Der Zufall und der Liebe Gott

Anton Zeilinger gewidmet

1. Wenn einer der führenden Wissenschaftler unserer Zeit, der Quantenphysiker Anton Zeilinger, die Entdeckung des Zufalls als die bedeutendste Entdeckung des 20. Jahrhunderts feiert, dann sollte man aufhorchen.*1* Mit dieser Auffassung stellt er sich einer Tradition entgegen, die bis zu den Babyloniern zurückreicht und natürlich zu all jenen über die ganze Welt verbreiteten Praktiken, mit denen der Mensch über das Studium der Sternkonstellationen (Astrologie), Leberbeschau und sonstige Orakel die Zukunft erkunden wollte, weil diese angeblich seit Schöpfungsbeginn festgelegt sei. Seit dem siebzehnten Jahrhundert ist aus diesem Glauben – denn um etwas anderes handelt es sich nicht – ein wissenschaftliches Dogma und Dekret geworden. Den Zufall konnte und sollte es nicht geben, weil er nur ein anderes Wort für menschliches Unwissen sei. Die klassische Physik gab dieser Revolte gegen den Zufall sogar einen lateinischen Namen, sie sprach von Determinismus – von lateinisch „determinare“ – machte ihn sakrosankt und drei Jahrhunderte lang unanfechtbar. Wenn Professor Zeilinger den Zufall als die größte Entdeckung des 20. Jahrhunderts bezeichnet, dann, so nehme ich an, wollte er damit sagen, dass mit dieser Entdeckung drei Jahrhunderte wissenschaftlichen Irrglaubens endlich zu Grabe getragen wurden.

Wo hat Gott damit zu tun? Vorerst noch gar nichts. Aber die „Entdeckung“ des Zufalls ist schon deswegen bedeutsam, weil sie aufatmen lässt. Sie befreit den Menschen vom Alptraum eines maschinenartig vorgestellten Universums.

2. Voll ausgebildet begegnen wir dem Alptraum bereits bei Descartes um die Mitte des 17. Jahrhunderts. Ich wünsche deshalb, dass man alle Funktionen, die ich dieser Maschine zugeschrieben habe /einer Maschine, die den menschlichen Organismus exakt imitiert/, wie die Verdauung von Fleisch, das Schlagen des Herzens… die Wahrnehmung des Lichts…, die Eindrücke der Erinnerung.. die äußeren Bewegungen der Glieder..; ich wünsche, sage ich, dass man diese Funktionen in der Weise auffasst, dass sie sich in dieser Maschine auf ganz natürliche Art allein aus der Anordnung der Organe ergeben – ganz genauso wie die Bewegungen einer Uhr oder eines anderen Automaten sich aus derjenigen der Gewichte und Räder ergeben (Descartes, 1953; S. 873). Descartes geht allen späteren Wissenschaftlern und Denkern voran, indem er von vornherein auch den Menschen zur Maschine deklariert (abgesehen von der Seele in der Zirbeldrüse. Descartes hatte den Scheiterhaufen vor Augen, auf dem Giordano Bruno verbrannt worden war). Dieser Linie bleibt Leibniz treu. Dass alles durch ein festgestelltes Verhängnis herfürgebracht werde ist ebenso gewiss, als drei mal drei neun ist. Denn das Verhängnis besteht darin, dass alles aneinander hänget wie eine Kette, und ebenso ohnfehlbar geschehen wird, ehe es geschehen, als ohnfehlbar es geschehen ist, wenn es geschehen… wenn einer eine genugsame Insicht in die inneren Teile der Dinge haben könnte, und dabei Gedächtnis und Verstand genug hätte, um alle Umstände vorzunehmen und in Rechnung zu bringen, würde er ein Prophet sein, und in dem Gegenwärtigen das Zukünftige sehen, gleichsam als in einem Spiegel (cf. Cassirer 1957, 143). Nicht anders äußert sich David Hume, ein Jahrhundert danach: Look round the world, contemplate the whole and every part of it: you will find it to be nothing but one great machine, subdivided into an infinite number of lesser machines (Dialogues Concerning Natural Religion (1779). Sein jüngerer Zeitgenosse, der französische Mathematiker Laplace, wiederholt nur den zentralen Gedanken von Leibniz, wenn er behauptet: Eine Intelligenz, die in einem bestimmten Moment alle Kräfte erfasste, welche die Natur beherrschen, und darüber hinaus die respektive Lage der Elemente, aus denen sie besteht, würde – vorausgesetzt, dass sie groß genug wäre, um alle diese Daten der Analyse zu unterwerfen – in einer einzigen Formel die Bewegungen der größten Körper des Universums und die der kleinsten Atome gleichermaßen erfassen: nichts wäre ungewiss für sie. Zukunft und Vergangenheit würden ihr deutlich vor Augen stehen (1886, Bd. VII, S. VI). Und Bertrand Russell hielt noch im zwanzigsten Jahrhundert, also längst nach den Erkenntnissen der Quantenphysik, eisern am gängigen Dogma der klassischen Physiker fest. Man geht davon aus, dass die Materie aus Elektronen und Protonen besteht, die von endlicher Größe sind und von denen es nur eine endliche Zahl in der Welt gibt… Die Gesetze dieser Änderungen lassen sich anscheinend in einer kleinen Zahl sehr allgemeiner Prinzipien zusammenfassen, welche die Vergangenheit und Zukunft der Welt determinieren, sobald irgendein kleiner Ausschnitt des Weltgeschehens bekannt ist (2004, 1).

