Sämtliche Staaten, die dazu die Mittel haben, sehen in der Digitalisierung der Information und ihrer Übermittlung ihre wichtigste technische Aufgabe für die Zukunft. Auf diese Weise lassen sich wachsende Datenmengen in immer kürzeren Zeitintervallen verwerten. Atomkraftwerke, ballistische Raketen, Drohnen, fahrerlose PKWs, chirurgische Eingriffe können aus der Ferne gesteuert werden. Die staatliche Überwachung ganzer Bevölkerungen ist ebenso möglich wie die Beeinflussung des Wahlverhaltens von perfekt durchleuchteten Bürgern.
Natürlich ist es schon seit Jahrtausenden triviale Wahrheit, dass man Messer dazu verwenden kann, Kürbisse aufzuschneiden oder Menschen zu erstechen. Es ist daher nicht weiter verwunderlich, dass wir uns mit Hilfe von Google einerseits einen Ausblick auf Tausende von Tatsachen verschaffen, während wir uns zugleich der permanenten Beobachtung durch den amerikanischen Konzern unterwerfen. Die Digitalisierung verdient also nicht deswegen kritisch beleuchtet zu werden, weil sie ebenso wie alle anderen technologischen Durchbrüche nicht nur gebraucht sondern genauso auch missbraucht werden kann. Ich möchte einen ganz anderen Aspekt in den Blickpunkt rücken, weil dieser so gut wie nie beachtet wird: die zunehmende Komplexität der neuen, künstlich von uns geschaffenen Welt.
Diese Komplexität bedeutet zunächst einmal,
dass eine überwältigende Mehrheit von Zeitgenossen die Dinge, mit denen sie täglich hantiert, nicht länger versteht. Während ein Auto noch der analogen Welt zugehört, sodass die meisten von uns sich darüber im klaren sind, wie und warum es sich überhaupt bewegt, haben mehr als neunundneunzig von hundert Mitmenschen keine Ahnung von den Vorgängen in einem Handy. Gewiss, auf den ersten Blick muss auch diese Tatsache uns nicht verstören. Unser Körper und unser Gehirn leisten uns täglich die erstaunlichsten Dienste, doch selbst die größten Koryphäen von Medizin und Neurologie haben bis heute erst einen Teil jener Vorgänge enträtselt, die sich in jedem Moment darin abspielen.
Anders gesagt, war die natürliche Welt für den Menschen von jeher ein großes Rätsel, aber dieses Unverständnis hat schon Steinzeitmenschen nicht daran gehindert, sie ihren Bedürfnissen zu unterwerfen. Die wahrscheinlich niemals vollständig erklärte Komplexität der natürlichen Welt zwischen Atom und kosmischen Galaxien hat menschliches Überleben zu keinem Zeitpunkt beeinträchtigt. Doch wie verhält es sich mit der von uns selbst erschaffenen künstlichen Welt aus Computern, Robotern, nuklear getriebenen Interkontinental Raketen und Co.? Ist deren wachsende Komplexität ebenso unerheblich im Hinblick auf die individuelle und soziale Existenz des Menschen? Offenbar nicht. Die künstliche Welt konfrontiert uns heute mit existenziellen Problemen, die es in der Vergangenheit niemals gab.
Wir stoßen hier auf ein erstes Grundgesetz
Die Zahl derer, welche aufgrund ihrer geistigen Fähigkeiten und deren Ausbildung in der Lage sind, die Hard- und Software dieser künstlichen Welt zu entwickeln, zu warten und zu überwachen, muss zwangsläufig im gleichen Umfang schrumpfen, wie deren Komplexität sich erhöht.
