nach einem solchen Übergriff geschehen wird – außer einem kurzfristigen Aufschrei vor allem aus Südamerika:

Nichts!

Es ist auch nicht das erste Mal, dass der im Weißen Haus demnächst heimische charismatische Cowboy überdies davon spricht, Grönland gegen Bezahlung oder, falls Dänemark sich einem solchen Ansinnen widersetzt, diese größte aller Inseln mit militärischer Gewalt zu erwerben. Grönland gehört wie Dänemark zur Europäischen Union. Es ist zudem Teil der NATO. Das transatlantische Militärbündnis wird allerdings nur gegen einen äußeren Feind aktiv, es ist nicht dazu bestimmt, Übergriffe unter den Mitgliedern selbst zu verhindern. Was wird also geschehen, wenn Donald Trump sich heute oder morgen dazu entschließt, auf Grönland auch ohne Genehmigung Dänemarks weitere Militärbasen zu installieren oder die Insel überhaupt zu annektieren? Natürlich wird die Europäische Union gegen diesen Verstoß gegen das Völkerrecht wütenden Protest anmelden, aber da sie militärisch ohnmächtig ist, wird sie zu keiner effektiven Gegenwehr, geschweige denn zu einer militärischen Abwehr in der Lage sein. Sie kann nicht mit ballistischen Raketen drohen wie Trump, Putin oder jetzt auch schon Xi Jinping. Deshalb weiß der Realist Donald Trump genau, was geschehen wird, nämlich:

Nichts!

Der künftige Präsident der USA darf sich vielmehr freuen. Genau wie Putin nach der hinterhältigen Besetzung der Krim kann er mit großem Beifall zumindest bei jedem zweiten Amerikaner rechnen, wenn er solche Verheißungen erfüllt. Sein mantraartig beschworener Vorsatz, Amerika wieder groß zu machen, hat ihn ja überhaupt erst an die Spitze der Macht katapultiert. Kein Wunder, dass ihn sein gnadenloser Realismus noch zu einer viel großartigeren Vision inspiriert. Deren Verwirklichung könnte ihn als gefeierten Helden in die Annalen der amerikanischen Geschichte einreihen. Kanada als 51. Bundesstaat würde der inzwischen angeschlagenen Weltmacht wieder zu Glanz und Glorie verhelfen. Ähnlich wie das Vereinte Europa ist Kanada eine gewaltige Wirtschaftsmacht, aber ein militärischer Zwerg. Sollte die hochgerüstete Atommacht USA das Nachbarland in einer Blitzaktion besetzen, was wird dann die voraussichtliche Folge sein? Natürlich wird weltweit moralische Empörung aufbranden; eine Handvoll Kanadier werden möglicherweise als Terroristen in den Untergrund gehen, hier und da werden Bomben explodieren. Aber gewiss werden weder Russland noch China deswegen einen Atomkrieg gegen die USA entfesseln, Auch in diesem Fall weiß der Realist Trump daher genau, was geschehen wird, nämlich zunächst einmal:

Nichts!

Eines aber, das Wichtigste für diesen pathologisch ruhmbegierigen Mann, wird mit Sicherheit geschehen. Auch jene, die in dem Manne das sehen, was er tatsächlich ist, nämlich ein Verächter jeglicher Moral und intellektueller Sonderschüler, werden ihn so bejubeln, wie die Massen einst einen Mussolini, einen Stalin und einen Hitler. Denn sein Versprechen hat er wahrgemacht: America is great again. Wenn man auf die genannten Vorgänger blickt und was diese sich selbst und ihrem Land antaten, so drängt sich allerdings die Frage auf: Wie lange wird die durch Unrecht erworbene Größe währen?

Wie konnte es zu dieser neuen Gesetzlosigkeit kommen? Sicher kommt sie nicht ohne Vorbereitung. Während der vergangenen Jahrzehnte hat sich die Welt von Grund auf verändert. Nach der mörderischen Selbstzerfleischung des Zweiten Weltkriegs, als die Überlebenden in Europa der Barbarei gerade entkommen waren, zählten im ganzen Westen wieder die Tugenden, die man schon totgeglaubt hatte: Menschlichkeit im gegenseitigen Umgang, Vertrauen und Ehrlichkeit. Doch seitdem sind ein bis zwei Generationen vergangen. Die Erinnerung an das einstige Grauen ist zu einem Schatten verblasst, die Barbarei erhebt neuerlich ihr Haupt. Inzwischen wissen wir: Dieses Haupt kann die Züge eines Putin ebenso wie die eines Trump annehmen. Die beiden scheinen einander ohnehin sehr gut zu verstehen. Es ist davon auszugehen, dass sie sich demnächst zum zweiten Male begegnen.