Wo ist hier von Gott die Rede?

3. Werner Heisenberg war einer der ersten, der das Weltbild der klassischen Physik aufgrund der neuen Erkenntnisse der Quantenforschung für überwunden hielt und dies auch konkret begründete. Zum Beispiel kann ein Radiumatom ein /Alpha-/Teilchen aussenden. Wenn die Aussendung des Alpha-Teilchens beobachtet wird, so fragen die Physiker… nicht mehr nach einem vorausgehenden Vorgang… Logisch wäre es durchaus möglich, nach einem solchen… Vorgang zu suchen… Warum hat sich nun die wissenschaftliche Methode… in dieser sehr grundlegenden Frage geändert? … Wenn wir den Grund dafür wissen wollen, warum das Alpha-Teilchen eben in diesem Augenblick emittiert wurde, so müssten wir dazu den mikroskopischen Zustand der ganzen Welt, zu der auch wir selbst gehören, kennen, und das ist sicher unmöglich (1959, 69).

Fritjof Capra und die Anhänger des New Age griffen diesen Gedanken euphorisch auf. Sie glaubten eine grundlegende Wende entdeckt zu haben, welche die Geschichte der Wissenschaften gleichsam in zwei Hälften zerteilt: das Zeitalter der mechanistischen Weltsicht und das Zeitalter der indeterministischen Quantenphysik. Selbst Menschen, die von Quantenphysik gar nichts verstanden, berauschten sich am „Tao der Physik“ und glaubten in dieser so etwas wie eine Heilslehre zu sehen. Die klassische Physik hatte die Welt in ein mechanisches Uhrwerk verwandelt. Endlich schien nun eine von Grund auf verwandelte neue Physik aufzukommen, welche der Welt zugleich Freiheit und Leben zurückgibt. Selten haben wissenschaftliche Erkenntnisse, deren Verständnis sich dem Laien weitgehend entzieht, eine kurze Zeit hindurch so unmittelbar und so stark auf das Denken der Zeit gewirkt.

Wo ist hier von Gott die Rede? Man ahnt es. Das Tao der Physik begründete eine quasi-religiöse Bewegung.

4. Professor Zeilinger spricht von einer „Entdeckung“. Aber der Zufall lässt sich keineswegs so entdecken wie die Physiker ein neues Element im Periodischen System oder der Biologe eine neue Art „entdeckt“. Natürlich fehlt jedem, der nicht zu den ausgebildeten Physikern gehört oder gar der Elite der Quanten­forscher, die nötige Kompetenz, um sich über die Sache selbst zu äußern. Aber jeder darf die Meinung kompetenter Wissenschaftler zitieren. Und da ist wiederum an erster Stelle wiederum Heisenberg zu nennen. In der angeführten Passage sagt er wörtlich, dass es Logisch… durchaus möglich /wäre/, nach einem solchen… /vorangehenden/ Vorgang /für die Emission eines Alphateilchens/ zu suchen, also nach einer Ursache wie in der klassischen Physik. Wir tun dies nur deswegen nicht, weil wir dazu den mikroskopischen Zustand der ganzen Welt /wissen müssten/… und das ist sicher unmöglich.