Das ist eine unabwendbare Folge, die sich mit Zwangsläufigkeit aus der Tatsache ergibt, dass die Gaußsche Normalverteilung der technischen Intelligenz nicht von unserem Bedarf abhängt sondern eine Konstante ist (in jeder Bevölkerung gibt es nur soundso viel Prozent an Menschen, deren technischer IQ einen bestimmten Wert überschreitet). Von vornherein kommt daher nur ein Bruchteil der Bevölkerung als Pioniere und wartendes Personal für diesen Bedarf in Frage. Auch wenn in Staaten mit großen Bevölkerungen wie Indien oder China dieses Potential vermutlich noch längst nicht ausgeschöpft ist, läuft das erste Grundgesetz doch darauf hinaus, dass dieser Bruchteil an Menschen in Zukunft mehr und mehr zusammenschmilzt, weil zunehmende Komplexität die Ansprüche an die technische Intelligenz steil in die Höhe schraubt. Nicht nur die heutigen 99 Prozent Menschen werden die Handys der n-ten Generation nicht mehr verstehen, sondern auch das verbliebene Restprozent wird immer kleiner werden.
Denn Komplexität wird auf doppelte Weise gesteigert
Im analogen Zeitalter bedurfte es keiner besonderen technischen Fähigkeiten, um beispielsweise eine Bank zu leiten. Diese Situation hat sich heute grundlegend geändert. Jedes Geldinstitut in unserer Zeit muss damit rechnen, von einem Moment auf den anderen funktionsunfähig zu werden, wenn nicht hochbezahlte Spezialisten rund um die Uhr die Programme einrichten, warten und auf den neuesten Stand der Technik bringen, welche die Geldflüsse elektronisch steuern und kontrollieren. Da dies längst über den nationalen Bereich hinaus notwendig ist, sorgt die internationale Vernetzung für eine weitere Steigerung von Komplexität.
Und nicht nur das. Spezialisten – einerseits geniale Amateure, andererseits von konkurrierenden Staaten ebenso hochbezahlte Experten – setzen alles daran, sich unerlaubten Zugang zu ihren Systemen zu verschaffen. Diese fortwährenden Attacken stellen einen weiteren Motor dar, um die Komplexität bestehender Systeme spiralartig in die Höhe zu schrauben. Nicht allein Banken sind diesem Zwang ausgesetzt sondern sämtliche produzierenden Betriebe, die aus diesem Grund auch immer größer werden, weil sie sich andernfalls solche Spezialisten in der nötigen Zahl gar nicht mehr leisten könnten.
Daraus ergibt sich ein zweites Grundgesetz
Der Zwang zur Größe resultiert auch aus den Kosten wachsender Komplexität. Die Folgen für die Gesellschaft beginnen sich jetzt schon abzuzeichnen. Sie sind alles andere als harmlos. Ich kann mich noch gut erinnern, welchen Spaß es mir als Kind bereitet hatte, auf dem Tisch eines Lokals viereckige Bierdeckel zu einem Turm aufzubauen, der bis zu fünf Etagen hochwachsen konnte aber in der Regel schon nach der dritten zusammensackte. Wie wird unsere Zukunft aussehen, wenn die uns umgebende künstliche Welt mit jedem Jahr höhere Türme an Komplexität aufweist? Die Gefahr eines Systemkollapses wächst mit jeder Etage, die wir den Turm höher bauen. Damit es nicht dazu kommt, müssen die Ansprüche an Wartung und Überwachung mindestens in gleichem Umfang gesteigert werden.
Hier tritt ein drittes Grundgesetz in Wirkung
nämlich der Zwang zu einer massiven Ausweitung der technischen Ausbildung, vor allem in der Informatik, damit das in der Bevölkerung vorhandene Potential an technischer Intelligenz soweit irgend möglich genutzt wird. Angefangen bei der Grundschule (vielleicht sogar schon im Kindergarten) bis hin zu den Universitäten wird die technische Ausbildung einen immer größeren Raum einnehmen und die klassischen Fächer, in erster Linie natürlich die Wissenschaften des Geistes, mehr und mehr in den Hintergrund drängen – ein Prozess, den wir gegenwärtig überall auf der Welt beobachten.
Diese durch wachsende Komplexität der Systeme erzwungene Tendenz steht allerdings in merkwürdigem Gegensatz zu den Intentionen, denen sie ihren Ursprung verdankt. Wir glaubten einmal, dass die Technik das Leben vereinfachen, dem Menschen gewissermaßen die lästigen materiellen Alltagssorgen abnehmen würde, um seinen Geist für höhere Zwecke zu befreien.
