Deutsche Sarrazinaden – und ihr bedrohlicher Widerhall

(auch erschienen in: "scharf-links")

Das Dilemma brachte niemand besser auf den Punkt als die Kanzlerin. Zum Buch „Deutschland schafft sich selber ab“, das sie nach eigenem Bekunden weder gelesen hatte noch lesen werde, bemerkte sie, dass es „nicht hilfreich“ sei.

Darin liegt in der Tat das Problem. Es ist nicht hilfreich, wenn ein Arzt einem Kranken, der davon nichts weiß und vor allem nichts wissen will, gleichwohl das Wissen aufdrängt, dass er demnächst sterben werde. Es ist auch wenig hilfreich, wenn die Ergebnisse der Intelligenzforschung über den statistischen Abstand zwischen Afro-Amerikanern und dem weißen Teil der Bevölkerung an die Öffentlichkeit dringen.*1* Es ist schon gar nicht hilfreich, wenn das Mitglied einer Notenbank vor Verwerfungen am Geldmarkt warnt. Diese Warnung selbst kann nämlich die Wirkung auslösen, solche Verwerfungen entweder stark zu beschleunigen oder sie überhaupt erst herbeizuführen.

Mit anderen Worten, es ist sehr oft geraten – manchmal sogar eine Methode der Wahl – die Fakten schön zu reden, weil gegenteiliges Verhalten dazu beitragen kann, sie erst recht zu verschlechtern.

Thilo Sarrazin hat in seinem Buch keine Fakten erfunden; niemand hat ihm nachweisen können, dass er wissenschaftlich gesicherte Fakten falsch zitiert oder verzerrt dargestellt hätte. Das räumt auch ein so engagierter Gegner wie Hans-Christian Ströbele ein. Ströbele, einer der aufrechtesten und überzeugendsten deutschen Grünen, meinte vielmehr, Sarrazin habe nur längst bekanntes Faktenmaterial präsentiert – anstößig und beleidigend seien die daraus gezogenen Folgerungen.*2*

Was die Fakten betrifft, so hat Ströbele unbedingt recht. Schon seit wenigstens einem Jahrhundert ist es kein Geheimwissen mehr, dass die gebildeten Schichten, jene also, welche das Fundament für den Reichtum eines modernen Staates bilden, weit weniger zur Fortpflanzung neigen als die weniger gebildete Mehrheit. Wir haben es hier mit einem irgendwie peinlichen Wissen zu tun, das denn auch umgehend den Verdacht auslöst, dass es nicht eben ‚hilfreich’ sei.

Zu den wissenschaftlich gut abgesicherten Fakten gehört auch die Einsicht, dass es kulturelle Prägungen gibt, die sich als überaus resistent im Hinblick auf die Übernahme moderner westlicher Lebensformen erweisen. Natürlich rät uns unser historisches Wissen auf diesem Gebiet zu besonderer Vorsicht. Auf keinen Fall sind wir berechtigt, von einer Unveränderlichkeit kultureller Eigenheiten zu sprechen. Noch vor zwei Jahrhunderten wollte die tonangebende Elite der Qing-Dynastie von abendländischer Wissenschaft und Technik nichts wissen. Für den westlichen Homo oeconomicus empfand sie die tiefste Verachtung. Heute erobern die Chinesen – von der eigenen Elite dazu mit der Peitsche vorangetrieben – mit beängstigender Schnelle sämtliche Bereiche der Hochtechnologie und betreiben einen überaus brutalen Kapitalismus.

Oder blicken wir auf die eigene Geschichte zurück. Vor fünfhundert Jahren war das Italien der Renaissance der strahlende Mittelpunkt der zivilisierten Welt; die Deutschen galten in ihrem unwirtlichen Norden als zurückgebliebene Barbaren von Dritte-Welt-Fürstentümern. Der deutsche Mao-Zedong jener Zeit, der den Barbaren immerhin zu einem gewissen Selbstbewusstsein verhalf, war niemand anders als Martin Luther.