Diese Erklärung muss uns überraschen. Die Argumentation des Quantenphysikers Heisenberg, der dem Zufall in der Physik zum Durchbruch verhalf, ist nahezu identisch mit der Begründung der klassischen Physiker, die ihn so beharrlich geleugnet haben. Laplace sagte ausdrücklich, dass eine Intelligenz, die in einem gegebenen Moment die ganze Welt überblickt, sodass sie alle darin wirkenden Kräfte erfasst – also eine dem Menschen weit überlegene göttliche Intelligenz – überall strenge Kausalität erkennen würde: jede Ursache hätte ihre notwendige Folge und jede Folge ihre notwendige Ursache. Heisenberg streitet das keinesfalls ab. Er hält daran fest, dass es logisch sei, überall nach Ursachen zu fahnden. Nur sei unsere menschliche Intelligenz leider beschränkt. Einzig aufgrund dieser Unvollkommenheit stoße die klassische Physik bei der Emission des Alphateilchens an eine Grenze. Für Heisenberg scheitert der Determinismus also nicht grundsätzlich – nicht aufgrund von logischer Unhaltbarkeit – sondern allein deswegen, weil menschliche Intelligenz nicht imstande sei, das Ganze zu erfassen.*2*

Der größte Physiker des 20. Jahrhunderts, Albert Einstein, hatte den Determinis­mus ohnehin nie grundsätzlich aufgegeben. Mit seinem berühmten Diktum Gott würfelt nicht – vermutlich hat ihn der von ihm hochverehrte Spinoza dazu motiviert – ging er sogar noch um einiges weiter als der Mathematiker Laplace. Einstein unterstellt Gott die Absicht, das Universum als eine berechenbare Maschine konstruiert zu haben, wo es den Zufall nicht geben kann. Wenn wir Werner Heisenberg und Albert Einstein folgen, dann hat auch die moderne Physik das deterministische Weltbild nie wirklich entkräftet.

Ist hier von Gott die Rede? Vorerst noch nicht.

5. Diese Betrachtungen führen uns allerdings ganz nah an das Motiv heran, welches den Menschen seit dem 17. Jahrhundert dazu bewegte, sich das Univer­sum als deterministische Maschine zu denken. Er musste das tun, wenn Wissenschaft die Religion ersetzen und ablösen sollte. Für Gott kann es den Zufall nicht geben, da er als der Schöpfer der Dinge ihren Verlauf in alle Ewigkeit kennt. Deswegen durfte er auch in der Wissenschaft nicht existieren, denn andernfalls hätten diese zugeben müssen, dass ihr Wissen nie an das der Religionen heranreichen wird. Anders gesagt, ging das Weltbild der klassischen Physik aus einer Wunsch- und Wahnvorstellung hervor. Der neue Homo Deus, der gott­gleiche Mensch würde die Wirklichkeit irgendwann mit einem Blick auf das Ganze umfassen; er würde alles erklären, weil er überall die bis dahin verborgene Kausalität und Mechanik entdeckt. Bekanntlich entspricht diese Erwartung bis zu einem gewissen Grade der Realität. Daher der weltgeschichtliche Erfolg der modernen Wissenschaften.

Wahnvorstellungen können sehr wirkmächtig sein – selbst dann, wenn sie die Wirklichkeit verzerren. Anton Zeilinger, der Nobelpreisträger, hat zweifellos recht, wenn er dem Zufall eine so bedeutsame Rolle zuerkennt. Aber Werner Heisenberg und Albert Einstein haben ebenfalls recht, wenn sie implizit davon reden, dass es keinen empirischen Beweis für ihn geben kann, weil eine übermenschliche Intelligenz vielleicht doch jedes Ereignis auf eine Ursache zurückführen kann. Ist die Frage also unentscheidbar? Werden wir sie nie beantworten können?