In vieler Hinsicht wurden diese Erwartungen ja auch erfüllt. Für eine Mutter in Wien bedeutet es zweifelsfrei eine ungeheure Erleichterung, dass sie zu jeder beliebigen Zeit mit ihrem Sohn in New York telefonieren oder ihm einen Geldbetrag elektronisch überweisen kann. Zumindest in seiner Anfangsphase war der technische Fortschritt wirklich nichts anderes als das: ein atemberaubendes Voranstürmen in eine bis dahin nur von Märchenerzählern imaginierte Welt.
Inzwischen liegt diese Märchenzeit hinter uns. Nicht nur die Revolution, auch Komplexität frisst ihre Kinder. Zum Beispiel wissen wir: Schnelle Brüter könnten die Uranvorräte wesentlich strecken. Das ist der Grund, warum vor allem China an dieser Technologie festhält und sie vorantreibt. Andere Staaten wie Deutschland haben sich von ihr abgewandt, weil die außerordentlich hohe Komplexität solcher Anlagen das Risiko nuklearer Verseuchung extrem in die Höhe schraubt.
Viertes Grundgesetz
Jedes extreme Risiko erzwingt ebenso extreme Maßnahmen der Kontrolle und damit den schleichenden Übergang zum Überwachungsstaat, wie er nicht nur in China bereits den Alltag bestimmt. Selbst unter Soziologen ist es üblich, die Überwachung der Bevölkerung durch den Staat vor allem politisch zu deuten, so als würden ihr in erster Linie böse Absichten und Machtgelüste zugrunde liegen. Zweifellos ist das auch oft der Fall, aber ein zunehmend größerer Anteil an der Überwachung der Bürger ist technischen Ursprungs, d.h. er beruht auf der wachsenden Komplexität der von uns selbst geschaffenen künstlichen Welt. Da die Folgen einer Sabotage immer verheerender und immer kostspieliger werden, sind Staaten bestrebt, sie von vornherein durch eine lückenlose Überwachung zu verhindern, deren zwangsläufige Folge aber darin besteht, unsere Freiheit immer stärker zu beengen. Das vierte Grundgesetz besagt:
Schuld daran ist nicht nur Sabotage sondern der technische Fortschritt selbst
Nehmen wir zum Beispiel den Quantencomputer: ein Produkt überragender technischer Intelligenz. Im selben Augenblick, da er zur Marktreife gelangt, sodass jeder Privatmann ihn käuflich erwerben kann, wird er für die Gesellschaft eine ebenso elementare Bedrohung sein wie die vielen Nukleararsenale, deren Entwicklung und Besitz sich inzwischen schon jeder Kleinstaat zu leisten vermag. Von einem Tag auf den anderen werden nämlich Banken ihren Schutz vor Hackern einbüßen, weil die neue Technik alle heute bestehenden Codes in Sekundenschnelle zu knacken vermag. Alles Geld liegt dann sozusagen für alle Welt zum Mitnehmen auf dem Teller.
Natürlich werden Techniker am Ende wiederum Gegenstrategien entwickeln. Die größten Banken sind jetzt schon im Begriff, auf dem Gebiet der Quantenverschlüsselung danach zu suchen. Aber die notwendige Folge wird in einer weiteren Steigerung von Komplexität und astronomischen Kosten bestehen. Mit anderen Worten, nähern wir uns in schnellem Tempo dem Punkt, wo der Turm zusammenbricht, weil eine ins Unüberschaubare gesteigerte Komplexität nicht länger beherrschbar und nicht länger bezahlbar ist.
