(auch erschienen in: "scharf-links")
Glücklicherweise gibt es sie noch an unseren Schulen, Lehrer, die ihren Schülern ein hoffnungsvolles Bild der Zukunft vermitteln, weil sie Wissen mit Freundlichkeit, Verstehen und menschlicher Wärme vermitteln, Eigenschaften, die auf andere übergehen, ihnen Mut machen, schlafende Talente zum Leben erwecken, aber vor allem das Gefühl vermitteln, dass es sich lohnt, die eigenen Kräfte für sich selbst und seine Mitmenschen einzusetzen. Kein vernünftiger Mensch käme auf den Gedanken, optimistische und warmherzige Menschen als oberflächlich zu kritisieren, weil man doch zur gleichen Zeit mit dem Finger auf ein überwältigendes Elend überall in der Welt hindeuten könnte, ein Elend, das eher Pessimismus, wenn nicht Verzweiflung hervorruft.
Die Nähe ist immer das eigene Werk
Sollte man es nicht geradezu als ethische Verpflichtung verstehen, jungen Menschen eine heile – jawohl, eine heile – Welt vorzustellen, und zwar umso mehr je jünger sie sind? Mütter waren oft genug in der Lage, mitten im Krieg Kinder zur Welt zu bringen. Sie wussten, dass eine heile Welt selbst dann noch möglich sein kann, die ganz kleine Welt nämlich, die jeder sich in seiner unmittelbaren Umgebung erschafft. Optimismus und menschliche Wärme werden selbst dann nicht zur Lüge, wenn ringsumher die Welt wieder einmal in Trümmer zerfällt. Offenbar haben wir selbst es in der Hand, wenigstens im Verkehr mit den uns persönlich verbundenen Menschen die größtmögliche Annäherung an eine halbwegs heile Welt herzustellen. Das ist möglich, weil unsere unmittelbare Umgebung unser eigenes Werk ist. Sie kann noch so von außen bedroht und am Ende vielleicht sogar durch sie vernichtet werden. Trotzdem bleibt wahr, dass alles Glück oder Unglück in den Beziehungen zu den nächststehenden Menschen von uns selber abhängt. Hier tragen wir selbst die Verantwortung – und nicht die große Welt da draußen.
Deswegen scheint es mir ein Zeichen geistiger Gesundheit und auch von Ehrlichkeit, die Veränderung der großen Dinge immer bei den ganz kleinen Dingen beginnen zu lassen. Es wäre lächerlich, in den Horizont eines fünf- und selbst noch eines zehnjährigen Kindes die Finanz- oder Umweltkrise zu stellen – weniger deshalb, weil es intellektuell für diese Probleme noch nicht gerüstet wäre, sondern weil es in dieser Zeit ungleich wichtiger ist, es für den richtigen Umgang mit allen es unmittelbar betreffenden Problemen zu schulen. Bis zu einem gewissen Grade bleibt diese Maxime wohl ein Leben lang bestehen. Wir wissen alle, weil die Physik es uns unmissverständlich sagt und beweisen kann, dass unser Sonnensystem eines sehr fernen Tages kollabieren wird. Über einen Mann, der uns täglich vorjammern würde, dass die Menschheit spätesten in soundso viel Milliarden Jahre den Kältetod sterben wird, würden wir uns aber zu Recht lustig machen. Vielleicht endet er sogar in der Psychiatrie.
Die Fußangeln des Realismus
Es gibt Menschen, die sich selbst noch in hohem Alter den optimistischen Ausblick bewahren. Sie sind überzeugt, dass ihr eigener guter Wille alle Probleme löst, sofern es ihnen nur gelingt, ihn auch auf andere zu übertragen. In ihrer Wirkung tut diese Überzeugung ebenso wohl, wie umgekehrt der Zynismus der Pessimisten abstoßend und erkaltend wirkt. Pessimisten blicken immer weit in die Ferne, die Optimisten halten das Hier und Jetzt im Blick. Wer in die Weite auf das gesammelte Unglück in Geschichte und in entfernten Erdteilen schaut, darf sich brüsten, ein Realist zu sein, aber in Wahrheit hat dieser scheinbar objektive Realismus höchst ungünstige Folgen für ihn selbst und für andere. Er wird nämlich zur selbsterfüllenden Prophezeiung: Er lähmt die Kraft und Bereitschaft, die Dinge durch eigenes Tätigsein zum Besseren zu wenden – und sei es in noch so bescheidenem Maße. Jedenfalls sind die glücklichsten Epochen menschlicher Geschichte nie aus einer pessimistischen Grundstimmung erwachsen, sondern aus einer lebensbejahenden Gewissheit, dass man es allen Widerständen zum Trotz irgendwie schaffen und ein besseres Leben ermöglichen werde.