Der österreichische Biologe Rupert Riedl hat sich in diesem Sinne geäußert, als er schrieb, dass aber… kein Organ ausgebildet scheint, das den Zufall unmittelbar nachzuweisen vermag (1988, S. 98). Anders gesagt, sind wir ausschließlich darauf programmiert, die Ordnung der Natur, also ihre Regelmäßigkeiten (Gesetze), zu erkennen und sie für uns zu nutzen, weil sich das als überlebensnotwendig erweist. Die Erkenntnis des Zufalls ist dagegen ohne Überlebenswert. Er bezeichnet nur die Leerstellen zwischen den Gesetzen.

Von Gott ist immer noch keine Rede.

6. Wie verhält es sich nun aber mit der Wirklichkeit selbst, wenn wir drei Jahrhunderte der deterministischen Wahnvorstellung einmal beiseite lassen? Dann gelingen wir zu einem völlig veränderten Wirklichkeitsbild. Der Zufall ist nicht nur allgegenwärtig; wir können sogar behaupten, dass es ihn geben muss. Denn die Physik und mit ihr die gesamte Wissenschaft würden ohne ihn ihren Sinn einbüßen. Der Physiker und Philosoph Alfred North Whitehead hat das Vorgehen der Physik in einem einzigen Satz zusammengefasst. Search for measurable elements among your phenomena, and then search for relationships among these measures of physical quantities (1985, 56). Auf dieser Grundlage stellt die Physik Experimente an, um der Natur bestimmte Antworten auf ihre Fragen abzuringen. Bei diesen Experimenten setzt sie messbare Ergebnisse für messbare Ursachen voraus. 

Das vielleicht größte Experiment, das die Menschheit jemals veranstaltet hat, lässt allerdings keine derartigen Messungen zu. Deswegen haben die Physiker ihm bisher auch keine Aufmerksamkeit geschenkt, obwohl sich dieses welthistorische, die Geschichte in jeder Hinsicht radikal umgestaltende Experiment bis zum heutigen Tag vor unser aller Augen ereignet. Die Frage, die ihm zugrunde liegt, ist die folgende: Wie muss eine Welt beschaffen sein, in der Wissenschaft sinnvoll ist? Ist es denkbar, dass ihre einzige Dimension die Notwendigkeit ist? Oder ist es im Gegenteil vorstellbar, dass sämtliche Geschehnisse einzig dem Zufall gehorchen? Auf diese Frage liefert das große Experiment der vergangenen dreihundert Jahre – die Erkenntnis und praktische Umgestaltung der Welt durch die Wissenschaften – eine eindeutige Antwort, die wir ebenfalls in einem einzigen Satz resümieren können. Die Erforschung von berechenbaren Regelmäßigkeiten (Gesetzen) in der Natur – wir können auch sagen, die Aufdeckung bestehender Ordnungen – erhält ihren Sinn einzig und allein dadurch, dass wir sie, diese Gesetze, zu unseren Zwecken nutzen, indem wir sie – auf willkürliche, d.h. grundsätzlich unberechenbare (und in diesem Sinne zufällige) Art – zur Hervorbringung wünschbarer Wirkungen einsetzen.

Das ist es, was die Physik und mit ihr alle nach Gesetzen forschenden Wissenschaften seit dreihundert Jahren tun. Sie erkunden Tausende von Gesetzen, um auf Grundlage dieser Erkenntnisse Pumpen, Eisenbahnen, Radios, Flugzeuge, Computer, Handys usw. zu konstruieren; aber sie tun dies einzig und allein zu dem Zweck, um der menschlichen Freiheit neue Betätigungsfelder zu erschließen. Freiheit aber ist nichts anderes als jenes Unberechen- und Unvorhersehbare, das wir in der Natur außerhalb von uns selbst Zufall nennen. So gehört zum Beispiel die Gesamtheit der Gesetze, welche uns erlauben, eine Rakete zum Mars abzuschießen, dem Reich des Notwendigen an, aber dass ein Herr Soundso, an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit auf den roten Knopf drückt, der ihren Start bewirkt, kann und darf nicht vorhersehbar sein.