In der Rüstung ist dieser Punkt bereits erreicht
In der „Schönen neuen künstlichen Welt“ haben wir es inzwischen so weit gebracht, dass mit jedem Tag die Wahrscheinlichkeit wächst, es könnte aufgrund bloßen Zufalls oder menschlichen Versagens „etwas passieren“. Das ergibt sich zwangsläufig daraus, dass die Träger nuklearer Bomben mit jeder neuen Generation schneller und schneller werden – die Vorwarnzeit für den Einschlag von Überschallraketen schrumpft dementsprechend zusammen. Bei einem Erstschlag vonseiten des Gegners steht nach dessen Entdeckung sowohl Russen wie Amerikanern keine halbe Stunde mehr zur Verfügung wie noch vor zwei Jahrzehnten. Seitdem Russland der Welt vor wenigen Tagen den Testflug von „Zircon“, einer Rakete von neunfacher Überschallgeschwindigkeit, erfolgreich vorführte, ist dieser ohnehin minimale Zeitraum auf einige Minuten geschrumpft (je nachdem, von wo die Nuklearmissile abgefeuert werden).
Die Gefahr eines willkürlich herbeigeführten Erstschlags vonseiten einer Supermacht ist glücklicherweise so gering, dass ein Optimist sie ganz vernachlässigen darf. Kein Präsident ist so mächtig, dass er sich nicht zuvor mit seinen Militärs beraten müsste – und die Experten wissen über die zu erwartenden Folgen bestens Bescheid. Ganz anders verhält es sich mit dem Zweitschlag, der aufgrund von Fehlinformationen ausgelöst werden kann und in der Sowjetunion schon einmal, nämlich 1983, nur durch Oberstleutnant Stanislav Petrov im letzten Moment verhindert wurde. Um augenblicklich auf einen Zweitschlag zu reagieren, muss seit Kennedy und der Kubakrise eine (gegenwärtig weibliche) Hilfskraft dem amerikanischen Präsidenten auf Schritt und Tritt mit einem schwarzen Koffer begleiten, damit er in jedem Moment in der Lage ist, den endgültigen Befehl für einen atomaren Zweitschlag zu erteilen. Da der Erstschlag nur dann einen Sinn ergibt, wenn er möglichst das ganze Nukleararsenal des Gegners vernichtet, muss der Zweitschlag gleichfalls von maximaler Stärke sein. Aufgrund des minimalen Zeitfensters von inzwischen fünf Minuten kommt eine ernsthafte Beratung mit den Militärexperten aber jetzt nicht länger in Frage. Der Präsident einer Supermacht muss sich entweder auf die von Computern übermittelten Daten verlassen oder aus dem Bauch darüber entscheiden, ob er den Globus in Schutt und Asche legt!
Ob wir wollen oder nicht, wir müssen ein fünftes Grundgesetz
anerkennen. Die wachsende Komplexität der von uns selbst geschaffenen künstlichen Welt hat unsere Freiheit nur punktuell vermehrt, sie dagegen im Ganzen gesehen radikal eingeschränkt, denn die Selbstauslöschung der humanen Spezies – der maximale Verlust an Freiheit – hängt zum ersten Mal in der Geschichte wie ein Damoklesschwert über den Köpfen. Selbst wenn wir – aus Gründen psychischer Gesundheit – diese Möglichkeit aus unserem Bewusstsein verdrängen, so vermögen wir doch an der Tatsache nichts zu ändern, dass wachsende Komplexität die Menschheit in Richtung eines Systemkollapses drängt und daher zu einer totalen Negation von Freiheit.
Auf dem Gebiet der Rüstung, wo eine Supermacht die andere dazu zwingt, auf wachsende Schnelligkeit und Bedrohung durch den Gegner ihrerseits mit immer schnelleren und letaleren Systemen zu reagieren, ist dieser Zustand einer instabilen Komplexität bereits erreicht. Das Bankensystem wird demnächst dahin gelangen, wenn alle Codes mühelos dechiffriert werden können. Der technische Fortschritt der Genetik zielt gleichfalls in Richtung einer Komplexität, die sich der Beherrschung auch durch Experten zu entziehen droht, da wir wohl nie endgültig wissen werden, wie sich punktuelle Eingriffe in die Erbsubstanz im Ganzen und auf Dauer auswirken.