Für die USA steht dabei auch sehr viel auf dem Spiel. Nicht nur Trump geht es darum, den Feind Nr. 1, das so beängstigend erfolgreiche China, zurückzudrängen. Der Aufstieg des fernöstlichen Giganten gleicht dem eines Kometen, dessen Bahn sich inzwischen ziemlich exakt voraussagen lässt. Extrapoliert man die bisherige Entwicklung, so wird alles – das Potenzial an Flugzeugträgern, die wirtschaftliche Stärke gemessen am BSP, das atomare Arsenal und die Handelsströme von und nach China – in spätesten zwei, drei Jahrzehnten deutlich über den amerikanischen Werten liegen. Schon jetzt ist es ein offenes Geheimnis, dass die USA beiden Supermächten zusammen, also Russland plus China, militärisch nicht länger gewachsen sind. Abgezeichnet hatte sich diese Entwicklung schon während des Kalten Krieges vor einem halben Jahrhundert. Richard Nixon – in seiner Persönlichkeitsstruktur Donald Trump ziemlich ähnlich – war bereits 1972 zu dem Schluss gelangt, dass es ein Imperativ US-amerikanischer Außenpolitik sein müsse, eine der beiden Supermächte auf die eigene Seite zu ziehen, also entweder Russland oder das damals gerade erst erstarkende China. Mit dem Versprechen, der Vereinigung Festlandchinas mit dem „abtrünnigen“ Taiwan ihre Zustimmung zu erteilen, vorausgesetzt, dass diese Vereinigung auf friedlich demokratischem Weg erfolgt, kam es zu einer zeitweisen Annäherung zwischen den beiden Mächten.

Längst ist dieser politische Honigmond zwischen den USA und der Volksrepublik China einer offenbar unüberwindbaren Polarisierung gewichen. Wir sind Zeugen einer Entwicklung, die im Wesentlichen darin besteht, dass die USA immer mehr Brücken zu China abreißen, vor allem mit Hilfe von Handelshemmnissen wie Zöllen und Sanktionen. Denn China hat sich als ein allzu brillanter Musterschüler des Westens entpuppt. Im Eiltempo von nur drei, vier Jahrzehnten hat sich das fernöstliche Land das gesamte über drei Jahrhunderte akkumulierte wissenschaftlich-technische Knowhow des Westens angeeignet. Inzwischen gibt es nur noch wenige Bereiche, in denen es hinter der Spitzentechnologie der USA hinterherhinkt, stattdessen aber immer mehr, in denen es den Rest der Welt überflügelt. In den USA erzeugt dieser offenbar unaufhaltsame Aufstieg nicht weniger als Panik und eben den politischen Imperativ, einen mächtigen Verbündeten gegen China zu gewinnen. Wäre Europa eine ernstzunehmende Atommacht, wie es die USA und Russland sind – eine Forderung, die der französische Präsident Makron wieder und wieder erhoben hat, ohne von seinen deutschen Kollegen gehört zu werden – dann bliebe einem kalten Realisten wie Trump gar nichts anderes übrig, als die EU ernst zu nehmen. Aber Europa hat seine Chance vertan. Aus der Sicht eines Trump herrscht bei uns eine Art von moralisch kaschierter Borniertheit, weil die Europäer sich allen Ernstes einreden wollen, dass Werte sich selbst verteidigen, also auch ohne die Hilfe von Waffen. Außer den Europäern selbst glaubt das sonst aber niemand, gewiss nicht Putin, Trump oder Xi. Die Europäer selbst haben diesen Glauben aber auch nur geheuchelt. Tatsächlich haben sie die Amerikaner für ihren Schutz zahlen lassen, so haben sie ihre eigenen Industrien auf Kosten Amerikas gefördert – so stellt sich die Situation für Donald Trump da, also keineswegs unrealistisch.