Dieser am Ende hinzugefügte Halbsatz ist nicht mehr und nicht weniger als denknotwendig. Würde auch unsere Freiheit berechenbar sein, also Gesetzen gehorchen, dann würde die Anstrengung des Wissenschaftlers zur Illusion verblassen. Nicht nur die gesamte Natur wäre ein deterministischer Automat sondern ebenso auch der Mensch, da er gar nicht anders denken und handeln könnte als er es eben tut. Da auch der Druck von Herr Soundso auf den roten Knopf in diesem Fall als determiniert gelten müsste, wäre auch er voraussehbar. Die Nutzung der berechenbaren Regelmäßigkeiten der Natur, um auf unberechenbare Weise wünschbare Wirkungen zu erzielen, käme nicht länger in Frage. Darüber hinaus wäre jede Voraussage, auch eine falsche, dann ihrerseits determiniert. Mit der Abschaffung der Freiheit hätten wir also gleichzeitig auch noch den wissenschaftlichen Wahrheitsbegriff entsorgt, jede Aussage wäre so notwendig wie ihr Gegenteil. Strikter Determinismus ist offenkundiger logischer Unsinn, da er zu unauflösbaren Widersprüchen führt. Bis heute bleibt es das vielleicht größte Rätsel der Wissenschaftsgeschichte, dass selbst einigen der größten Geister die logische Unsinnigkeit eines folgerichtigen Determinismus verborgen blieb. Erklärbar scheint dies nur, wenn man in der deterministischen Vision eine Wunsch- und Wahnvorstellung erblickt. Gottgleiches Wissen war dem Menschen nur möglich, wenn er den Zufall eliminiert.

Bis zu einem gewissen Grade lebt der Wahn weiterhin fort. Dafür gibt es noch einen weiteren Grund: die menschliche Eitelkeit. Das weltgeschichtliche Experi­ment, von dem hier gerade die Rede war, erschließt sich jedem Menschen, der in kritischem Denken einige Schulung besitzt – nennen wir ihn einmal den Philoso­phen -, während die aufwändigen Versuche der Biogenetiker oder der Quanten­physik ein jahrelanges Studium zusammen mit sündteuren Instrumenten erfordern. Der Experte in diesen Disziplinen schaut daher meist mit nachsichtigem, im schlechtesten Fall mit spöttischem Lächeln auf den Philosophen herab. Denken allein genügt ihm nicht, auch wenn es allem wissenschaftlichen Umgang mit der Natur notwendig zugrunde liegt. Experimente ohne Zahlen und Formeln will er gar nicht erst als seriös gelten lassen.

Von Gott ist immer noch keine Rede, aber wir kommen ihm näher.

7. Was gewinnen wir, wenn wir mit Professor Zeilinger die Entdeckung des Zufalls als eines der bedeutendsten Ereignisse des 20. Jahrhunderts anerkennen? Was haben wir davon, wenn wir noch einen Schritt weitergehen, weil wir ihn aufgrund der vorangehenden Überlegungen für einen notwendigen Bestandteil der Wirklichkeit ansehen, da unsere Suche nach Gesetzen andernfalls keinen Sinn ergäbe? *20a* Was ändert sich in unserem Weltbild, wenn wir die Augen dafür öffnen, dass die meisten Ereignisse in unserem und im Werden der Natur dem Zufall gehorchen?

Zunächst einmal grenzen wir unser mögliches Wissen von unserem grundsätzlichen Nicht-Wissen ab. Die Stadien der Entwicklung vom Punkt Null des undifferenzierten Urplasmas vor etwa 14 Milliarden Jahren bis zu unserer Zeit, wo aus diesem Plasma so fantastische Dinge wie blutrünstige Zecken, die Tonwelt Mozarts und ein dieses Sein spiegelndes menschliches Bewusstsein entstanden sind – diesen Prozess vermögen wir durch ein Wissen abzubilden, das potenziell unendlich ist, da es in beliebige Detailtiefe vorzudringen vermag und noch dazu keinesfalls mit der Gegenwart endet, weil die Evolution ja unendlich lange fortdauern kann. Anderseits ist dieser evolutionäre Prozess uns nur als gegeben bekannt, warum er so und nicht anders verlief, dieses Warum bleibt uns verschlossen. Aus den Eigenschaften des undifferenzierten Urplasmas können wir weder die blutrünstige Zecke, noch das wunderbare C-Dur Klavierkonzert Nr. 21 von Mozart oder gar das menschliche Bewusstsein ableiten, in dem sich die Welt einmal spiegeln würde. Und diese Unableitbarkeit gilt nicht nur für den schöpferischen Prozess der Evolution insgesamt sondern ebenso für jeden seiner einzelnen Stadien.*21a* Auch wenn der Mozartforscher sämtliche musikalische Anregungen kennt, denen Mozart zu seiner Zeit ausgesetzt war und er jedes Detail seines Lebens bis zu der Sorte des Kaffees kennen würde, den er am Tag der Komposition zu sich nahm, so lässt sich doch aus diesem Tatsachenwissen – und sei es auch noch so groß – das Wunder dieser Komposition nicht erklären und schon gar nicht ableiten.