Kein Zweifel, kulturelle Prägungen unterliegen dem Wandel, doch dieser Wandel braucht Zeit – oftmals sehr viel Zeit. Der Gegensatz zwischen einem hochindustrialisierten italienischen Norden und einem in Verbrechen und Rückständigkeit dahinsiechenden Süden reicht schon länger als ein halbes Jahrtausend zurück und blieb während dieser langen Zeit nahezu unverändert.

Wenn Sarrazin feststellt, dass das von der Wissenschaft zusammengestellte, von ihm genutzte Zahlenmaterial befürchten lasse, Deutschland werde bei unverändertem Trend nach fünfzig bis hundert Jahren kaum noch wiederzuerkennen sein, weil eben beides zusammenwirke, einerseits der Fortpflanzungsboykott der heimischen Bevölkerung, vor allem ihrer gebildeten Schichten, andererseits der demographische Vormarsch eines aufgrund seiner besonderen kulturellen Prägung (statistisch gesehen) ziemlich bildungsresistenten Bevölkerungsteils, so wird man seinen Befürchtungen kaum widersprechen können – jedenfalls solange man die kurzfristige Perspektive im Auge behält.*3*

Der sonst so überzeugende Hans-Christian Ströbele irrt, wenn er die Fakten Sarrazins – den Fortpflanzungsboykott und eine bildungsresistente kulturelle Prägung – zwar akzeptiert aber die daraus gezogenen Schlüsse mit größter Empörung von sich weist. Denn das ist ja gerade so bestürzend an „Deutschland schafft sich selber ab“: Sarrazin braucht das von der Wissenschaft über Jahre zusammengestellte Datenmaterial gar nicht zu interpretieren – die Fakten sprechen für sich allein!*4*

Nicht Hans-Christian Ströbele, sondern eben Angela Merkel hat das grundlegende Problem auf den neuralgischen Punkt gebracht. Mögen die Fakten noch so verlässlich sein, ‚hilfreich’ ist Sarrazins Buch ganz gewiss nicht. Es besteht die Gefahr, dass es den Umgang mit den Migranten vergiftet, dass es zu deren Herabsetzung beiträgt oder sogar Hass und Verfolgung bewirkt – so wie das unbedachte Wort eines Mitglieds der Notenbank einen Run auf die Geldinstitute und damit die Erschütterung des Gemeinwesens hervorzurufen vermag.

Aufgrund dieser Gefahr wurden Sarrazin und sein Buch von der politischen Elite und von der Mehrheit intellektueller Meinungsbilder übereinstimmend geächtet. Ganz übersehen hat man dabei allerdings einen grundlegenden Widerspruch. Demokratien geraten geradezu zwangsläufig in Konflikt mit Wissenschaft und Wahrheit – im Gegensatz zu Diktaturen, die ein solches Problem nicht kennen. Zum Beispiel ist sich die chinesische Führung sehr deutlich bewusst, dass religiöse Bewegungen die politische Ordnung Chinas in der Vergangenheit immer wieder destabilisierten. Also sorgt sie in aller Stille dafür, dass Falun Gong oder der islamische Fundamentalismus in Xin Jiang gar nicht erst stark genug werden. Bevölkerungsschichten, die sich ihren Zielen rapider Modernisierung entgegenstellen, werden ohne öffentliche Diskussion von dem allgegenwärtigen Polizei- und Sicherheitsapparat kaltgestellt. Diktaturen gelingt es mühelos zwischen ‚hilfreichen’ Fakten und jenen, die sie nicht als solche verstehen, eine scharfe Trennlinie zu ziehen. Die einen dürfen veröffentlicht werden, die anderen unterdrückt man.

In einer funktionierenden Demokratie fällt diese Möglichkeit aus. Es ist gewiss nicht ‚hilfreich’, wissenschaftliche Daten an die große Glocke zu hängen, die einem Teil der Bevölkerung eine unterdurchschnittliche Befähigung im Hinblick auf die Anforderungen einer modernen Gesellschaft zusprechen. Ein solches Vorgehen kann im Extrem zu Verhetzung und Verfolgungen führen (bekanntlich hat die NPD die Thesen Sarrazins begierig aufgegriffen).