Das zunehmend selbstbewusste China können die USA unmöglich mit der militärisch unbedeutenden Europäischen Union in die Schranken weisen sehr wohl aber im Bunde mit der Atommacht Russland. Doch wie soll das gehen? Welches Angebot müsste Trump in Moskau machen, damit Putin zu einem Flirt mit dem Amerikaner bereit ist und die bisher enge Verbindung mit China kappt? Die Aufhebung der Sanktionen und das Versprechen der Amerikaner, den Ukrainern keine weitere Militärhilfe zu leisten, reicht in den Augen eines Putin für ein solches Opfer gewiss nicht aus. Andererseits hat Wladimir Putin nie ein Hehl daraus gemacht, welche Ziele er langfristig verfolgt. Mit seiner erklärten Bewunderung für Stalin und seiner Klage, dass der Zusammenbruch der Sowjetunion die größte Katastrophe des vergangenen Jahrhunderts sei, hat er seine Haltung deutlich genug bekundet. Stalin stellte einmal die Frage, wie viele Divisionen der Papst besitze? Putin, fragt sich schon seit geraumer Zeit, wie viele Divisionen die EU, ein militärischer Zwerg, gegen Russland mobilisieren könnte, wenn die USA ihr den Schutz versagen? Die Antwort fällt ganz so aus wie auf Stalins Frage. Putin weiß genau, dass Europa ihm wehrlos zu Füßen liegt, würde Amerika aus der NATO austreten oder wenn die USA – um das Gesicht zu wahren- auch bloß von den Europäern verlangen, ihren Wehretat auf fünf Prozent hinaufzuschrauben. Bevor Deutschland gemeinsam mit Frankreich sein Plazet zu einem Europa als eigener Atommacht erteilt, lässt es sich lieber von Russland schlucken.[1] Das weiß der gnadenlose Realist Donald Trump, und deshalb ist davon auszugehen, dass er seinem Kollegen Putin ein Angebot unterbreiten könnte, das dieser dann schlechterdings nicht mehr ablehnen kann.

Bekanntlich hatte Donald Trump schon während seiner ersten Amtszeit als Präsident die Existenzberechtigung der NATO öffentlich angezweifelt. Daran hat sich in der Zwischenzeit offenbar nichts geändert. Im Gegenteil. Vor seinem wohl in nächster Zeit stattfindenden Treffen mit dem russischen Präsidenten zeigt er nun auch für dessen Narrativ Verständnis, wonach die NATO eine existenzielle Bedrohung für Russland sei. Es ist wahr, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion haben die osteuropäischen Staaten, die unter der sowjetischen Knute das Fürchten vor dem russischen Bären lernten, mit aller Kraft um Aufnahme in die NATO gedrängt (so wie jetzt die Ukraine), auch wenn nach dem Mauerfall vonseiten Deutschlands andere mündliche Versprechen gemacht worden waren. Dieses Narrativ unterschlägt aber einen wesentlichen Umstand. Im Gegensatz zur Sowjetunion und der Russischen Föderation unter Putin mit ihrer aggressiven Expansionspolitik hat das nordatlantische Bündnis bis zum heutigen Tag nahezu ausschließlich der Abwehr von Aggressionen gedient. Ihr bisher einziger Sündenfall war 1999 der Einsatz in Jugoslawien.

Erkenntnisse aus der Geschichte dürften einem geschichtsblinden Mann wie Trump ohnehin gleichgültig sein. Wenn es stimmt, dass die USA ihre Weltmachtstellung nur noch mit einem starken Partner an ihrer Seite verteidigen können, dann braucht es wenig Fantasie, den für uns wirklich gefährlichen Deal des künftigen Präsidenten vorauszuahnen. Europa könnte für diesen Mann zur Verhandlungsmasse in einem welthistorischen Deal mit Wladimir Putin werden. Trump wie Putin sind – nicht anders als vor ihnen Hitler und Stalin – sicher zu jedem Verrat bereit, wenn dieser ihnen entscheidende Vorteile verschafft. Schon einmal hat der viel raffiniertere Putin es fertiggebracht, auf Donald Trump so geschickt einzuwirken, dass dieser seinen eigenen Geheimdienst desavouierte. Zum Beispiel könnte Trump seinem russischen Gegenüber unter vier Augen den Vorschlag machen. Wir ziehen uns aus Europa zurück, sparen uns dort die drückenden Verteidigungsausgaben, die uns ohnehin keinen Dank einbringen, und geben Dir freie Hand, wenn du dich im Gegenzug mit uns gegen das für uns alle gefährliche China stellst.

Das wäre die größte denkbare Katastrophe für Europa, aber zweifellos ein Win-Win-Manöver für die USA und genauso für Russland. Und was könnte die Europäische Union, das Opfer eines derartigen Machtmanövers, außer der berechtigten Empörung über einen solchen Verrat an den heiligen Werten des Westens dagegen konkret unternehmen? Angesichts der fatalen militärischen Machtlosigkeit der EU scheint die Antwort keinen Zweifel zuzulassen.

