Den Wirtschaftstreibenden wird antizyklisches Verhalten empfohlen. In Zeiten blühender Konjunktur, solle man Schulden abbauen, in Zeiten des Niedergangs eher Schulden machen. Was mich betrifft, so schien es mir geraten, die gegenwärtige Coronakrise antizyklisch zu meistern. Ringsumher sehe ich Leute, welche die Welt und sich selbst vor dem Virus retten wollen. Da nahm ich mir vor, mich vor dem Denken über das Virus zu retten, das inzwischen nicht nur die Körper infiziert sondern auch noch die Hirne. Was könnte in dieser Situation erzwungener Selbst-Isolation besser sein, als daraus eine Zeit der Selbst-Besinnung zu machen?
Vor acht Jahren hatte ich ein Manuskript beiseitegelegt, zu dem mich die Lektüre von Richard Dawkins Buch „Der Gotteswahn“ angeregt hatte – ein Weltbestseller, der seinen Erfolg wohl vor allem der Tatsache verdankt, in zweierlei Hinsicht eine Position von größter Eindeutigkeit zu beziehen. Die erste: Religionen seien nicht nur überhaupt überflüssig sondern eine Gefahr – die wohl größte, der sich der Mensch in seiner Geschichte ausgesetzt habe. Religionen hätten falsches Wissen immer wieder mit Fanatismus verteidigt. Sie setzen Autorität gegen eigenes Denken, unterjochen den einzelnen, statt ihn zur Mündigkeit aufzurufen.
Seine zweite Grundthese hat der britische Evolutionsbiologen nicht minder klar formuliert. In unserer Zeit sei der Mensch endlich in die Epoche der siegreichen Wissenschaft eingetreten, die dem religiösen Irrsinn ein Ende setzt. Wissenschaft vermag alle Fragen zu lösen, die dem Menschen bis dahin unlösbar erschienen.
Ich nehme an, dass das Problem des Coronavirus irgendwann von der medizinischen Wissenschaft gelöst werden wird – wenn nicht in diesem Jahr, dann in einem der folgenden. Aber niemand wird so naiv sein, anzunehmen, dass die Menschheit selbst in ferner Zukunft ein Stadium erreichen wird, wo sie sämtliche Probleme bemeistert. Sie würde ein solches Stadium, wenn es denn möglich wäre, vermutlich als ebenso unerträglich bewerten wie die Probleme selbst, denn wäre das nicht einen Stillstand allen Denkens und Handelns nach sich ziehen?
In meinem Bestreben, antizyklisch über derartige Fragen zu denken, besann ich mich darauf, dass Albert Einstein – ein Wissenschaftler, der es an Rang und geistiger Weise denn doch mit einem Richard Dawkins mühelos aufnehmen kann – ein ganz anderes Verhältnis als Letzterer zur Religion bezogen hatte und dass dies auch für andere große Physiker wie beispielsweise Niels Bohr, Max Born, David Bohm oder Erwin Schrödinger gilt. Ich nahm das Manuskript zur Hand und der Titel war augenblicklich gefunden:
„Der Dawkinswahn oder die Antwort der Mystik – Duell zwischen Wissenschaft und Religion?„
Wie zu erkennen, habe ich meiner Neigung zur Polemik nicht ganz entsagen können, obwohl ich Dawkins geist- und kenntnisreiches, streckenweise auch von britischem Witz belebtes Buch mit größter Spannung gelesen hatte. Dawkins Wahn liegt an einer anderen Stelle, wo man ihn auch immer bei sich selbst fürchten muss. Er sieht den Balken im Auge des Gegners – dort sieht er ihn überdeutlich und zerlegt dessen Argumente nach allen Regeln der Kunst. Aber im eigenen Auge sieht er ihn nicht. Sein hohes Lied auf die Wissenschaft verbirgt, dass diese gerade, wenn sie am größten ist, nämlich kritisch gegen sich selbst, auch um ihre Grenzen weiß. Darum geht es in meinem ganz und gar antizyklischen Buch; es geht um die Grenzen der Religion und des Wissens und welcher Bereich möglicherweise jenseits dieser Grenzen liegt. Ich spreche darüber auf dem rückwärtigen Buchumschlag:
Die Menschheit hat bisher zwei universale Sprachen erfunden, die zu allen Zeiten und auf allen Kontinenten verstanden wurden – die Sprache der Fakten (heute Wissenschaft genannt) und die Sprache der Intuition (Mystik), doch wurden und werden beide zu Zwecken der Macht missbraucht. Macht-Religion und Macht-Wissenschaft haben das Bild der Wirklichkeit verzerrt. Es ist an der Zeit, dass kritische Wissenschaft sich zurückbesinnt auf die Grenzen der Ratio und selbstkritische Religion auf ihre mystischen Ursprünge. Das ist keine Absage an die scharfe Intelligenz eines Richard Dawkins, wohl aber an einen unkritischen Wahn.
