Wie eine künftige Weltgesellschaft aussehen müsste, die sich im Frieden mit der Natur befindet, wissen wir dank vieler einschlägiger Forschungen ziemlich genau. Viel weniger gut wissen wir, wie wir uns eine Gesellschaft vorstellen sollen, die sich im Frieden mit sich selbst befindet – darüber streiten Religionen, Philosophen, Sozialrevolutionäre seit mindestens dreitausend Jahren. Nur die wenigsten sind sich allerdings bewusst, dass die Forderungen, die sich aus dem Frieden mit der Natur ergeben, bereits einen so tiefgreifenden und radikalen Einschnitt bedeuten, dass ihre Verwirklichung eben nicht nur unseren Umgang mit der Natur, sondern auch die Gesellschaft selbst – ihre Erwartungen und Ideale – grundlegend verändert. Es lohnt sich deshalb, über den Frieden mit der Natur nachzudenken, einen Frieden, den die Menschheit noch in diesem Jahrhundert, ob sie will oder nicht, einzig um ihres Überlebens willen verwirklichen muss!
Das größte Hindernis auf dem Weg zu einem derartigen Frieden ist zweifellos die Wegwerfgesellschaft. Jeder halbwegs informierte Bürger ist sich inzwischen bewusst, dass diese Wirtschaftsform für den planetarischen Potlatsch verantwortlich ist, der die noch vorhandenen Ressourcen des Globus im wörtlichen Sinne „verjubelt“, da die Mehrheit der produzierten Güter von vornherein dazu bestimmt ist, in kürzester Zeit durch neue ersetzt zu werden. Wie eine grundlegende Reform dieses Systems weltweiter Verschwendung aussehen muss, ist daher längst kein Geheimnis mehr, sondern eine elementare, für jedermann begreifliche Einsicht: Wir dürfen der Natur nur so viel an Stoffen und Energie entnehmen, wie sie uns dauerhaft nachzuliefern vermag. Wiederverwertung, die teilweise schon heute vorgeschriebene neuerliche Nutzung verwendeter Ressourcen, ist ein erster Schritt auf diesem Weg, aber das Ziel einer nachhaltigen Produktion ist dadurch allein keineswegs zu erreichen: Viele der gängigsten Materialien lassen sich entweder kaum wiederverwerten (man denke nur an abgerissene Häuser, Massen an Stahlbeton usw.) oder nur so, dass der Ressourceneinsatz zu ihrer Rückgewinnung den dadurch bewirkten Ressourcengewinn übertrifft.
Das Wegwerfen selbst ist und bleibt daher das eigentliche Problem. Den Frieden mit der Natur werden wir erst dann erreichen, wenn unsere Konsumartikel dauerhaft sind: Nicht allein die mit höchster technischer Raffinesse geplante Alterung (planned obsolescence) ist ein Übel, sondern die schnelle Alterung überhaupt (einschließlich der Reparaturanfälligkeit). Technisch wäre es überhaupt kein Problem, dass unsere Glühlampen ein Jahrhundert, unsere Autos, Computer, Handys wenigstens Jahrzehnte überdauern. Der ökologisch eingestellte Bürger gibt dazu ohnehin seinen Segen. Mit der größten Selbstverständlichkeit votiert er für eine solche Welt der Dauerhaftigkeit, nur ist den wenigsten dabei bewusst, dass sie mit einem derart einfachen, geradezu schlichten Eingriff – lasst uns die Intelligenz der Ingenieure für Langlebigkeit statt für geplante Alterung einsetzen! – nicht weniger als eine Revolution einleiten, denn mit dieser ebenso notwendigen wie auf den ersten Blick harmlosen Wende heben wir zugleich Wachstum, Innovation, Investition und letztlich den über zweihundert Jahre gewachsenen sogenannten Kapitalismus (mitsamt seinen neoliberalen Wucherungen) aus den Angeln.
Angenommen, wir würden von einem Tag auf den anderen die Langlebigkeit sämtlicher Industriegüter um den Faktor zehn erhöhen, so würde sich der Absatz der betreffenden Gütermenge – berechnet auf einen Zeitraum von, sagen wir, zwanzig Jahren – um den gleichen Faktor verringern. Ein landesweites Firmensterben wäre die Folge, in Deutschland allein würden Hunderttausende ihre Arbeit verlieren. Das BIP, also die Summe aller Einkommen bzw. Produkte, würde substantiell sinken, die Wirtschaft im freien Fall schrumpfen: Das wäre das Gegenteil des immer noch als Allheilmittel beschworenen Wachstums.
