Das Kapital
„Die Unternehmen schaffen das Geld, das dann in die Taschen der Kapitalgeber fließt.“ Eine solche Behauptung ist unsinnig, denn natürlich verteilt es sich auf sämtliche Beteiligten: also auf Arbeiter, Angestellte und Management – unter anderem auch auf den Staat, der damit ein in Deutschland immer noch großzügiges Sozialsystem finanziert. Andererseits ist die Feststellung durchaus richtig, dass es den Shareholdern seit den 90er Jahren gelungen ist, sich selbst einen immer größeren Anteil am volkswirtschaftlichen Kuchen zu sichern. Mit der Drohung, sich einen Standort zu wählen, wo Löhne, Sozialausgaben, Umweltauflagen und Arbeitsrechte geringer und Subventionen höher sind, haben sie durchgesetzt, dass der Anteil der abhängig Beschäftigten sukzessive geschmälert wurde. Umgekehrt wurde der Einkommensanteil des Managements, sofern es die Vorgaben der Aktionäre gehorsam exekutierte, zunehmend üppiger. Wachsende Ungleichheit wurde dadurch nicht nur in Deutschland, sondern in allen frühen Industrienationen gefördert und das soziale Klima vergiftet. Es gehört zu den unverzeihlichen Sünden der vorherrschenden neoklassischen Wirtschaftstheorie, dass sie die zunehmende Ungleichverteilung schlicht ignorierte oder sie geradezu leugnete (etwa mit dem Verweis auf die unter Anwendung des Gini-Koeffizienten gewonnenen Resultate). Sie wurde aus ihrer Wissenschaft und ihrem Weltbild ausgeklammert, nur um den Verdacht gar nicht erst aufkommen lassen, man würde einem Thema Bedeutung beimessen, das bei Marx, diesem erklärten Gegner der bürgerlichen Gesellschaft, einmal die erste Stelle einnahm.
Das ist bekannt. Nicht bekannt oder einfach totgeschwiegen wird aber die Tatsache, dass die Konzentration der Vermögen in immer weniger Händen – die Hauptursache für soziale Unruhen bis hin zum Zerfall einer Gesellschaft – nicht erst mit dem Tanz um das goldene Kalb des Shareholdervalues begann. Der neuralgische Punkt der Kreation von Reichtum liegt an anderer Stelle, nämlich dort, wo sozial aktives Kapital aufgrund einer Umwidmung, die jedem Eigentümer mühelos möglich ist, zu einem sozial schädlichen wird. Diese Umwidmung ist ein alltäglicher Vorgang.
Betrachten wir zunächst das sozial aktive Kapital, die Grundlage für den Reichtum unserer und jeder anderen modernen Gesellschaft. Da baut ein Mensch mit Ideen einen Betrieb auf, stellt Mitarbeiter ein, erfindet neue Produkte und Verfahren. Ihrer Realisierung und Vervollkommnung widmet er – zusammen mit seinen Mitarbeitern – nicht selten sein ganzes Leben. In einer klassischen Studie hatte Max Weber schon vor einem Jahrhundert gezeigt, dass das Bedürfnis, sich in der eigenen Arbeit zu bewähren, am Ursprung des Kapitalismus liegt. Viele Unternehmer hat es zu „innerweltlichen Asketen“ gemacht, die ihr Talent und ihr Können durchaus nicht für den pekuniären Verdienst, sondern für die Sache einsetzten: Sie lebten für ihre Ideen und Projekte. Auch wenn das religiöse Moment aus der modernen Industriegesellschaft so gut wie verschwunden ist, existiert diese Hingabe an die Arbeit (und nicht selten auch diese Lust an der Arbeit) auch heute. Dem Arbeitsethos seiner Unternehmer und der darin beschäftigten Menschen verdankt Deutschland seine nach wie vor hervorragende Stellung als Industrienation.
Doch diese Sicht verstellt ein wichtiges Faktum. Das staatliche Handeln in seiner gegenwärtigen Form ist eindeutig gegen dieses Ethos gerichtet. Aufgrund eines Steuersystems, das im Laufe des vergangenen Jahrhunderts immer mehr ausgebaut wurde, werden Talent und Können nicht gefördert, sondern bestraft. Unsinnigerweise sind es gerade die arbeitenden Menschen – Unternehmer und Beschäftigte -, die der Staat erbarmungslos schröpft: Mit einer Vielzahl von Steuern: Lohnsteuer, Körperschaftssteuer, Gewerbesteuer, Mehrwertsteuer (Bemessungsgrundlage Umsatz = Leistung des Unternehmens), ist das Unternehmen zur Haupteinnahmequelle für den Staat geworden.
