Der gelbe Lord und die Rechtsextremisten

 

1983 hatte der Liberale Ralf Dahrendorf, später von der britischen Königin in den Adelsstand erhoben, das Ende des sozialdemokratischen Zeitalters ausgerufen. „In seinen besten Möglichkeiten war das Jahrhundert sozial und demokratisch. An seinem Ende sind wir (fast) alle Sozialdemokraten geworden… Wir erleben das Ende des sozialdemokratischen Jahrhunderts…“

Und der Starsoziologe lieferte auch gleich die Erklärung für dieses Todesurteil. „[Das] gilt vor allem, weil das Thema seine Möglichkeiten erschöpft hat.“ Alle wesentlichen Ziele der Linken wie Wachstum, Gleichheit, Arbeit, Vernunft, Staat, Internationalismus seien erfolgreich verwirklicht worden. Das Programm daher erfüllt. Nun könne und müsse die Politik sich anderen Aufgaben zuwenden.

Mancher mag damals den Kopf über soviel Optimismus geschüttelt haben. Die unmittelbaren Zeugen der Zeit sind ja selten mit ihr zufrieden. Hatte es nicht den Aufruhr der 68er gegeben, den Terror der RAF und der Roten Brigaden? Hatte die deutsche Regierung nicht Berufsverbote verhängt, indem sie bestimmte Personen (solche mit kommunistischer Überzeugung) per Gesetz vom Staatsdienst ausschloss?

Dahrendorf hatte sein Fazit nicht aus der Froschperspektive des bloßen Zeitgenossen gefällt. Er brachte den großen historischen Überblick ein – und aus dieser vergleichenden Sicht hatte er unbedingt recht. Nie genoss eine Bevölkerungsmehrheit größere politische Rechte, und vor allem hatte sie nie in der Geschichte der Menschheit einen größeren Wohlstand errungen als in den ersten drei Nachkriegsjahrzehnten. Das galt jedenfalls für Europa und die Vereinigten Staaten. Noch gegen Ende des 20. Jahrhunderts konnte man die Europäische Union als eine Insel der Seligen bezeichnen – so wurde sie von außen gesehen, auch wenn ihre eigenen Bürger noch so viel über Missstände klagten.

Die Sozialdemokraten hatten eine Gesellschaft der politisch mündigen Wohlstandsbürger ausdrücklich gewollt. Das war immer schon Teil ihres Programms und ihrer Idealvorstellung gewesen. Während der ersten Nachkriegsjahrzehnten war das auch das Ziel der Konservativen. Ludwig Erhard hatte den Wohlstand der Massen ausdrücklich zur Voraussetzung für eine erfolgreiche Gesellschaft erklärt. Allerdings war eine möglichst weitgehende Angleichung der materiellen Verhältnisse bei den Konservativen keine Forderung gewesen, die sie in ihren Programmen an die vorderste Stelle rückten. Deshalb war Dahrendorf durchaus im Recht, wenn er vom sozialdemokratischen Zeitalter sprach.

Das eigentlich Merkwürdige an diesem Urteil eines in England geadelten deutschen Soziologen war jedoch dessen Begründung. „Das Thema hat seine Möglichkeiten erschöpft.“ Dahrendorf stellte sich vor, dass seine eigene Partei, die Liberalen, auf diesem von den Sozialdemokraten errichteten Fundament jetzt erst die eigentlich freie Gesellschaft, die Gesellschaft des 21. Jahrhunderts, erbauen würden. Der liberale Wissenschaftler hat nicht geahnt, dass schon bald genau das Gegenteil eintreten würde. Wo immer der (Neo)Liberalismus die Macht ergriff und nach eigenem Gutdünken schalten und walten durfte, wurde das von den Sozialdemokraten errichtete Fundament nicht gefestigt, sondern zersetzt. Die Globalisierung der Wirtschaft, die gleich nach dem Fall des eisernen Vorhangs einsetzte, lief auf die Demontage der von Dahrendorf so gepriesenen Errungenschaften von Gleichheit, Arbeit, Vernunft und Staat hinaus. Nur der Internationalismus machte zweifellos Fortschritte und auch das Wachstum konnte eine Zeitlang noch aufrechterhalten werden.