Yes we can: der Idealismus der grünen Bewegung
Zu einer Zeit, als die alten Parteien in Grabenkämpfen und Machtzynismus ihre Glaubwürdigkeit verschlissen, haben die Grünen einer solchen Perspektive der Hoffnung neuerlich zum Durchbruch verholfen. Ihre Bewegung entstand aus dem Protest gegen eine offensichtliche Fehlentwicklung: die fortschreitende Zerstörung der Umwelt. Aber wie David gegen den mächtigen Goliath traten sie gleich gegen eine ganze Reihe von Missständen ins Feld: Sie wollten eine strenge innerparteiliche Demokratie praktizieren, die Gleichheit der Geschlechter wenigstens in ihren eigenen Reihen durchsetzen. Transparenz und Ehrlichkeit statt Freundlwirtschaft in die Politik einführen. Und sie traten mit dem jugendlichen Schwung von Idealisten auf.
Das war gewiss kein Zufall. Nicht nur die überwiegende Zahl ihrer Wähler, auch der größte Teil ihrer politisch aktiv tätigen Mitglieder rekrutierte sich aus den Bildungsinstitutionen und dem mittleren bis höheren Bürgertum. Der typische Grüne ist überdurchschnittlich gebildet und ausgebildet, er ist ein brauchbarer Theoretiker und vor allem: Er bringt, wenn er dem Schulbereich und dem dort selbstverständlichen Umgang mit jungen Menschen entstammt, jenen belebenden Optimismus mit, der gegenüber jungen Menschen eine ethische Forderung und im Umgang mit allen anderen Menschen immer noch die beste Einstellung ist. Yes we can, war immer – ohne dass man deswegen das amerikanische Pathos nötig hätte – die Maxime von Pädagogen
Gefährdung durch einen allzu realitätsfernen Idealismus
Das intellektuelle Erbe dieser Herkunft aus der gehobenen Schicht des Bildungsbürgertums war zugleich Chance und Gefahr für die Grünen. Wer die Welt aus der Perspektive des vor Existenzängsten lange Zeit weitgehend geschützten Biotops der Schulen und Universitäten betrachtet, kann sie in seinem Kopf nach eigenem Gutdünken arrangieren – die Wirklichkeit wehrt sich nicht. Scheinbar hängt alles nur von der richtigen Einstellung ab. Was ich damit meine, möchte ich an einem heiß umstrittenen Beispiel erläutern, der Einwanderungspolitik. Ich möchte zeigen, dass der gute Wille nicht vor falschen Handlungsanleitungen bewahrt. In diesem Fall macht der Optimist eine schlechte Figur. Nicht ganz zu Unrecht wird ihm dann das demagogisch gebrauchte, bitterböse Wort des Gutmenschen angehängt.
Das Dorf empfängt einen Fremden, Wien empfängt Angelo Soliman
Ich möchte die Einwanderung am Beispiel eines kleinen Dorfes von, sagen wir, bis zu tausend Einwohnern illustrieren. Solange dort ein einziger Fremder, zum Beispiel mit schwarzer Hautfarbe, auftaucht, wie man ihn dort vielleicht noch niemals gesehen hatte, wird er mit offenen Armen empfangen. Man reißt sich darum, ihn näher kennen zu lernen. So ähnlich geschah es Cortez und seinen Leuten. Sie wurden von den Einheimischen, als sie deren Dörfer durchzogen, zunächst für Götter gehalten. Fremdenhass, der Hass gegenüber Menschen, die man bis dahin noch nicht einmal kannte, ist nirgendwo auf der Welt eine natürliche psychische Disposition. Vielmehr zeichnet ideologisch unverbildete Menschen eine spontane Wiss- und Neugierde gegenüber allem Ungewöhnlichen und Unbekannten aus. Die Geschichte Wiens kennt dafür ein lehrreiches Beispiel. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts war ein Schwarzer, Angelo Soliman, am Wiener Hof eine bekannte Figur. Angeblich tarockierte er sogar mit dem Kaiser. Freilich zeichnete sich die Psyche der Wiener schon damals durch einen dunklen, man möchte sagen, makabren Wesenszug aus. Ihre Neugierde machte nämlich selbst vor dem toten Angelo Soliman nicht halt: Man stopfte ihn aus, um ihn im kaiserlichen Naturalienkabinett zur Schau zu stellen. Offenbar wollte man sich auch nach dem Ableben des Negers noch an seinem Anblick erfreuen. Eine gleich übertriebene Liebe haben die Wiener nie gegenüber ihren eigenen Herren bekundet. Fürst Eugen von Savoyen – auch ein Fremder – wurde meines Wissens nie ausgestopft.