Nichts!

Besinnen wir uns einen Augenblick! Europa, dieser recht kleine westliche Zipfel des gewaltigen eurasischen Kontinents ist das wohl größte Wunder menschlichen Geistes, wenn man sich seinen Reichtum an himmelstürmenden Kathedralen, an alten historischen Stätten, an göttlicher Musik, unsterblicher Dichtung und an den vielen Landschaften vor Augen führt, die der Mensch dort zu Gärten gestaltet hat. Große amerikanische Präsidenten wie Woodrow Wilson, Franklin D. Roosevelt, Jimmy Carter, Bush, der ältere, Clinton und Obama haben die eigene Verwurzelung und die kulturelle Nähe zu Europa noch als Verpflichtung empfunden. Dagegen ist Donald Trump ein trostlos ungebildeter, unwissender, aber charismatischer Barbar, der sich für pompösen Kitsch begeistert, ein Barbar, der wie Putin seine Verehrung für Gott nur erheuchelt, denn in Wahrheit betet er nur einen einzigen Götzen an: die Macht, den Ruhm, die Bewunderung der Massen. Für die schöpferischen Werte und Leistungen des Menschen fehlt ihm ebenso der Sinn wie seinem russischen Kollegen, der gnadenlos eine Stadt nach der anderen aus dem einzigem Grund in Trümmer legt, weil die dortigen Menschen sich seinem Willen widersetzen. Wenn statt der Ukraine dasselbe Schicksal ganz Europa ereilen würde, ist das für Menschen von der Art eines Putin kein Verlust, aber sicher auch nicht für einen Trump, der wäre vielmehr überzeugt, das Disneyland alles in neu noch viel besser macht.

Diese Überzeugung teilt mit ihm wohl auch jener Mann, den Trump sich zu seinem engsten Gefährten wählte, Elon Musk, der moderne Technobarbar. In genialer Ausprägung verkörpert der vielfache Milliardär einen Menschentyp, den es in solcher Zahlenstärke erst seit kurzem gibt, nämlich etwa seit der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Es handelt sich um Menschen, welche für die Schönheiten von Natur und Kultur weitgehend erblindet sind, da ihnen nur noch die künstliche Wirklichkeit der uns allseits umgebenden technischen Gadgets als real erscheint. Diese neue Generation lebt in völliger Gleichgültigkeit gegen Geschichte ausschließlich im Hier und Jetzt. Sie zerfällt auf der einen Seite in die Macher auf höchstem, aber höchst einseitigem intellektuellen Niveau von Wissenschaft und Technik, auf der anderen Seite in deren Sklaven, für welche Handy und Computer unverzichtbare tägliche Drogen sind. Der intellektuelle Star und Avatar des neuen Homo insapiens, Elon Musk, ist derart besessen von dieser selbstgeschaffenen durch und durch künstlichen Welt, dass er uns den kahlen, tödlich kalten und lebensfeindlichen Mars als Ziel der höchsten Erwartungen preist, während er kein Wort darüber verliert, dass er und seinesgleichen unseren herrlichen Globus inzwischen bedenkenlos der Ausbeutung und schleichenden Vernichtung preisgeben.

Im Gegensatz zu der Instinktsicherheit eines Trump im Umgang mit den ihm zujubelnden Massen, gebärdet sich der auf der Politbühne zappelnde und grölende Musk wie ein Clown – man kann sehr wohl genialer Technokrat und zugleich ein kümmerlicher Mensch sein. Und nicht nur das. Elon Musk ist kaum weniger gefährlich als sein Gebieter. X und die anderen weltbeherrschenden Internetplattformen haben es, wie Europa gerade erfahren muss, sehr wohl in ihrer Hand, mit unkontrollierten Fakes und politischer Hetze Staaten von innen her zu unterminieren. Um Trump zu gefallen, hat jetzt auch Meta beschlossen, entsprechende Schutzauflagen der EU künftig zu ignorieren. Musk bringt darüberhinaus auch noch die eigene persönliche Macht ins Spiel. Er greift in die Wahlen in Deutschland ein, indem er sich zum Führsprecher jener macht, welche die Europäische Union abschaffen wollen. Ein wieder in Nationalstaaten zersplittertes Europa wird völlig unfähig sein, sich den Diktaten der Supermächte zu widersetzen. Die armen Irren unter Sarah Wagenknecht auf der extremlinken Seite und Alice Weidel auf der extremrechten wollen jedoch nicht begreifen, dass ein Vereintes Europa von einer halben Milliarde Menschen ein ungleich höheres Gewicht auf die Waage legt als jeder seiner einzelnen Mitgliedstaaten. Der Fehler der Union liegt nicht darin, dass sie zu viel Souveränität von den Einzelstaaten an sich zog, sondern darin, dass sie dies in dem entscheidenden Feld einer gemeinsamen Verteidigung bis heute nur zögernd und unzureichend tat.