Allerdings hätte dieser steile Einbruch des BIP – im theoretischen Idealfall! – keine Auswirkungen auf unseren realen Lebensstandard. Da die Bevölkerung innerhalb desselben Zeitraums mit einem Zehntel der Produkte ihr Auslangen findet, würde es keinen Schaden anrichten, wenn die Einkommen um einen vergleichbaren Faktor sinken. In einem Land mit verzehnfachter Lebensdauer der Produkte und einem entsprechend niedrigeren Gesamteinkommen würde also niemand ärmer sein, da er nur statt ein und dasselbe Produkt (unverändert oder in leichter Variation) zehn mal nacheinander zu kaufen, jetzt mit einem einzigen langlebigen Gut sein Auskommen findet. Der materielle Lebensstandard hätte keine Einbuße erlitten, der Natur aber hätten wir mit dieser einfachen Korrektur an unserem Wirtschaftssystem einen gewaltigen, wir dürfen sogar behaupten, einen lebensrettenden Gefallen getan, denn im Vergleich zu vorher verlangen wir ihr nur noch den zehnten Teil der Ressourcen ab. Wir würden so schonend wirtschaften können, wie es traditionelle Kulturen in der Vergangenheit erstrebten und zum Teil auch verwirklicht haben. Ihre großen Pyramiden und Tempel überdauerten Jahrhunderte, einige sogar mehrere Jahrtausende. Viele von ihnen lebten im Frieden mit der Natur – ohne inneren Aufruhr und äußere Kriege hätten sie weitere Jahrtausende überdauert.
Aufgrund unseres heute unvergleichlich größeren technischen Wissens und Könnens wäre es uns vermutlich ein Leichtes, den Faktor zehn noch wesentlich zu erhöhen, also einen vergleichsweise sehr hohen Lebensstandard in Einklang mit einem nachhaltig die Natur schonenden Umgang zu bringen.
Reine Theorie werden Sie sagen. Allerdings! Wie jeder weiß, befindet sich kein einziger Staat auf diesem Weg der Ressourcenschonung, und das hat genau damit zu tun, dass dieser scheinbar harmlose Eingriff in Wirklichkeit das ganze bisherige Wirtschaftssystem nicht nur erschüttern, sondern es mit einem Schlag beseitigen würde. Denn Traum und Droge dieses Systems ist nichts anderes als die permanente Innovation – und diese verlangt den beständigen Güterverschleiß. Neue Handys, Automodelle, Computer etc. zu planen, herzustellen und auf den Markt zu werfen, macht nur dann einen Sinn, wenn die Menschen bereit sind, alte Modelle augenblicklich und fortwährend zu ersetzen und zu entsorgen. Millionen von Forschern, Ingenieuren, Managern, Angestellten und Arbeitern werden nur deshalb und nur solange gebraucht, wie das Karussell der Neuerungen sich in rasanter und sogar noch ständig beschleunigter Bewegung befindet. Die bestehende Geldaristokratie der Reichen und Superreichen aller industrialisierten Länder kann ihre Aktiva nur solange vermehren, wie der forcierte Ressourcenverbrauch konstitutiv für unser Wirtschaften ist. Dem Kapitalismus – in meiner Definition die rein parasitäre Vermehrung von Eigentum mit Hilfe von fremder Arbeit*1* – würde man augenblicklich die Basis entziehen, wenn in einer weitgehend statischen Wirtschaft Innovationen und die dazu notwendigen Investitionen nicht länger benötigt werden.