Das konservative Lager vergaß die Mahnungen Ludwig Erhards und seines christlichen Flügels. Es machte sich das neoliberale Programm schnell und gründlich zueigen. Seine Wähler gehörten in erster Linie zu den mittleren und oberen Bevölkerungsschichten. Die ersteren hatten unter der Globalisierung zunächst gar nicht oder nur wenig zu leiden, die Oberschichten profitierten von ihr. Nur die Sozialdemokratie konnte sich nicht länger der Tatsache verschließen, dass Gleichheit, Arbeit, Vernunft und Staat in der neuen globalisierten Welt nicht mehr gleichzeitig mit Wachstum und Internationalismus zu haben waren. Mit Entsetzen mussten die Genossen erleben, dass sie für den materiell am wenigsten begünstigten Bevölkerungsteil praktisch kaum noch etwas zu tun vermochte. Die Gewerkschaften, bis dahin das wichtigste Instrument für eine gerechtere materielle Verteilung, waren von den Auswirkungen der Globalisierung unmittelbar betroffen. Hilflos mussten sie ihrer eigenen Entmachtung zusehen. Welchen Druck konnte man noch mit Streiks erzielen, wenn der Arbeitgeber jederzeit damit drohen konnte, die Arbeit in ein anderes Land auszulagern? Zwei Milliarden Chinesen und Inder warteten nur darauf, den Deutschen, Franzosen und schließlich auch ganz Europa die Arbeit ganz abzunehmen. Was nutzte es überhaupt noch, sich für die Industriearbeit einzusetzen, wenn diese in den fortgeschrittenen Volkswirtschaften des Westens sukzessive von Dienstleistungstätigkeiten abgelöst wurde?

Es war dieses Gefühl äußerster Hilflosigkeit gegenüber den nun von außen hereinbrechenden Zwängen, welche Konservative und Sozialdemokraten trotz aller ideologischen Scheingefechte de facto ein und dieselbe Politik aufzwang. Links und Rechts machten sich schließlich die Ansicht von Margaret Thatcher zueigen, wonach es keine Alternative gäbe: There is no alternative. Der Wohlfahrtsstaat hatte ausgedient. Selbst die sozialdemokratischen Schweden bauten ihn ab. Das Fundament, auf dem das von Dahrendorf beschworene sozialdemokratische Zeitalter eben noch unerschütterlich zu ruhen schien, war plötzlich brüchig geworden. Die früheren Spielregeln galten nicht mehr. War es bis dahin möglich gewesen, dass die materiell schlecht oder schlechter Gestellten so lange Druck auf den privilegierten Teil der Bevölkerung ausübten, bis dieser nachgab und die Löhne, die Arbeitsbedingungen, die rechtliche Stellung der Bevölkerungsmehrheit verbesserte, so verlor diese Strategie nun ihren Sinn. Die Bedingungen der Arbeit: Löhne, Arbeitszeiten und schließlich das Arbeitslosengeld, die Rentenhöhe etc. wurden in immer höherem Grade von außen diktiert. Eine Partei, die in gewohnter Weise die Chefs der Unternehmen unter Druck gesetzt hätte, um bessere Bedingungen für die arbeitenden Menschen im eigenen Land zu erzwingen, ging ein immer höheres Risiko ein, weil der eigene Staat, den man bezeichnenderweise jetzt nur noch als „Standort“ bezeichnete, seine Wettbewerbsfähigkeit verlor. Man riskierte, die Unternehmen entweder in den Konkurs zu zwingen oder zur Auslagerung der Produktion. Mit den einmal so wirksamen Mitteln wurde nun das genaue Gegenteil dessen erreicht, was man beabsichtigt hatte. Schon im Jahr 2000 war das sozialdemokratische Zeitalter innerhalb nur eines einzigen Jahrzehntes an ein abruptes Ende gelangt.

Das war die Realität, die von den Parteien nach Kräften verschleiert wurde, z.B. dadurch, dass man innerhalb der nun von außen diktierten Rahmenbedingungen, auf rechter Seite etwas mehr für die Arbeitgeber oder umgekehrt auf der linken etwas mehr für den arbeitenden Teil der Bevölkerung tat. Doch tatsächlich wurde die Manövrierfähigkeit der nationalen Parlamente immer mehr eingeschränkt. Im linken Lager war Gerhard Schröder der erste, der aus der Not eine scheinbare Tugend machte, indem er bewusst jener Politik den Rücken kehrte, die bis dahin das für das sozialdemokratische Zeitalter charakteristisch gewesen war. Er unterwarf sich den Märkten, indem er die Ansprüche der arbeitenden Bevölkerung herunterschraubte, Lohnverzicht forderte und Abstriche am Sozialstaat durchsetzte. Er tat dies in dem richtigen Kalkül, damit die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands gegenüber dem Ausland zu stärken, so dass es mit der Wirtschaft und dann auch mit den arbeitenden Menschen danach wieder aufwärts ginge. Im Großen und Ganzen sollte er recht behalten. Deutschland wurde vom kranken Mann Europas wieder zu einer erfolgreichen Exportmacht.