Es ist eine Sache der Zahl
Kehren wir zu unserem Dorf zurück. Der einzelne Fremde – ob schwarz wie Soliman oder weiß wie Hernando Cortez und seine Männer – ist eine Sensation, um die man sich reißt. Je auffälliger sein Benehmen, umso größer die Neugierde, denn gerade durch seine Andersartigkeit macht er sich interessant. Vielleicht wird man eine solche spontane Gastfreundschaft in einem Dorf von tausend Einwohnern auch noch zehn Schwarzen entgegenbringen, obwohl man dann schon das erste Murren vernehmen wird. Warum soll es den Fremden erlaubt sein, sich mit ihrer anderen Lebensweise über die geltenden Regeln hinwegzusetzen, während alle übrigen Dorfbewohner in einem Korsett der Normalität gefangen sind und jeder sich der größten Kritik aussetzt, wenn er sich auch nur die geringsten Verstöße gegen die Norm erlaubt?
Nun stellen wir uns vor, dass aus zehn auf einmal 100 oder 200 schwarze oder sonstige Fremde werden, die sich zu eigenen Gruppen absondern und ihre Andersartigkeit bewusst und vielleicht sogar mit Stolz nach außen kehren, weil das Leben der Dorfbewohner ihren hergebrachten Vorstellungen von richtigen Sitten und Anschauungen zutiefst widerspricht. Man braucht nur ein Minimum an Menschenkenntnis, um das Verhalten der Dorfbewohner wie in einem griechischen Drama vorauszusehen. Die anfängliche Fremdenliebe – eine natürliche Wirkung menschlicher Wissbegierde – schlägt zunächst in Misstrauen und schließlich in unverhohlene Abwehr um. Man fühlt sich nicht länger bereichert, sondern provoziert und herausgefordert. Und das aus einem psychologisch verständlichen Grund: Das eigene Leben erscheint durch die gelebte Andersartigkeit jener Fremden entwertet, seine Selbstverständlichkeit in Frage gestellt. Die Andersartigkeit wird nun als Bedrohung wahrgenommen. Aus Fremdenliebe wird Fremdenhass.
Die unerlässliche Funktion geographischer Grenzen
Die Gefahr einer solchen Entwicklung ist weit geringer, solange ein geographischer Abstand herrscht, so wie ihn jedes Elternhaus schützend um die eigenen Kinder errichtet und auch noch die Schule um die Heranwachsenden. Das Fremde jenseits der Grenzen kann man ignorieren. Es braucht keinen Einfluss auf das eigene Leben zu haben. Das Fremde inmitten des eigenen Lebensraums aber stellt die eigene Ordnung, die eigenen Ideale, die eigenen Selbstverständlichkeiten in Frage.
Fremdenhass ist eine unverzeihliche Dummheit, Fremdenhetze ein Verbrechen gegen den Menschen als Mitgeschöpf. Es gibt keine große und alte Kultur jenseits unserer Grenzen, die sich nicht bei näherem Hinsehen als ein komplexes Kunstwerk entpuppt, das für die in und mit ihm lebenden Menschen ein Sicherheit verleihendes Gehäuse darstellt, bestehend aus den je eigenen ästhetischen, moralischen, philosophischen und religiösen Werten. Je tiefer das Verstehen des Anderen in die Tiefe reicht, umso größer wird die sich in stumpfer Ablehnung bekundende Dummheit.