Welch eklatanter Widerspruch! Einerseits sprechen Politik und Wirtschaftswissenschaft von der Leistungsgesellschaft, andererseits bestrafen sie die Leistung mit einer Vielzahl von Lasten. Denn die Leistungsträger eines Unternehmens, also der Unternehmer selbst und seine Mitarbeiter, verwalten sozial aktives Kapital. Ohne sie gibt es in einem modernen Staat wie Deutschland keinen Reichtum und kein Sozialsystem. Alles was ihre Tätigkeit einengt oder dämpft, ist daher ein Übel, alle Maßnahmen, die sie fördern, stellen einen Beitrag zum Gemeinwohl dar.
Doch gilt das, wohlgemerkt, eben nur und ausschließlich für Kapital, sofern es sozial aktiv ist. In dem Augenblick, wo ein Unternehmer sich entschließt, sein Unternehmen zu verkaufen – und das geschieht regelmäßig, weil er damit ein verbrieftes Recht ausübt – gibt er seine Rolle als aktiver Leistungsträger auf. Das sozial aktive wird zu einem sozial schädlichen Kapital: Der Unternehmer verwandelt sich in einen Rentier, der nun davon leben kann, dass andere für ihn arbeiten. Man kann auch sagen, dass das eigenaktivierte nun zu einem fremdaktivierten Kapital wird. Irgendwo auf der Welt wird es mit maximaler Rendite angelegt und gehorcht von da an einem Automatismus der Selbstvermehrung.
An dieser Stelle kommt es zu einem wirklichen und weitreichenden Bruch. Erfüllte das durch den Betrieb repräsentierte Kapital bis dahin eine herausragende soziale Funktion, weil es dem ganzen Personal einschließlich des Unternehmers zugute kam, so fällt eine oft schwindelerregende Verkaufssumme nun in die Hand eines einzigen Menschen, der dieses Geld nun für „sich arbeiten“ lässt, d.h. in Wahrheit andere Menschen irgendwo auf der Welt für sich einspannt. Vom Ethos, wie es Max Weber beschrieb, bleibt ebenso wenig übrig wie von irgendeiner für das Gemeinwohl nützlichen Funktion. An dieser neuralgischen Stelle unseres heutigen Wirtschaftssystems liegt die fortdauernd strömende Quelle für die weitere Konzentration der Vermögen.
Dabei hätte der Staat im Auftrag der Allgemeinheit durchaus die Möglichkeit, gegen diesen im System angelegten Missbrauch einzuschreiten. Nur kann davon gegenwärtig keine Rede sein. Der Grund für dieses Versagen liegt auf der Hand: Der Staat unterscheidet nicht zwischen sozial aktivem (eigenaktiviertem) und sozial schädlichem (fremdaktivierten) Kapital. Nicht nur das, er begünstigt den Missbrauch, denn er bedrängt und lähmt das sozial nützliche Kapital durch die Besteuerung der Leistung (Körperschafts- und Gewerbesteuer, Einkommens- und Mehrwertsteuer). Andererseits hat er zugelassen, dass sich das sozial schädliche Kapital vor seinem Zugriff immer sicherer fühlen kann. Seit Aufhebung der Kapitalverkehrskontrollen und einer weitgehenden Deregulierung sorgt die „Internationale der Gläubiger“ überaus erfolgreich dafür, dass es zunehmend weniger belastet wird. So hat das sozial schädliche Kapital einen Siegeszug angetreten. In Deutschland wird es mit jedem Tag schwieriger, Geld auf sozial nützliche Art zu verdienen. In einer Zeit, wo selbst große Unternehmen wie Siemens als „Banken mit angeschlossener Elektroabteilung“ bespöttelt werden, kann jeder sich ausrechnen, welche Chancen er selbst noch hat, einen kleinen Betrieb zu gründen. Kein Wunder, dass viele, die einst ihr Kapital zum Nutzen des Gemeinwohls verwendeten, heute nichts Eiligeres bezwecken, als es in sozial schädliches Kapital umzuwandeln. Sie lassen ihr Geld dort „für sich arbeiten“, wo Steuern, Löhne und Umweltauflagen geringer sind als bei uns. Deshalb sind in Deutschland mehr und mehr Betriebe und ganze Wirtschaftsbereiche zugrunde gegangen (das gegenwärtige Strohfeuer nach dem Wirtschaftseinbruch von 2008 – 9 verschafft uns nur eine Atempause). Die Löhne sinken, bzw. die Arbeitslosigkeit steigt, das Sozialsystem wird demontiert, während der Reichtum in den Händen der oberen fünf bis zehn Prozent einen phantastischen Zuwachs verzeichnet. Das krebsartige Auswuchern einer Finanzwirtschaft, wo das sozial schädliche Geld sich sammelt, zerfrisst den produktiven Sektor des sozial nützlichen Kapitals. Es stärkt die spekulativen Kräfte, befestigt das Auseinanderdriften von oben und unten und erzeugt einen allgemeinen Pessimismus im Hinblick auf den Wert eigener Leistung.