Wenn die größte Entdeckung des 20. Jahrhunderts, wie Professor Zeilinger sagt, der Zufall sei, dann müssen wir dem hinzufügen, dass eine zweite Entdeckung nicht weniger wichtig ist. So wie der Zufall als zweite ontologische Dimension der Notwendigkeit gegenübersteht, so das Nicht-Wissen als zweite erkenntnistheoretische Dimension unserem Wissen. Die Wissenschaften können sich ein potenziell unendliches Wissen über die Welt aneignen, aber dem steht ein reales und grundsätzliches Nicht-Wissen gegenüber, das eine ebenso unendliche Extension aufweist. Alle schöpferischen Prozesse sei es in der natürlichen Evolution oder im Leben jedes einzelnen Menschen weisen auf das Zufallende hin, für das es keine Erklärung gibt, da es dem Bereich des Unableitbaren, d.h. dem Nicht-Wissen angehört. Mit Henri Bergson können wir von Élan vital, dem Lebensschwung, sprechen. Im Hinblick auf den Künstler, der ein Gedicht, den Musiker, der eine Komposition, den Wissenschaftler, der eine Entdeckung macht, können wir von Eingebung reden, doch damit kleben wir nur ein Etikett auf unser grundsätzliches Nicht-Wissen. Das sind Worthülsen, mit denen wir etwas uns Unzugängliches beschreiben. 

Wir kommen Gott schrittweise näher

8. Eine Dummheit begehen wir allerdings, wenn wir den Zufall als blind bezeichnen, wie der große französische Biogenetiker Jacques Monod es tat. Wenn unser Wissen vor dem Unerkennbaren versagt, wir also blind ihm gegenüber sind, dann ist das kein Grund, die Entfaltung der Wirklichkeit selbst als blind und sinnlos abzuwerten. Der Zufall, der aus undifferenziertem Urplasma menschli­ches Bewusstsein hervorgehen ließ, ist weder blind noch sinnlos. Es wäre viel richtiger, diesen Prozess ein unbegreifliches Wunder zu nennen, den Gegenstand unseres nie endenden Staunens.Unsere Intelligenz reicht zwar aus, seine einzelnen Stadien im Laufe der dreizehn Milliarden Jahre immer detailreicher nachzuzeichnen, aber zu keinem Zeitpunkt x hätten wir die Zukunft vorhersagen, sie aus dem Vergangenen ableiten können. In jedem Moment war Zukunft das, was sie für uns weiterhin ist und immer bleiben wird, das Zufallende, das sich nur insofern erschließt und teilweise berechnen lässt, als vorhandene Tendenzen sich aus der Vergangenheit in die Zukunft prolongieren (das ist die Domäne der Wissenschaften). Alles andere gehört dem Nicht-Wissen an. Das Dümmste, was wir darüber sagen können, ist es, wenn wir für das evolutionäre Geschehen das Bild eines Affen verwenden, der in Billionen Jahren rein „zufällig“ Dantes Commedia in die Maschine tippt oder auf eine ähnliche Weise die Information erzeugt, welche die Entfaltung des Alls bewirkt. In diesem Fall geben wir nämlich vor, dass wir wüssten, wie das Wunder zustande kommt. Aber genau das ist nicht der Fall. Zufall ist gleichbedeutend mit Nicht-Wissen.

Das Zufallende und das Nicht-Wissen führen zu Gott

9. Andererseits gehört zu unserem potenziell unendlichen Wissen auch die Erkenntnis, dass die physischen Bedingungen, die unser Überleben auf Gaia ermöglichen, im höchsten Grade speziell und damit überaus unwahrscheinlich sind. Wir reiten auf einem im Innern feuerglühenden Ball durch den Kosmos, dessen Kruste weder zu kalt noch zu heiß sein darf, dessen hauchdünner Mantel aus Gasen, die wir zum Atmen brauchen, exakt die richtige Mischung aufweisen muss, um uns auch noch vor dem unaufhörlichen Partikeldauerbeschuss aus dem All zu schützen. Die Unwahrscheinlichkeit unserer Existenz auf diesem Ball inmitten eines weitge­hend lebensfeindlichen Alls erweckt in uns den naheliegenden Gedanken, dass das Wunder der Evolution keineswegs das bloße Resultat eines blinden und sinnlosen Zufalls sein kann.