Dennoch: Idealisten können Schaden anrichten
Es ist von größter Bedeutung, dass unsere Schulen die Kinder in dem Gefühl bestärken, dass die Verschiedenheit der Kulturen und Religionen ein Ausdruck menschlicher Vielfalt sei und sicher kein Grund für gegenseitiges Misstrauen, geschweige denn Kriege. Aber es ist nicht gut, wenn die Lehrer aus solchen Schulen dann zu Politikern werden und aus ihren Anschauungen den Schluss herleiten, dass ein aufgeklärter Staat sich für eine unbeschränkte Einwanderung einsetzen solle. Denn in diesem Fall begeht der Politiker einen unverzeihlichen Fehler: Er setzt voraus, dass alle Menschen so denken, wie er selbst es sich aus Einsicht oder einem moralischen Imperativ zur Pflicht gemacht hat. Der Lehrer hätte an jenes keineswegs fiktive Dorf denken müssen, wo man zehn Fremde gerade noch erträgt, aber eine wachsende Zahl von Fremden alle Gastfreundschaft schließlich im Keim erstickt. Ein aufgeklärter Politiker hätte mit ganzem persönlichen Einsatz dafür sorgen müssen, dass die zehn Fremden schließlich zu vollständig gleichberechtigten Mitbürgern werden. Wenn er jedoch – nur um sich selbst und den anderen die eigene Aufklärung und intellektuelle Überlegenheit zu beweisen – immer neue Fremde ins Dorf holt und die sich dagegen erbittert sträubenden Einheimischen als zurückgeblieben, borniert, fremdenfeindlich bloßstellt, dann zerschlägt er kostbares Porzellan. Am Ende stellt er auch noch das Zusammenleben mit jenen Fremden in Frage, die als ebenbürtige Bürger bereits in die Gemeinschaft integriert worden sind.
Beamte und Lehrer leben in einer eigenen Welt
Ich sehe darin die verderbliche Folge eines Idealismus, der sich an einer abstrakten Lehre, aber nicht an den realen Ängsten und Nöten in der breiten Bevölkerung orientiert. Wer wie die grünen Idealisten überwiegend aus dem geschützten Biotop des Bildungsbürgertums stammt, ist emotional sehr weit entfernt von dem harten wirtschaftlichen Kampf und der Existenzangst, unter denen wachsende Teile der Bevölkerung leiden. Böse Ressentiments gegen die anderen, die einem den Arbeitsplatz stehlen oder die gar vom Staat für ihr Nichtstun erhalten werden, sind bei ihnen aufgrund ihrer ganz anderen wirtschaftlichen Lage kaum denkbar. Lehrer, Beamte, Ärzte, Apotheker und Rechtsanwälte sind in ihrer Existenz auch durch noch so große Einwanderung nicht gefährdet. Es fällt ihnen daher überaus leicht, sich in einen schönen Kokon einzuspinnen, wo sie keines der üblichen Vorurteile erreicht. Allenfalls erreicht sie das Faktenwissen, dass Fremdenhass und Fremdenverfolgung während der ganzen menschlichen Geschichte die traurige Regel waren – gerade auch bei uns in Mitteleuropa, wo diese Verblendung noch im vergangenen Jahrhundert Hekatomben von Opfern gefordert hat. Aber ein kurzsichtiger Weltverbesserer wird einfach behaupten, dass er selbst und die Menschen des 21. Jahrhunderts doch glücklicherweise grundsätzlich anders seien. Ich fürchte, diese Auffassung ist einfach falsch. Nur eine recht kleine Schicht von Intellektuellen ist anders. Und das genügt nicht, um die Welt zu verändern.
Idealismus gepaart mit Menschenkenntnis
Die Grünen verfechten die richtigen Positionen, aber sie irren sich, wenn sie meinen, dass ihr eigener Idealismus genügt, um auch bei anderen ein Umdenken zu bewirken. Wirklich große Politiker dachten da anders. Ich habe etwa Männer wie Konrad Adenauer, Willi Brandt und Bruno Kreisky vor Augen. Sie wussten genau, was sie wollten. Sie hatten für ihr Land bestimmte Ziele im Auge, die sie unbeirrt verfolgten. Es waren idealistische Ziele für ein besseres menschliches Miteinander und ein friedlicheres Verhältnis zwischen den Nationen. Aber alle drei machten sich gar nichts vor, was die menschliche Natur betrifft. Keiner von ihnen glaubte, dass die Bewohner des (globalen) Dorfes schon deshalb in Zukunft andere sein würden, weil sie selbst es gerne so hätten. Alle drei hatten die Zeit des Grauens erlebt und wussten, wozu der Mensch fähig ist. Die Grünen hatten die Chance der späten Geburt. Sie sind nach dem Krieg groß geworden. Sie waren glücklich genug, dass ihnen die Zeit der Schrecken erspart blieb, aber genau deswegen neigen sie zu einem immer wieder leichtfertigen, um nicht zu sagen, blauäugigen und realitätsfremden Optimismus, der in den Bildungsinstitutionen und im unmittelbaren menschlichen Verkehr ein ethischer Imperativ ist, aber in der Politik nicht selten das Gegenteil des Beabsichtigten bewirkt. Ihre manchmal geradezu von Enthusiasmus getragene Bejahung der Einwanderung ist da nur eines von vielen Beispielen.