Aber das inzwischen schon klassische Beispiel
für die möglicherweise fatalen Auswirkungen wachsender Komplexität ist die fossil-industrielle Revolution selbst, deren Hauptmerkmal der zunehmende Hunger auf Ressourcen einerseits ist und andererseits deren Umwandlung in Abfallstoffe, die zu großem Teil aus biologisch nicht abbaubaren Giften bestehen. Wir wissen, dass die Beseitigung von CO2 aus der Luft, von Plastik aus den Meeren, von Elektroschrott, Industriemüll und strahlendem Atommüll aus dem Boden zu den großen ungelösten Problemen unserer Zeit gehören. Wurden anfänglich nur Rohstoffe wie Kohle abgebaut, so sind inzwischen bis zu den seltenen Erden Tausende von anderen Stoffen hinzugetreten. Die Abfallstoffe und potenziellen Gifte gehen aber bereits in die Hunderttausende. So haben wir die Komplexität unserer Eingriffe in die Natur exponentiell gesteigert – und hier lassen sich die Folgen inzwischen nicht länger verdrängen. Der Klimawandel ist nur das sichtbarste Zeichen dafür, dass der von uns errichtete künstliche Turm sehr wohl einstürzen könnte.
Versagen der ethischen Kontrolle
Technik ist ein Subsystem innerhalb sozialer Ordnungen und die technische Intelligenz ein Teilbereich innerhalb der geistigen Fähigkeiten des Menschen. Solange Technik dem Menschen dient, will sagen der menschlichen Gesellschaft als ganzer, haben wir Grund ihre Errungenschaften als „Fortschritt“ zu bezeichnen. Sobald sich das technische Subsystem aber verselbständigt und aufgrund seiner wachsenden Komplexität zu einer Gefahr für das soziale System (und das der Natur) als Ganzes wird, kann man seine Errungenschaften nur als „technischen Rückschritt“ bewerten. Die fossil-industrielle Epoche hat mit der großflächigen Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen ein Stadium erreicht, wo dieser „technische Rückschritt“ für alle sichtbar in Erscheinung tritt und (zumindest auf dem Gebiet der Rüstung) sogar das Überleben der Menschheit in Frage stellt.
Im Hinblick auf den menschlichen Körper sprechen wir von Krebs, wenn ein Subsystem außer Kontrolle gerät. Dann sagen wir, dass das Immunsystem, also die Abwehrkräfte des Körpers, versagen. Wenn hingegen die Technik außer Kontrolle gerät, dann ist das Immunsystem der Gesellschaft geschädigt, die ethische Kontrolle versagt, welche alle menschlichen Tätigkeiten daraufhin untersucht und bewertet, ob sie im Hinblick auf das Gemeinwohl Nutzen oder Schaden stiften.
Die ethische Kontrolle des Ganzen
über dessen Teile – seine Subsysteme – sollte eine Selbstverständlichkeit sein. Im Falle der Technik hat sie deshalb versagt, weil hier ein Tabu im Wege steht, das sich inzwischen zum Dogma verhärtet hat. Das Dogma lautet in etwa so: Jede neue Entdeckung auf dem Gebiet der Naturwissenschaften stellt eine Erweiterung unseres Wissens dar – was zweifellos richtig ist – und ist deshalb ein Segen für die Menschheit – was zweifellos unrichtig ist.
Die historischen Wurzeln dieses Dogmas sind in der Tatsache begründet, dass die segensreichen Wirkungen des technischen Fortschritts lange Zeit als so überwältigend empfunden wurden, dass der Zweifel daran als bloße Rückständigkeit und Dummheit abgetan werden konnte. So konnte es dazu kommen, dass die Menschheit bei jeder Verleihung eines Nobelpreises an die Koryphäen der Naturwissenschaft in eine Art von Euphorie verfällt, obwohl es die von ihnen gewonnenen neuen Erkenntnisse sind, welche die Komplexität und die daraus resultierende Instabilität der künstlichen Welt mit jedem Jahr steigern. Wir sind auf dem Weg, die natürliche durch die künstliche Welt heillos zu schädigen, aber noch immer gilt es als schlimmste Ketzerei, an der Technik selbst zu zweifeln, obwohl sie diesen Prozess überhaupt erst herbeigeführt hat.