Der Untertitel der deutschen Ausgabe stellt die Frage: „Duell zwischen Wissenschaft und Religion?“ Wir wissen, dass es dieses Duell seit dem 17ten Jahrhundert gibt. Es wird keineswegs mit Dawkins enden – bis zum heutigen Tag stehen Macht-Wissenschaft und Macht-Religion einander unversöhnt und unversöhnbar gegenüber. Aber diese Gegnerschaft gilt gerade nicht für das Verhältnis von kritischer Wissenschaft zu selbstkritischer Religion, nämlich zur Mystik. Aldous Huxley hatte die Mystik als „Philosophia perennis“ bezeichnet: eine ewige und universale Philosophie. Was verbindet die Mystik der Upanishaden, des Islam, des Zen und des Christentums mit der kritischen Wissenschaft? Auf diese Frage will das Buch eine Antwort geben.
P.S: Ich habe das Buch auf deutsch und englisch bei Amazon publiziert und zwar im Kindleformat und als Taschenbuchausgabe. Zwar ist mir bewusst, dass gerade unter meinen Lesern so mancher vor einem Kauf bei Amazon zurückschreckt. Ich räume auch ein, dass es dafür triftige Gründe gibt, andererseits sollte man nicht vergessen, dass Amazon als Verlag wohl der einzige ist, der jedem Zugang bietet, der ein Buch schreiben und gestalten kann, also der einzige wirklich demokratische Verlag. Ein kritischer, sachkundiger, vorurteilsfreier Lektor in einem renommierten Verlag ist zwar unersetzbar, aber wie viele Verlage können sich heute noch diesen Luxus leisten? Die meisten animieren ihre Lektoren dazu, ihr Urteil an den zu erwartenden Verkaufszahlen zu orientieren. Wer über Mystik und kritische Wissenschaft schreibt, richtet sich aber an nachdenkliche Menschen, also an eine Minderheit. Ich bin Amazon dankbar, dass es mir dafür eine Plattform bietet.
Kommentar von Karl-Markus Gauß:
Sehr geehrter Herr Jenner,
ich zähle zu den dankbaren Empfängern Ihrer für mich stets interessanten Ausführungen zu den Fragen unserer Zeit. Ich verstehe aber nicht, warum Sie sich in der Einbegleitung dieses Mal gar so sarkastisch und bitter über die Europäische Datenschutz-Grundverordnung äußern, die ja keineswegs ein Anschlag auf die freie Kommunikation darstellt, sondern den Empfängern unerbetener Massenpost endlich die Möglichkeit einräumt, sich derlei zu verbieten. Ich bin jedenfalls froh, nicht weiterhin täglich dreißig Mails zu erhalten, in denen mich Firmen für Herrenbekleidung über ihre neueste Kollektion, esoterische Apotheker über ihre Wundermittel zum Abnehmen oder Zunehmen, Reiseveranstalter über günstige Flugreisen und irgendwelche Finanzdienstleister über erfolgversprechende Aktien unterrichten; zumal ich keine neuen Anzüge oder Wunderarzneien erstehen, Kreuzfahrtreisen antreten und Aktien erwerben möchte.
Alles Gute, Ihr Karl-Markus Gauß
Meine Antwort:
Lieber Herr Gauß,
ich freue mich sehr, dass Ihnen meine Texte gefallen. Ihre Erkundungen über verstreute Ethnien und andere kuriose Zeitgenossen habe ich gleichfalls immer mit Spannung und Gewinn gelesen. Aber bitte verraten Sie mir, was ich so Abträgliches über den Datenschutz verbreite – ich war mir dessen (vermutlich aus Naivität) bisher gar nicht bewusst.
Nichts für ungut, sondern im Gegenteil: alles Gute
Gero Jenner
P. S.: Der Text, der unter dieser Mail zu lesen ist, dient allein dazu, mich rechtlich abzusichern. Ich dachte, dass ein wenig Witz nicht schaden würde, aber er ist gewiss nicht gegen die Intentionen der EDG gerichtet!