Die Puritaner
Nirgendwo konnte und kann man dem Typus des kompromisslosen Idealisten eher begegnen als unter den Grünen. Das hat einen verständlichen Grund: Nirgendwo fühlt man sich so unbedingt wohl und sicher aufgehoben wie in einer Weltanschauung, die einem die wunderbare Überzeugung beschert, grundsätzlich im Besitz einer Lösung für alle wesentlichen Probleme zu sein. Das verleiht so manchem Grünen dieselbe Aura intellektueller Gewissheit bis hin zur lächelnden Arroganz, wie man sie unter Sektenanhängern findet. Auch diese leben mit dem Bewusstsein, im Licht der reinen Wahrheit zu baden. Unter den Grünen gibt es die ideologischen Puritaner, die absolut Reinen, die gegen Verführung Unbeugsamen und die gegen jede Abweichung vom rechten Pfad Unnachsichtigen.
Peter Pilz
Man kann das auch als eine besondere Stärke erleben wie gegenwärtig in Österreich. Dort können sich die Grünen damit brüsten, in ihren Reihen einen so hervorragenden Aufklärer wie Peter Pilz zu besitzen, der mit Hartnäckigkeit und Expertenwissen der Korruption der großen Parteien bis in ihre letzten Schlupfwinkel folgt. Peter Pilz ist der Gottseibeiuns der etablierten Parteien. Ohne Leute wie ihn würde die Demokratie an ihren eigenen Akteuren zugrunde gehen. Richard von Weizsäcker hatte dies schon vor Jahren vorausgesehen, als er die Entwicklung der großen Parteien zu machtversessenen und machtvergessenen Apparaten hart kritisierte. Parteidisziplin ist auch dann noch eiserne Regel, wenn sie der Vertuschung offensichtlicher Lügen dient. Am traurigsten stimmt dabei der Anblick all jener Leute, die in ihrer Jugend einmal von Idealen beseelt in eine rechte oder linke Bewegung eintraten und dann nach Verlauf weniger Jahre Parteidienst zu braven Zinnsoldaten mutierten, denen jede Verdrehung der Wahrheit gerade recht ist, wenn man damit die eigenen Leute schützt. In Österreich bilden die Grünen eine Bollwerk der Ehrlichkeit. Sicher hängt das auch damit zusammen, dass sie auf nationaler Ebene noch nie an die Macht gelangten. Soll man ihnen wünschen, dass sie es dazu bringen?