Dekomplexion – das neue Hauptgesetz
Wenn wir nicht an der selbstgeschaffenen Komplexität der neuen künstlichen Welt scheitern wollen, dann kann uns nur Dekomplexion, also der bewusste Abbau von Komplexität, davor bewahren. Damit ist natürlich kein Aufstand gegen die Technik gemeint, so als müssten wir wieder in die frühe Steinzeit regredieren, wo gerade einmal einige Tausend Menschen in kleinen Horden Europa durchstreiften. Technische Intelligenz ist längst unser Schicksal und die künstliche Welt ein Subsystem, auf das wir nicht mehr verzichten können und wollen. Aber dieses System bedarf der strikten Kontrolle, um nicht völlig unbeherrschbar zu werden.
Eine Menschheit, welche die Kontrolle über das Subsystem Technik zurückgewinnt, wird nicht nur die weitere Forschung an nuklearen, biologischen und chemischen Waffen verbieten, sondern sie wird dafür sorgen, dass kein Geld mehr für Forschungen bereitgestellt wird, welche die Entwicklung zum Überwachungsstaat und damit zur Unterdrückung von Freiheit fördern. Wissen an sich, zum Beispiel das Wissen darum, wie wir Menschen en masse umbringen, hat keinen Wert sondern nur Wissen, welches Leben und Freiheit fördert. Daher hat die Gesellschaft nicht nur das Recht sondern die Pflicht, zwischen ethisch wertvollem und ethisch gefährlichem Wissen zu unterscheiden – das eine zu fördern und die Forschung auf dem anderen unter ihre Kontrolle zu bringen. Denn Wissen und Wahrheit sind ethisch eben nicht neutral. Einer menschenfreundlichen Wissenschaft verdanken wir den Dienst an einer Wahrheit, welche seit der Aufklärung des 17. und 18. Jahrhunderts so viele dogmatische Lügen aus der Welt geschafft hatte. Aber Wissen und Wahrheit, welche der Entwicklung von Waffen der Massenvernichtung dienen oder Komplexität bis zur Unbeherrschbarkeit steigern, stellen alle bisherigen Errungenschaften von Technik und Wissenschaft nachträglich in Frage.
Prof. Siegfried Wendt schreibt dazu:
Lieber Herr Jenner,
Ihr Text über „Dekomplexation“ zeigt mir, dass wir beide „synchron ticken“. Ihre Befürchtungen und die begründenden Argumente muss jeder bestätigen, der nicht „auf mehreren Augen blind ist.“
Mit bestem Gruß
Siegfried Wendt
Herr Pfarrer Gerhard Loettel schreibt mir folgende Zeilen:
Lieber Gero Jenner!
Komplexivierung! Ein großartig angelegter Kassandraruf. Alle meine bisherigen Ängste und Vorstellungen vom Kollaps unserer kulturellen und biotischen Menschheit haben Sie genialerweise hier in einem Artikel zusammengefasst. Danke erst einmal für diese summarische Aufhellung. Ich habe die Ansicht, dass uns die Digitalisierung nur noch schneller in den Abgrund reißt, erstmals von Niko Paech (einem Postwachstumsökonomen) gehört. Nun aber noch einmal detailliert und brutaler von Ihnen. Aber eben ein Kassandraruf! Nun wissen wir aber, dass die Kassandrarufer und ihre Rufe immer wieder nicht gehört werden wollen. Es ist doch so schön. (So wie wir einmal sangen: „Es ist so schön Soldat zu sein, Heidemarie! Nur für die auf dem Feld Verreckten und zu Krüppel Gemachten war es nicht schön!) Also wie aus der Klemme herauskommen? DEkompexierung, aber wie? Ich selbst versuche das immer damit, dass ich, in Übereinstimmung mit dem Prager Philosophen Milan Machovec, daran appelliere, wir müss(t)en unsere in geschichtlicher Zeit doch einmal vorhanden gewesene „Weisheit“ zurückerlangen, oder wie C.F. von Weizsäcker sagt, aus der Wirklichkeit des in uns angelegten Doppelaspektes des Geistes, den nichtkognitiven, nichtanalytischen Aspekt des Geistes zurückgewinnen, der sich kurzgefasst mit Liebe, Mitgefühl, Empathie usw. bezeichnen lässt. Dazu habe ich die Bücher verfasst „Der Doppelaspekt des Geistes“ aber eben auch vom gleichen Anliegen her, „Die Erde- ein Planet des Lebens?“ und zuletzt „Inspiration rettet die Welt“.