Dieser Schluss scheint unabweisbar. Wir sahen, der Zufall ist weder blind noch sinnlos; er ist das Synonym für unser Nicht-Wissen – nicht mehr und nicht weniger.*2a* Allenfalls können wir uns eine Intelligenz vorstellen, für die das alles einen Sinn ergibt – dann reden wir einem „intelligenten Design“ das Wort. Gott, oder wie immer wir diese höhere Intelligenz nennen mögen, hätte dann dafür gesorgt, dass auf unserem Planeten die Bedingungen innerhalb eines engen Korridors so exakt aufeinander abgestimmt sind, dass wir, Homo sapiens, auf ihm existieren können. Das ist zwar auch nur eine Metapher, aber eine unendlich viel bessere als die eines Affen, der blindlings auf eine Maschine einhackt…

Wir sind bei Gott angekommen – aber das Nicht-Wissen bleibt

10. Sobald wir das Gerede vom blinden und sinnlosen Zufall hinter uns lassen, bleiben uns nur zwei Möglichkeiten: entweder der Verzicht auf alle Erklärung oder das Bild einer höheren Intelligenz. Die Deterministen des 17. Jahrhunderts wollten einen Gott an der Spitze der Schöpfung nicht dulden. Der hätte ja durch Wunder jederzeit willkürlich in das irdische Geschehen eingreifen und damit die Naturgesetze außer Kraft setzen können.*3* Wir sahen, dass dieser Schluss auf einem Irrtum beruht. Die Wissenschaften setzen als denknotwendig voraus, dass der Mensch die berechenbare Ordnung der Natur (ihre Gesetze) jederzeit auf unberechenbare Weise zu seinen eigenen Zwecken nutzt. Der Mensch handelt also keineswegs gegen die Naturgesetze, er liefert nur den Beweis, dass es neben diesen den ebenso große Bereich des Zufallenden gibt. Wir wissen nicht, was der Mensch in Zukunft noch alles tun und lassen wird. Angenommen, Gott wäre mehr als eine bloße Metapher und ein Resultat menschlicher Spekulation, so bliebe uns aber ganz genauso verborgen, wie ER beständig in das irdische Geschehen hineinregiert (ohne dabei die Gesetze der Natur zu verletzen). Das wäre ebenso unvorhersehbar, wir würden es nicht einmal merken.

Allerdings stehen wir an diesem Punkt neuerlich vor einer Herausforderung für das Denken. Diese höhere Intelligenz hätte ja nicht nur für die Bedingungen gesorgt, welche unser unwahrscheinliches Leben auf Gaia ermöglichen, wir müssten ihr auch die Verantwortung dafür auferlegen, dass wir auf Gaia zwar überleben, aber doch auf eine sehr prekäre Art. Wie Schopenhauer es so eindringlich beschreibt, herrschen hier das Fressen und das Gefressen-Werden, die Liebe und der Hass, das Gebären und das Morden, das Wunder und der Schrecken. Bekanntlich sind die traditionellen Religionen mit diesem Widerspruch niemals wirklich fertig geworden. Sie hätten so gern einen gütigen, einen „Lieben“ Gott zum Alleinherrscher der Welt erklärt (und so erklären es Eltern bis heute ihren Kindern), aber das ist nur möglich, wenn sie die Augen vor so vielem schließen, das unzweifelhaft zu dieser Welt gehört. Also mussten sie ihrem Gott eine Gegenmacht gegenüberstellen, welche sie Teufel nannten. Damit ist dann aber das Warum neuerlich ausgeblendet – dieses Warum, das Hiob so quälte. So gelangt der Mensch an der Wissenschaft vorbei über das Nicht-Wissen zwar zu Gott, aber nur um erneut mit einem für ihn unauflösbaren Rätsel konfrontiert zu werden.