Diese im Hinblick auf die künftige Weltpolitik und speziell Europa leider sehr pessimistischen Zeilen mögen manchem als übertrieben erscheinen. Beschwören nicht alle Staaten das Idealbild einer multipolaren Welt von Leben und Lebenlassen? Man höre sich etwa die Reden Putins und seines Gefolges an. Da wird stets der Frieden als letztes und höchstes Ziel besungen, aber natürlich ein Frieden zu den Bedingungen Russlands, den Putin als totale Unterwerfung unter seine Forderungen versteht. Wenn Trump sich Kanada, Grönland und den Panamakanal einverleibt, so geschieht das ebenfalls zum Wohle der ganzen Welt, denn auch Amerika wünscht der Welt nur das Beste. Honni soit qui mal y pense!

Tatsächlich läuten die Ankündigungen Donalds Trumps nicht weniger als eine Ära der Gesetzlosigkeit an. Wenn die USA Länder wie Panama, Grönland oder Kanada annektieren, warum sollte China dann noch zögern, sich Taiwan anzueignen, so wie es das vorher schon mit Tibet und dem Land der Uiguren tat? Die USA haben sich bisher öffentlich verpflichtet, keine gewaltsame Aneignung des Inselstaats zuzulassen. Nun hat derselbe Trump, der mit aller Kraft daran arbeitet, China nicht weiter erstarken zu lassen, mit seinen unbedachten Ankündigungen nicht weniger als die Büchse der Pandora geöffnet. Den Chinesen liefert er einen bequemen Vorwand zu einem weiteren kriegerischen Überfall, und was Putin betrifft, so könnte er diesem freie Hand in Europa lassen. Der alte, aber selbstvergessene Kontinent wäre das größte Opfer dieser neuen Gesetzlosigkeit.

In diesem Zusammenhang sollte man sich einer weiteren Äußerung des unberechenbaren Mannes aus dem Jahre 2016 erinnern. Angeblich hat Trump im Beisein des MSNBC-Moderators Scarborough dreimal gefragt: „Wenn wir Atomwaffen haben, warum setzen wir sie nicht ein?“[2] Damit scheint die Frage, was unter seiner zweiten Präsidentschaft alles geschehen könnte, da diese ihm eine viel größere Handlungsfreiheit gewährt als die erste, hinreichend deutlich beantwortet. So wie schon immer, wenn im gegenseitigen Umgang Menschlichkeit, Vertrauen und Ehrlichkeit abhandenkommen, lautet die Antwort in diesem Fall:

Alles! Es könnte wirklich alles geschehen!

[1] Um nicht missverstanden zu werden. Jeder vollsinnige Mensch muss in einer Welt, die auch jetzt schon ein Pulverfass ist, jede weitere Aufrüstung, vor allem mit atomaren Waffen, für ein Unglück halten. Aber wir leben gegenwärtig in einer Welt, wo es kein richtiges Leben im falschen gibt, denn die Alternative besteht eben darin, dass der ohnmächtige kleine Fisch von dem großen geschluckt wird.

[2] Joe Scarborough, Moderator der MSNBC-Sendung Morning Joe, berichtete im August 2016, dass Trump in einem Gespräch mit einem außenpolitischen Berater dreimal gefragt habe: „Wenn wir Atomwaffen haben, warum können wir sie nicht einsetzen?“

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Kommentar von Fritz Goergen, ehemaliger Bundesgeschäftsführer der FDP und jetzt Mitarbeiter in „Tichys Einblick“.

Lieber Herr Jenner,

zu einem Beitrag wie diesem etwas zu sagen, ist schwer, weil er aus einem rasanten Ablauf von Passagen besteht, denen ich abwechselnd (ganz) zustimmen und (überhaupt) nicht zustimmen kann.