Von der Seite der Investoren ist also scharfer Widerstand zu erwarten, doch wäre es falsch, „denen da oben“ allein die Schuld dafür zuzuweisen, dass die Wende zur Dauerhaftigkeit so schwer zu verwirklichen ist. Keinesfalls sind es nur die „Kapitalisten“, die sich ihr widersetzen, der Widerstand geht genauso vom Allerweltskonsumenten aus, sei es bei uns oder in den Entwicklungsländern. Überall ist der durchschnittliche Verbraucher längst süchtig nach den letzten Produkten von Apple, Microsoft, Samsung, BMW usw. Was sollte der Massenmensch – fern von der Natur in Metropolen auf engstem Raum eingepfercht – denn noch an Lebenssinn finden, würde man ihm die neuesten Konsumwunder vorenthalten? Ein Panther oder Rhinozeros mag viel komplexer als der raffinierteste künstliche Rechner sein – und das gilt für die ganze über Jahrmillionen gewachsene Natur, vergleicht man sie mit den Erzeugnissen menschlichen Geistes. Aber die Natur spielt dort, wo die Mehrheit der Menschen heute die eigene Existenz verbringt, keine Rolle mehr – der Reichtum ihrer Arten in Fauna und Flora könnte verschwinden (und verschwindet ja tatsächlich in immer schnellerem Tempo), ohne dass es irgendjemand bemerkt, denn die jungen Menschen der entwickelten Staaten verbringen den größten Teil ihrer Zeit inzwischen mit Handys und vor Computern, den technischen Attrappen unserer Moderne. Das ist ihr Zuhause und ihre Welt, und diese Welt ist für sie nur deshalb so faszinierend, weil sie dabei voller Hingabe um das goldene Kalb des Neuen und Neuesten tanzen.
Die sich daraus ergebende Schizophrenie – man könnte wohl auch von Dummheit sprechen – scheint kaum jemandem aufzufallen: Nahezu hundert Prozent der Bevölkerung würden eine Wende zur oben beschriebenen Dauerhaftigkeit der Produkte ganz sicher spontan bejahen, aber dieselben Bürger halten es zugleich für völlig selbstverständlich, wenn nicht sogar für ihr Menschenrecht, sich Jahr um Jahr die neuesten Produkte anzuschaffen. Sie sehen nicht, dass sich das eine nicht mit dem anderen verträgt, dass sie selbst durch ihr Verhalten das System zementieren. Der Rausch der Innovationen, eigentlicher Impetus der Moderne seit zweihundert Jahren, erzwingt den galoppierenden Naturverschleiß unserer Wegwerfgesellschaft und begünstigt ein Wirtschaftssystem, dessen physische und soziale Kosten uns immer stärker belasten.
Leider ist diese Schizophrenie nicht der einzige Grund für das Fortbestehen der Wegwerfmentalität. Selbst wenn es den Idealisten in irgendeinem oder in mehreren Ländern gelänge, sich von dieser zerstörerischen Faszination zu befreien, wäre ein solches Experiment mit Sicherheit sehr schnell zum Scheitern verdammt. Es genügt, dass irgendwo auf der Welt ein Staat die Wende nicht mitvollzieht und weiterhin den forcierten Güterverschleiß betreibt, um alle anderen das Fürchten zu lehren. Ihnen gegenüber würde er sich nämlich in kürzester Zeit einen so gewaltigen militärisch-zivilen Vorsprung verschaffen, dass diese das eben begonnene Experiment aus purer Angst schleunigst wieder abbrechen müssten. (Aus demselben Grund schrecken Staaten ja auch davor zurück, ihre Militärexporte zu drosseln, selbst wenn sie von den Instrumenten des Todes nichts wissen wollen. Sie sind sich bewusst, dass sie gegenüber anderen Staaten ins Hintertreffen gelangen, wenn der Export einbricht und deswegen weniger Mittel als bei den Gegnern für die Forschungen auf diesem Gebiet zur Verfügung stehen.)
Der Grund für unser Versagen, das offensichtlich Sinnvolle und Notwendige zu tun, liegt daher nicht allein in unserer Hingabe an den Götzen des Neuen, er liegt noch mehr in den äußeren Zwängen, denen uns die Globalisierung im technischen Zeitalter unterwirft. Der einzelne Staat – jeder Staat – ist längst nicht mehr Herr im eigenen Haus, seit dem zwanzigsten Jahrhundert kann es nur noch die Menschheit als ganze sein, und zwar in einer politisch geeinten Welt, weil erst in diesem Augenblick das Handeln des (gegenüber Mensch und Natur) jeweils Rücksichtslosesten den anderen nicht länger das eigene Handeln aufzwingt. Wenn diese Feststellung richtig ist, dann ist auf eine echte Wende zu einem dauerhaften Frieden mit Mensch und Natur erst dann zu hoffen, wenn sich die Einzelstaaten nicht länger – wie es Konrad Lorenz ausdrückte – gegenseitig zu Tode konkurrenzieren*2*.
1 Zu meiner Definition des Kapitalismus vgl. Das ökonomische Manifest, Monsenstein und Vannerdat, 2015.
2 Hierzu vgl. Der kommende Weltstaat