Aber Schröder hatte damit denselben politischen Weg wie Margaret Thatcher und generell wie das konservative Lager beschritten. Sozialdemokratische Politik folgte in der Theorie und Programmatik zwar immer noch den alten ideologischen Imperativen, in der Praxis hingegen war sie – außer in unwesentlichen Details – ununterscheidbar von konservativer Politik geworden. Diese Entwicklung fand nicht nur in Deutschland statt, sondern ebenso in Österreich, Frankreich, England oder Italien. Beide, die linken und rechten Volksparteien, machten sich den Thatcher-Slogan zueigen, wonach es keine Alternative gäbe. Als ein dem globalen Wettbewerb ausgesetzter Standort müsse ein Staat zwangsläufig dem Druck von außen gehorchen. Die Folgerung aus dieser Forderung wurde freilich von den Parteien stets verschwiegen. Solange es Milliarden von Menschen gibt, die Arbeit um jeden Preis übernehmen, lief und läuft das auf einen Wettlauf nach unten (race to the bottom) hinaus.

An dieser Stelle drängt sich eine nahe liegende Folgerung auf. Wenn dem Staat, der jetzt nur noch ein Standort im globalen Wettbewerb ist, von außen diktiert wird, welche Löhne, Arbeitsbedingungen und schließlich auch welche Sozialleistungen für ihn noch in Frage kommen, dann hat Politik im klassischen Sinne ausgespielt. Sie büßt ihre Berechtigung und Notwendigkeit ein. Es genügt, wenn der Standort von einem Expertenteam aus Ökonomen, Infrastruktur- und Industrieplanern nach technisch-ökonomischen Kriterien gelenkt wird. Die demokratische Mitsprache der Bevölkerung macht in diesem Fall wenig Sinn, ja, sie ist sogar überflüssig und störend. Ein erfolgreicher Konzern wird ja auch von einer Handvoll von Fachleuten dirigiert – von Demokratie ist da keine Rede. Der Standortstaat ist eine Wirtschaftsmaschine, ein großer Konzern. Er braucht keine Demokratie (siehe China).

Tatsächlich müssen wir feststellen, dass diese Lektion inzwischen durchaus verstanden wurde. Eine Entwicklung weg von der Demokratie hin zu technokratischen Regierungen ist europaweit festzustellen. Die nationalen Parlamente haben einen großen Teil der eigenen Kompetenzen und Gesetzgebung bereits an Brüssel abgetreten, und Brüssel wird von einer Heerschar von Lobbyisten im Dienst der mächtigsten Konzerne gelenkt. Die Europäische Union wird von Technokraten beherrscht, deren wichtigstes Anliegen nicht länger das demokratisch definierte Wohlergehen der Bevölkerungsmehrheit ist, wie dieses einst das erklärte Ziel des sozialdemokratischen Zeitalters war und ebenso von Ludwig Erhard gefordert wurde. Das wichtigste Ziel besteht jetzt in der Wettbewerbsfähigkeit der großen Konzerne – auch wenn dieses Ziel nur mit dem schleichenden Verfall des allgemeinen Wohlstands und dem Abbau der Demokratie erreicht werden kann.

Wir wissen, dass Menschenmassen verführbar sind. Demokratien bieten daher keine Gewähr für ein intelligentes Verhalten der Bevölkerung. Doch auf längere Sicht ist es kaum möglich, die Menschen in die Irre zu führen. Sie haben schon längst durchschaut, dass es heute – im Gegensatz zu den ersten Nachkriegsjahrzehnten – wenig Unterschied macht, welche der beiden Volksparteien sie wählen. Nur die Gesichter wechseln, nicht die Grundlinien der Politik. Wie sollte es auch anders sein, wenn beide darauf bestehen, dass es keine Alternative gibt?