Was kann der Staat im Auftrag der Allgemeinheit dagegen tun? Nach dem zuvor Gesagten liegt die Antwort auf der Hand. Er muss Talent und Können, d.h. die Leistung der arbeitenden Menschen, von jeglicher Steuer befreien. Besteuert werden sollte auf der Ebene der Unternehmen nur deren Umwelt- und Ressourcenverbrauch einschließlich des für die Produktion notwendigen Grund und Bodens. Ihre Leistung hingegen sollte frei von jeglicher Besteuerung sein, denn die Leistung eines Individuums wie auch jeder überindividuellen Organisation ist deren unverzichtbarer Beitrag zum Gemeinwohl. Indem der Staat ganz von der Besteuerung der Leistung auf die des Verbrauchs umschaltet, fördert er das sozial aktive Kapital. Schlagartig verbilligt er die Produktion und vermindert dadurch den Anreiz, das aktive in sozial schädliches Kapital für die leistungsfreie Bereicherung umzuwandeln. Er besteuert ausschließlich den Konsum der Unternehmen und den der Endverbraucher. Was diese der Allgemeinheit nehmen, unterliegt der Besteuerung, nicht was sie ihr geben. Der Bürger als gebender – Arbeiter, Angestellte und der Unternehmer als Leistungsträger, also als Verwalter des sozial aktiven Kapitals – stehen unter dem besonderen Schutz der Allgemeinheit, sie sind von allen Lasten befreit, nur der Bürger als nehmender wird im Konsum belastet. Diese Belastung erfolgt über dem steuerfreien Minimum progressiv: Je mehr der Einzelne oder ein Unternehmen für sich in Anspruch nimmt – und so den Verbrauch anderer beschneidet – umso höher muss auch ihr Beitrag zum Gemeinwohl sein.
Dadurch erfährt die Produktion eine so starke Verbilligung, dass kaum noch ein Anreiz besteht, aus dem produktiven in den spekulativen Wirtschaftsbereich zu wechseln. Die Umstellung führt zu einer allgemeinen Belebung der Wirtschaft. Allerdings wird damit allein noch nichts an der schon bestehenden Ungleichverteilung geändert. Dazu bedarf es eines weiteren Schrittes, nämlich der Unterscheidung zwischen dem aktuellen und dem aufgeschobenen Konsum. Vom aktuellen Konsum leben wir. Er wird mit den laufenden Einkommen finanziert. Der aufgeschobene Konsum hingegen wird gewöhnlich durch jenen Teil des Einkommens ermöglicht, den wir als Ersparnis für Krankheit, Alter und Notfälle beiseite legen. In einer Leistungsgesellschaft ist es legitim und gilt als selbstverständlich, dass Menschen, die eine größere Leistung erbrachten und dementsprechend höhere Einkommen bezogen, auch ein Anrecht auf einen höheren aufgeschobenen Konsum genießen. Doch ein aufgeschobener Konsum ist etwas radikal anderes als jene phantastischen Vermögen, die gar nicht mehr sinnvoll konsumiert werden können, sondern deren vorrangiger Zweck in der Akkumulation von ökonomischer und politischer Macht besteht. Wird der Sinn von individuellen Ersparnissen im aufgeschobenen Konsum gesehen, so verlieren derartige Vermögen umgehend ihre Daseinsberechtigung. Ersparnis darf in einer sozial orientierten Demokratie eben grundsätzlich nicht als Instrument für persönliche Machtentfaltung, sondern ausschließlich für die Sicherung gegen Alter, Not und Krankheit dienen.
Auf der Grundlage dieses Prinzips ist es daher selbstverständlich, dass auch für die persönliche Ersparnis (den aufgeschobenen Konsum) die Regel der progressiven Besteuerung gilt. Während sie unter einem Mindestniveau völlig steuerfrei bleibt, sollte sie, wenn sie über dem Durchschnitt für eine auskömmliche Vorsorge liegt, zunächst in milder Progression, ab einem bestimmten Vielfachen des Durchschnitts dagegen steil besteuert werden, um schließlich, wenn ein einzelner sein Vermögen kaum noch sinnvoll konsumieren kann, an eine absolute – demokratisch festzulegende – Grenze zu stoßen, jenseits derer sich keine großen Vermögen mehr bilden können (darüber mehr in Wohlstand und Armut und auf meiner Website unter Neuer Fiskalismus). Die direkte progressive Besteuerung des aufgeschobenen Konsums und die dadurch bewirkte Eindämmung des sozial schädlichen Kapitals sollte ausdrücklich als Voraussetzung und Bedingung dafür gelten, dass das sozial aktive Kapital (die Leistung) von jeglicher Steuer befreit wird. Beim sozial aktiven Kapital findet dann eine Befreiung und Erweiterung des Eigentums statt, im sozial schädlichen Bereich wird die Freiheit des Eigentums dagegen beschnitten – das entspricht dem Geist des deutschen Grundgesetzes, wonach das Eigentum verpflichtet und sein Gebrauch zugleich dem Wohl der Allgemeinheit zu dienen hat (Artikel 14, 2).