Aus meinen Büchern Schöpferische Vernunft und Am Anfang war, am Ende ist das Wort.

*1* Bei welcher Gelegenheit ich von dieser Aussage hörte, weiß ich leider nicht mehr. Im Internet habe ich nur folgende Quelle aus der Feder von Prof. Zeilinger gefunden, die dieser Formulierung immerhin nahekommt: https://medien.umbreitkatalog.de/pdfzentrale/978/344/215/Leseprobe_l_9783442153022.pdf

*2* Anders hört sich das bei Richard Feynmann an, dem großen US-amerikanischen Physiker, dem der Satz zugeschrieben wird: Wer glaubt die Quantenphysik verstanden zu haben, der hat sie nicht verstanden. Und der deutsch-österreichische Philosoph Wolfgang Stegmüller ahnte schon, dass die Anschauung im Mikro- wie im Makrokosmos versagen und die Physik sich in diesen Extrembereichen allenfalls noch auf die Mathematik verlassen könne. Aber wie weit wird die Mathematik uns führen?, setzte er noch hinzu. Gerhard Vollmer spricht von der „Mittleren Welt“, für die allein unsere Anschauung und menschliches Begreifen gemacht sind.

*20a* In diesem Punkt widerspreche ich dem großen Karl Popper, den ich ansonsten als meinen Lehrer verehre. Es gibt Fälle, in denen Voraussagen sich als erfolglos erweisen… In solchen Fällen kann es geschehen, dass wir es für hoffnungslos halten, jemals ein befriedigendes Gesetz zu finden… In keinem Fall können wir jedoch mit absoluter Sicherheit behaupten, dass es in einem bestimmten Gebiet keine Gesetze geben könne… Ich spreche von Zufall, wenn unser Wissen für Voraussagen nicht ausreicht.(Popper, 1980; S. 205) Ja, in bestimmten Fällen kann mangelndes Wissen der Grund sein, warum wir von Zufall sprechen. Das war im Laufe der Wissenschaftsgeschichte immer wieder der Fall. Aber dass es grundsätzlich den Zufall als ontologische Dimension neben der Notwendigkeit geben muss, ist eine Denknotwendigkeit. Dessen ist sich Popper nicht bewusst gewesen.

*21a* Was ich hier in einem Satz zusammenfasse, hat in der Philosophie- und – ansatzweise – auch in der Wissenschaftsgeschichte ganz Bände gefüllt. Die Schichtenlehre wurde im deutschen Sprachraum von Wilhelm Dilthey, Nicolai Hartmann, Konrad Lorenz und Rupert Riedl entwickelt. In Frankreich hat Henri Bergson eine ähnliche Tradition begründet. Der Unterschied zu dem Biogenetiker Jacqes Monod liegt nur in der (wissenschaftlich unbegründeten) Wertung. Für den einen ist der Zufall schöpferisch, für den anderen blind.

*2a* Zufall ist Synonym für das, was wir nicht wissen – und auch nicht erzeugen können, etwa mit einem sogenannten Zufallsgenerator. So wie unser Gehirn nur Ordnung erkennt, ist es auch nur imstande, mit Hilfe von Algorithmen Ordnung zu produzieren. Nur wenn wir den echten Zufall einschalten, wie z.B. die unvorhersehbare Aussendung eines Alphateilchens, wird daraus echter Zufall. 

*3* Die Reaktion vonseiten „aufgeklärter“ Theologen auf diesen Einwand war der sogenannte „Deismus“, die Gott einzig als Schöpfer der Naturgesetze anerkennt. Nachdem er diese einmal erschaffen hatte, musste er sich von seiner Schöpfung verabschieden: die Maschine lief danach ganz von selbst. Das entspricht ganz dem Vorwurf, den Pascal gegen Descartes erhob. Ich kann Descartes nicht verzeihen; er hätte in seiner ganzen Philosophie am liebsten auf Gott überhaupt verzichtet; statt dessen hat er sich zu dem Zugeständnis bereitgefunden, dass Gott der Welt /am Anfang/ einen Stups gibt, um sie in Bewegung zu setzen; danach weiß er mit Gott nichts mehr anzufangen (1955, 79).

Über Zuschriften freue ich mich, aber ich werde keine Kommentare mehr veröffentlichen.