In beinahe allen Ländern Europas erleben die Volksparteien derzeit einen dramatischen Bedeutungsverlust und Schrumpfungsprozess. Mit richtigem Instinkt erkennt die Mehrheit, dass neue Antworten aus dieser Richtung derzeit nicht zu erwarten sind. Dagegen können sich die Grünen in Deutschland über einen so gewaltigen Aufschwung freuen. Immerhin verfechten sie in einem – und noch dazu in einem für die Zukunft zentralen Bereich, dem der Umweltpolitik – wesentlich neue und bessere Vorstellungen und Ziele. Die Grünen sind eine innovative Kraft, und man kann ihnen daher nur das Beste wünschen. Sie sehen auch die drohende Gefahr einer schleichenden Entdemokratisierung. Allgemein sind sie hellhöriger und reagieren empfindlicher auf die großen Probleme der Zeit. Nur in einer – und leider in einer durchaus wesentlichen Hinsicht – unterscheiden sie sich nicht von den Großparteien. Bisher ist es ihnen nicht gelungen, der von diesen vertretenen Alternativlosigkeit in der Wirtschaftspolitik einen glaubhaften Gegenentwurf gegenüberzustellen. Das war wohl auch nicht zu erwarten. Die Grünen sind zunächst und vor allem grün, d.h. sie vertraten eine Wende in der Umweltpolitik, ansonsten kommen ihre Parteimitglieder und Wähler aus allen Lagern. Sie vertreten demnach durchaus unterschiedliche und zum Teil widersprüchliche Richtungen. Bisher waren sie wohl auch eher in Gefahr, den Interessen der Bildungsbürger und damit denen der höheren Bevölkerungsschichten nahe zu stehen. Die Bevölkerungsmehrheit bringt für die notwendige Wende in der Umweltpolitik bisher (leider) nur wenig Interesse auf. Hier stehen Arbeit, Lohn und Ferien an erster Stelle – alles das also, was heute in den Staaten der südlichen Peripherie Europas aufs Höchste bedroht ist und bei uns mit dem Neuaufflammen der Krise gleich wieder bedroht sein wird.

Es ist daher wenig wahrscheinlich, dass nach dem Niedergang des sozialdemokratischen Zeitalters und der zunehmenden Ununterscheidbarkeit von Rechts und Links die Grünen als die eigentlichen Sieger die politische Bühne beherrschen. Sobald der Atomausstieg in Deutschland eine vollzogene Tatsache ist, stehen sie vor dem entscheidenden Problem, ob sie auch auf die übrigen Fragen eine überzeugende Antwort finden, vor allem auf das Schlüsselproblem der Globalisierung. Bis jetzt ist das nicht der Fall.

Die Lösung dieses Problems ist aber entscheidend. Müssen sich die Länder Europas, und muss sich die Europäische Union insgesamt den Diktaten der Märkte beugen? Muss sie sich von ihnen eine technokratische Politik vorschreiben lassen, die letztlich alle demokratische Mitbestimmung überflüssig und sogar hinderlich macht und den Standortstaat in eine Art von Megakonzern umwandelt? Von den beiden Volksparteien ist diese Frage schon beantwortet worden: Es gibt keine Alternative.

Die Mehrheit der Europäer aber leidet seit zwanzig Jahren unter dieser Alternativlosigkeit. Im Namen der Wettbewerbsfähigkeit werden ihre Ansprüche stetig zurückgeschraubt. Das gilt selbst dann noch, wenn man von den vorübergehenden Aufschwüngen absieht, die vorläufig noch Deutschland und Österreich in eine gewisse Euphorie versetzen. In den einst so reichen Ländern der Europäischen Union ist das Prekariat eine Erfindung des einsetzenden 21. Jahrhunderts, und das gilt auch für eine Arbeitslosigkeit über zwanzig Prozent, wie sie derzeit in Spanien herrscht. So etwas hatte es nach dem Kriege nicht mehr gegeben. Die Bevölkerung erkennt durchaus richtig, dass die Bedrohung von außen kommt, aber sie vermag die zugrunde liegenden ökonomischen Mechanismen nicht zu durchschauen, weil sie darüber von der politischen Führung einschließlich der Medien auch gar nicht aufgeklärt wird. Die Bevölkerung lebt mit einer unterschwelligen Angst.

Umso anfälliger ist sie für die Botschaften jener Parteien, die diese Ängste sehr wohl wahrnehmen, sie kanalisieren und auf bestimmte Feindbilder lenken. Nach 1929 wurde die Angst vor den Juden geschürt, die an allem schuld sein sollten. Jetzt sind es abwechselnd Muslime, Bankiers, Industrielle oder die Brüsseler Kommission.