Ob sich damit etwas retten lässt, um zu verhindern, dass ich die Erde in eine Supernova verwandelt? Weizsäcker und andere hoff(t)en ja auf eine sogenannte „große Transformation“ oder den sog. fulgurativen Bewusstseinswandel“. Kann man darauf vertrauen?
Als ev. Pfarrer bin ich ja nun verpflichtet, auf solche Transformationen als Auswirkung des Heiligen Geistes zu vertrauen.
Ich wills versuchen. Schalom, Ihr Gerhard Loettel
Von Prof. Michael Kilian erreicht mich folgende Meldung
Lieber Herr Dr. Jenner,
danke für Ihren wiederum sehr erhellenden Essay, der wahrhaft erschreckende Perspektiven bündig aufzeigt. Da ist man froh, dass man ein einigermaßen normales, friedliches (trotz Kaltem Krieg) Leben schon hinter sich hat.
Erst neulich hatte ich einen apokalyptischen Traum – und es war unsere Gegend, in der es geschah.
War da die kath. Kirche im Fall Galilei nicht eigentlich weise gewesen?
Es gab immer wieder Warnungen vor dem faustischen Drang des Menschen (Lessing, Schillers „Bild zu Sais“, auch Goethe, Zauberlehrling) und unter den größten Wissenschaftlern gabe es auch die größten Skeptiker über den Fortschritt (Einstein, Planck).
Technik-Kritik hat in Deutschland, dem Hochtechnologie-Land, immer auch ihre Vertreter gehabt (etwa F.G. Jünger und andere).
Ob Ethik und Recht einen Damm errichten können, wage ich zu bezweifeln. Machtstreben und Ehrgeiz sind stärker an jede Vernunft und jedes Rechtsempfinden. Und ob corona als eine Art Warnung empfunden wird, glaube ich auch nicht. Schon die Entwicklung der drohnentechnik wird zum „Krieg des kleinen Mannes“ führen.
Herzliche Grüße, ich halte mich am Kogl weiter zurück, genieße die Ruhe, lese und schreibe,
Michael Kilian
Von Dr. Heinz Busta erhalte ich folgende Nachricht:
Lieber Herr Dr. Jenner !
Mein Freund Wilfried Laska (von der Maschinenfabrik Laska, Linz) schickt mir immer Ihre Veröffentlichungen die ich mit grossem Interesse lese. Außer Ihrer einmaligen Analysen und Schaffungskraft bewundere ich Ihr Uebersetzungstalent.Ich bin in Eisenerz geboren (auch 1942) und wohne nun schon 52 Jahre in Chicago. Ich benutze öfters Ihre Veroeffentlichungen um meinen Deutschen Sprachschatz (der leider immer gering war) zu erfrischen. Als Grazer Bulme und TH Absolventen haben wir letztlich Zoomtreffen aufgenommen und ich habe meinen Kollegen von Ihnen erzählt und ihnen Ihre Veroeffentlichung „Are we still in control …“ uebermittelt. Einer der Kollegen schrieb: „Einfach grossartig was dieser Gero Jenner analysiert und so verständlich darlegt.“Wie Sie sehen, können das die ersten Keime eines ‚Gero Jenner’s fan club‘ geleitet von Chicago sein.Ueber einige Ihrer Berichte stimme ich, bei der ersten Lesung, nicht immer überein, aber nach einigem Nachdenken werden viele der Zweifel eliminiert.
Ich freu mich schon wenn Wilfried Laska mir Ihren naechsten Bericht schicken wird.
Mit meinen besten Empfehlungen aus Chicago,
Heinz Busta