Die deutschen Grünen nach einem Akt der Vergewaltigung
Die Antwort auf diese Frage fällt schwer. Jedenfalls kann das Beispiel der deutschen Grünen nicht der Ermutigung dienen. Mit ihnen geschah, was Mao mit den großstädtischen Intellektuellen so ausgiebig praktizierte. Er schickte sie aus ihrem geschützten Bereich plötzlich aufs Land, um sie gewaltsam mit der Not und den Sorgen der kleinen Leute zu konfrontieren. Eine harte Lehre, die man Lehrern nicht wünscht, weil auch die Kinder in ihrem Unterricht bis zu einem bestimmten Alter von solcher Not und solchen Sorgen nicht allzu viel wissen sollten. Wenn Bildungsbürger, deren Weltanschauung bis dahin in einem künstlichen Habitat gedieh, auf einmal mit der rauen Wirklichkeit konfrontiert sind, dann kann das Verheerungen bewirken. So jedenfalls geschah es mit den Grünen in Deutschland, als sie von einem starken Mann gewaltsam und gleichsam über Nacht umgepolt wurden. Dieser starke Mann war Joschka Fischer. Alles, was den Grünen bis dahin heilig war, hat dieser Demagoge mit heiserer Stimme und geballter Faust niedergeschmettert und niedergebrüllt. Aus einer Bewegung, die schon in ihrem Namen den Schutz der Umwelt zum obersten Ziel erhob, hat er eine Partei gemacht, in der dieses Ziel die Priorität einbüßte. Aus einer Gruppierung, welche der demokratischen Gleichrangigkeit einen hohen Wert beimaß, hat er eine hierarchische Kampftruppe geschmiedet, in der er selbst den General spielen konnte. Aus einem Bund von Pazifisten, die im Krieg das größte denkbare Übel sah, hat er Abnicker gemacht, die nach erfolgter Gehirnwäsche ihr Placet zu einem völkerrechtswidrigen Krieg erteilten. Und aus Menschen, denen nichts widerwärtiger was als die Anbetung der Macht, ließ er die neuen Grünen werden, denen der Erwerb und die Verteidigung der Macht als höchstes Ziel gelten sollte. Berüchtigt ist Fischers diesbezüglicher Ausspruch, mit dem er nicht weniger als die moralische Grundlage der Partei zersprengte. „Es geht um drei Dinge, erstens Macht, zweitens Macht, drittens Macht.“ Einen solchen Spruch würde man auch von einem Dschingis Khan erwarten.
Ein Außenminister als Vorkoster im Supermarkt
Zweifellos war Fischer ein starker Mann, aber hinter dieser Stärke stand nicht viel mehr als ein überdimensioniertes Ego und ein unbändiger Machttrieb. Fischer hat so lange gebrüllt, bis alle ihm ohne zu Mucken folgten. Wer aufbegehrte, wurde beiseite geschoben. Die Folge war absehbar. Wer Macht um ihrer selbst willen verklärt, wird zwangsläufig dazu getrieben, eine amoralische Politik zu betreiben. Unter Fischer hat es die deutschen Grünen als moralische Instanz nicht länger gegeben: Werte und Ideale zerbröselten. Wie sehr das der Fall ist, lässt sich nicht zuletzt an Fischers eigener Biographie ablesen. Der einstige Außenminister Deutschlands gibt sich nun dafür her, dem Großkonzern REWE sein größtes Kapital zur Verfügung zu stellen, nämlich sein zitronensaures Promi-Gesicht. Er tritt damit unter anderem in Supermärkten auf. Man stelle sich vor, Konrad Adenauer, Willi Brandt oder Helmut Kreisky hätten ein derartiges Ende genommen!
Piraten sind kein Ersatz für die Grünen
Die Vergewaltigung grüner Idealisten durch den Machtmenschen Fischer, der das Parteiboot sozusagen im Handstreich von außen geentert hatte, blieb nicht ohne Folgen. Sicher wären die Wutmenschen Deutschlands, die Piraten, nicht auf Anhieb so stark geworden, gäbe es dort nicht ein verbreitetes Gefühl, dass echte Alternativen zu den etablierten Parteien nicht länger bestehen. Die Piraten sind aber kein Ersatz für die Grünen. Liquid Democracy mag ein bequemes technisches Instrument sein, um die Beteiligung an wichtigen politischen Entscheidungen zu verallgemeinern, aber dieses Instrument ist wertlos ohne eine vorhergehende Aufklärung und Bildung der Abstimmenden. Demokratie verliert ihren Sinn, reduziert man sie auf das bloße Mausklicken uninformierter Bürger. Seit es die Demokratie als Staatsform gibt, läuft alles auf politische Bildung und politisches Wissen hinaus – gleich weit entfernt von bloßem Gut- und bloßem Wutmenschentum. Es kommt darauf an, die richtigen Zukunftsperspektiven zu wählen – also eine wertbegründete Haltung – zugleich aber auch ein zuverlässiges Wissen um die Chancen und Hindernisse auf dem Weg zu deren Verwirklichung zu verbreiten. Hier besitzen die Grünen immer noch hervorragende Karten. Der Schutz der Umwelt wird als politisches Programm aber kaum mehr genügen. Ich bin überzeugt, dass sie daraus nur dann ein Anliegen der breiten Bevölkerung machen können, wenn sie ihn mit einem ebenso entschiedenen Eintreten für den Schutz der sozial Schwachen verbinden. Die Grünen waren eine wirkliche Bereicherung der Parteienlandschaft. Man kann nur hoffen, dass sie es bleiben.