Parteien, die diese künstlichen Feindbilder beschwören, haben sich als die eigentlichen Nutznießer der Krise erwiesen. Es ist zu befürchten, dass sie beim Ausbruch der großen Krise, deren Eintreten meines Erachtens nur noch eine Frage der Zeit ist, endgültig zur politischen Dominanz gelangen und die seriösen Parteien hinwegfegen werden. Außer Scheinlösungen haben sie zwar nichts zu bieten, aber eines haben sie dennoch erkannt – und genau darauf beruht ihr Erfolg. Die Antworten der alten Parteien haben ihre Glaubwürdigkeit eingebüßt. Man könnte die alten Parteien durch einen Stab aus Technokraten ersetzen – und nichts würde sich ändern. Selbst falsche, irreführende, gefährliche Antworten, selbst Verhetzung und der Verlust der bis dahin herrschenden zivilisierten Umgangsformen vermögen in Zeiten der Ratlosigkeit mehr zu überzeugen als eine Politik, die de facto keine Alternativen sieht.

Mit dem Niedergang des sozialdemokratischen Zeitalters kündigt sich fast überall in Europa der Aufstieg des Rechtsextremismus an. In Österreich ist es die FPÖ des Heinz-Christian Strache, in Frankreich sind es die Le Pens der Front National, in den Niederlanden ist es die Freiheitspartei des Geert Wilders, in Italien die Lega Nord.

Man macht es sich zu einfach, wenn man diese Parteien nur verketzert und in ihnen das schlechthin Böse erblickt. Immerhin sprechen sie einen schnell wachsenden Teil der Bevölkerung an. Es ist keinesfalls auszuschließen, dass es neuerlich zu einer Radikalisierung kommt, wie wir sie schon einmal in Mitteleuropa erlebten. Auch damals wurden nicht die realen Geschehnisse – nämlich die von den Vereinigten Staaten auf Europa übergesprungene Weltwirtschaftskrise und ihre verheerenden Folgen – für den Einbruch der Wirtschaft und die daraus entstehende Not verantwortlich gemacht, sondern die wahren Probleme wurden durch künstlich geschaffene Feindbilder ersetzt. Und auch damals fiel den etablierten Parteien keine überzeugende Antwort für die Überwindung der Krise ein. Das Volk warf sich den Demagogen in die Arme. Wir wissen, wohin das führte.

Lord Dahrendorf irrte, wenn er glaubte, dass das sozialdemokratische Programm, einmal verwirklicht, den nachfolgenden Zeiten als unerschütterliches Fundament dienen würde. Ein soziales Programm, gleichgültig ob von Ludwig Erhard oder von den Sozialdemokraten initiiert, wird sehr schnell annulliert, wenn es nicht länger möglich ist, dafür auf wirkungsvolle Weise zu kämpfen. In Deutschland, Österreich und den anderen Staaten der Europäischen Union führte man diesen Kampf bis in die neunziger Jahre. Danach hat die Globalisierung dessen Spielregeln außer Kraft gesetzt. Die guten Absichten sind weiterhin da, aber unter den radikal veränderten Bedingungen verpuffen sie wirkungslos.

Hier sehe ich den tieferen Grund für das wachsende Misstrauen der Wähler gegenüber den etablierten Parteien. Wollen diese ihre verlorene Glaubwürdigkeit zurückerlangen, dann müssen sie sich zu einer radikalen Wende entschließen: Sie müssen die Globalisierung in ihrer gegenwärtigen Form selbst auf den Prüfstand stellen. Gibt es wirklich keine Alternative zu freiem Handel und freiem Kapitalverkehr und jener Herrschaft der „Internationale der Gläubiger“, von der ich in einem anderen Artikel sprach?

Bisher zeigen die alten Parteien wenig Bereitschaft zu einem solchen Überdenken ihrer bisherigen Positionen. Das könnte sich ändern, wenn die nächste große Krise erst die EU und – aufgrund der Schuldenproblematik – danach den allgemeinen Wohlstand so sehr in Mitleidenschaft zieht, dass ähnliche Folgen wie 1929 eintreten. Doch wird ihre Bereitschaft, sich nach Alternativen umzusehen und sich dafür einzusetzen, dann nicht zu spät erfolgen? Wird ihr Versagen wiederum dazu führen, dass sich die ratlosen Massen in die Arme der Rechtsextremisten werfen?