Aber darf sich Wissenschaft deswegen solche Fragestellungen verbieten? Natürlich nicht!

Freiheitliche Ordnungen müssen mit dieser Achillesverse leben. Sie haben Transparenz auf ihre Fahnen geschrieben. Gerade und vor allem die Opposition, sei sie grün, gelb oder blau, besteht auf Transparenz und Wahrheit. Aus gutem Grund lehnt sie sich gegen kein anderes Demokratieversagen so heftig auf wie gegen das Verschweigen oder die Verdrehung von Wahrheit. Nur weil ihre Wirkungen unter Umständen durchaus gefährlich sind, darf Wahrheit weder unterdrückt, noch geächtet oder gar mit allen Mitteln der bewussten Verdrehung entstellt und geleugnet werden.

Von Unterdrückung kann im Hinblick auf Sarrazins Thesen zwar keine Rede sein. Durch den Absatz eines Buches, das den Autor zum Millionär werden ließ, haben sie im Gegenteil eine überaus starke Wirkung entfaltet. Umso mehr hätte man sich vonseiten der politischen und medialen Intelligenz statt Ächtung bis hin zur bewussten Wahrheitsverdrehung einen besonnenen Umgang gewünscht. Wenn es stimmt, dass Demokratie und Transparenz unlösbar zusammengehören, dann muss solche Transparenz auch und gerade für Wahrheiten gelten, die sich als ‚nicht hilfreich’ erweisen.

In seinem dritten Buch hat Sarrazin den Feldzug des linken Lagers gegen die eigenen Thesen als neuen ‚Tugendterror’ bezeichnet. Dessen Virulenz erklärt er mit einem in diesem Lager wütenden ‚Gleichheitswahn’ – wie mir scheint, auf ziemlich einseitige Weise.*5* Die Idee, dass Menschen einander wesenhaft gleich sind, ist alles andere als ein Wahn. Man kann darin sogar den eigentlichen Motor für allen wirklichen Fortschritt sehen. Aus gegenseitiger Ablehnung von Gruppen und Stämmen, die einander ursprünglich für ‚Nichtmenschen’, ‚Stumme’ (Nemec), ‚Barbaren’, ‚Götzenanbeter’, ‚Nigger’, ‚Les Boches’, ‚The Krauts’ etc. hielten, ging ein Verständnis des Mitmenschen hervor, das hinter den äußerlichen Gegensätzen das gemeinsame Menschsein in den Vordergrund stellt. Der zwischenmenschliche Brückenschlag durch gegenseitige Empathie und den Abbau von Argwohn und Hassgefühlen wurden immer nur auf diese Weise erreicht. Auch eine bleibende Friedensordnung kann nur auf einer Einstellung beruhen, die Sarrazin in seinem letzten Buch mit zu leichter Hand als ‚Gleichheitswahn’ diskreditiert.*6*

Andererseits hat Sarrazin in meinen Augen wiederum Recht, wenn er auf der belebenden Wirkung von Ungleichheiten besteht. Alle Bemühungen, materiell, geistig oder spirituell das individuelle oder das Wohl einer Gesellschaft zu mehren, setzen voraus, dass die darum bemühten Individuen oder Gesellschaften überzeugt sind, dass ihr eigener Beitrag moralisch richtiger, technisch zielführender, intellektuell wahrer – also auf irgendeine Art besser sei als das was andere Individuen oder Gesellschaften schon erreicht haben oder in Zukunft erreichen wollen. Ohne die Überzeugung, etwas besser zu wissen oder richtiger zu machen, ist keine soziale Bewegung, sind keine Fortschritte irgendwelcher Art auch nur denkbar.