Daher nur kurz…

/Sie schreiben/

„…dass ein Vereintes Europa von einer halben Milliarde Menschen eine ungleich stärkere Macht auf die Waage legt als jeder seiner einzelnen Mitgliedstaaten.“

Wenn wir zwei zusammen auf die Waage steigen, zeigt diese mehr Gewicht an. Wenn wir zwei aber in den entscheidenden Fragen anderer Meinung sind, addiert sich unser politisches Gewicht nicht, sondern subtrahiert sich dann, wenn wir gegenteiliger Meinung sind.

EU-Europa hat kein Gewicht. Das fehlt in Ihrem Text – oder die These, wie das änderbar sein soll….

Herzlich, Fritz Goergen

Lieber Herr Goergen,

vielen Dank für Ihren klugen Kommentar. Im Grunde sind Sie ganz meiner Meinung – wissen das aber noch nicht.

Wir beide sind uns sicher darin einig, dass jeder einzelne Teilstaat der USA, z.B. Kalifornien oder Texas, weniger weltpolitische Macht besitzt als die 50 Staaten der USA zusammen, und dass eine Vergrößerung um Kanada das globale Gewicht der Vereinigten Staaten wesentlich steigern würde. Dass diese Machtdynamik ebenso für den Übergang von europäischen Einzelstaaten zu einem Vereinigten Europa gilt, haben Sie selbst zugegeben: „Wenn wir zwei zusammen auf die Waage steigen, zeigt dieses mehr Gewicht an“.

Aber Sie haben schon recht, wir sollten uns einig sein.

Da stehen wir natürlich sofort vor der Frage, wie führt man solche Einigkeit herbei? Die USA sind in einem langsamen, keineswegs immer demokratischen Prozess zu ihrer heutigen Einheit zusammengewachsen. Wie der Historiker weiß, geschah dies unter beständigem Streit, der sie zwischendurch sogar in den schlimmsten aller Kriege, in den Bürgerkrieg, schlittern ließ. Der Prozess wäre wesentlich schneller verlaufen, wenn ein Diktator diese Vereinigung und damit auch die Vermeidung von Streit gewaltsam herbeigeführt hätte (wie in der Sowjetunion geschehen, fortgeführt unter Putin und im heutigen China).

Sie, lieber Herr Goergen, sind ein Kämpfer für die Demokratie, deswegen muss Ihnen ein langsamer, demokratischer Prozess, selbst begleitet von ständigem Streit, natürlich viel lieber sein als der diktatorische Ukas eines Stalin, Putin oder Xi. Und genau deswegen werden Sie mir beipflichten, dass die EU in den wenigen Jahrzehnten ihres Bestehens gut daran tat, den Weg der USA einzuschlagen – und nicht den Russlands oder Chinas.

Es ist wahr, die EU handelt nicht immer demokratisch – das lässt sich genauso wenig von der zweihundertjährigen Geschichte der USA behaupten – aber wenn die Union damit das von ihnen so entschieden kritisierte Zerren und Streiten abmildern kann, das zum Wesen jeder funktionierenden Demokratie gehört, müsste das eigentlich in ihrem Sinne sein.

Herzlich Gero Jenner

Prof. Dr. Siegfried Wendt (Informatik) schickt mir folgenden Kommentar:

….Wenn ich in den Fernsehnachrichten von dem großen Leid in den derzeitigen Kriegsgebieten erfahre, in der Ukraine und im Gaza-Streifen – viele tausend Tote: nicht nur Soldaten sondern viele Kinder und zivile Erwachsene -, dann frage ich mich, ob nicht durch Verzicht auf Verteidigung der Angegriffenen sehr viel Leid vermieden werden könnte… Wenn ich mächtiger Politiker wäre, würde ich mein Land nicht aufrüsten, sondern ich würde den Bürgern klar machen, weshalb ich es für besser halte, auf Abschreckung zu verzichten…

Meine Antwort:

Bravo, so haben die Ukrainer auch gedacht, als sie 1993 in Budapest auf ihre Atomwaffen verzichteten und ihnen im Gegenzug von Russland die Integrität ihrer Grenzen vertraglich garantiert worden ist. Weil sie gemäß Ihrem Rezept, Herr Wendt, gehandelt haben, müssen sie sich jetzt abschlachten lassen. Bravo.

Prof. Johannes Heinrichs:

Vielen Dank! Glänzend geschriebene, wichtige Einsichten!  Erlaube mir, das an einige, die es nötig haben, weiterzusenden; ok? Wünsche Ihnen ein gutes Jahr 2025!

Johannes Heinrichs

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