In Grenzen geduldete Ungleichheit und maßvoller Wettbewerb gehören zur Conditio humana ebenso wie das tief verwurzelte Bedürfnis, über und jenseits aller Ungleichheiten – und allen dadurch hervorgerufenen Wettbewerbs – das gemeinsame Menschsein nie aus dem Blick zu verlieren. Vorwerfen kann man Sarrazin, dass er sich für das zweite Bedürfnis nahezu blind erweist. Damit macht er sich derselben Einseitigkeit schuldig, die er seinen Gegnern zur Last legt. Die einen verstümmeln die Conditio humana, indem sie Wettbewerb und Ungleichheit aus ihr herausoperieren, die anderen, indem sie das Bedürfnis nach wesenhafter Gleichheit als Wahn abtun.

Was bleibt dann von den Gedanken eines Mannes, der mit seinen Thesen die öffentliche Meinung in Deutschland stärker aufwühlte als irgendein anderer Ikonoklast seit Ende des zweiten Weltkriegs? Es bleibt die Zerstörung zweier von vielen leidenschaftlich geglaubter Träume, die letztlich ihre Verheißungen nicht erfüllten. Sarrazin ist der große Desillusionator – mit dem Hammer und scheinbar völliger Emotionslosigkeit zerschlägt er die beiden schönsten Nachkriegsillusionen. Die Eliten sagen bis heute, und viele Deutsche haben es ihnen lange Zeit auch durchaus geglaubt: Nie waren wir Deutschen den Fremden gegenüber so aufgeschlossen, so liberal, so entgegenkommend – und nie ist uns ein so gedeihliches Miteinander gelungen.

Sarrazin entlarvt und dekonstruiert das Credo als Wunschvorstellung. In Wirklichkeit sei die Integration missglückt und Parallelwelten entstanden, die dem Durchschnittsbürger immer bedrohlicher und unwirtlicher erscheinen.

Die Eliten sagen bis heute, aber immer weniger Deutsche glauben heute noch an diesen zweiten nicht weniger hochfliegenden und wirkmächtigen Traum: Nie habe Deutschland so viel für Europa getan wie mit der Einführung des Euro.

Sarrazin entlarvt und dekonstruiert auch dieses Credo als bloße Wunschvorstellung. Der Euro habe die Nationen Europas nicht zusammengeschweißt, sondern sei im Begriff, sie zu zerreißen.

Desillusionierung schärft den Blick für die Wirklichkeit, aber sie ist, für sich genommen, noch keine positive und schon gar keine belebende Kraft. Sie kann sogar ihrerseits in Scheuklappenmentalität einmünden. So etwa verleitet die Polemik gegen den Gleichheitswahn Sarrazin schließlich dazu, Ungleichheit an sich schon für einen Wert zu halten, obwohl sie nie mehr als ein Stimulans sein sollte, um im Wettbewerb Werte zu schaffen. Selbst die zerstörerischen Wirkungen eines ungebändigten Wettbewerbs erscheinen Sarrazin durchaus akzeptabel. In seinem letzten Buch heißt es an einer Stelle: „Nie aber konnte ich eine Quelle der Ungerechtigkeit darin entdecken, dass jemand anders mehr Geld hatte als ich. Er nahm mir ja nichts weg.“

Welch fundamentaler Irrtum! Die Chancengleichheit der modernen westlichen Gesellschaften steht inzwischen nur noch auf dem Papier. Sie ist elementar gefährdet, weil die oberen fünf Prozent genau das tun, was Sarrazin im letzten Satz dieses Zitats bestreitet: Sie nehmen der Mehrheit fortdauernd etwas weg – und zwar mit jedem Jahr mehr! *7*

Hier wäre ein Aufschrei nötig, eine soziale Mobilisierung, eine politische Bewegung, um diesen Verfall aufzuhalten. Die Gleichheit der Chancen ist ja nicht weniger als das Fundament der modernen Gesellschaft und die Grundlage ihrer Legitimation in den Augen der Bürger! Es ist sicher schlimm, dass zwei Zukunftsprojekte, die soziale Akzeptanz der Einwanderung bei der Masse der Bürger sowie die Einführung einer gemeinsamen Währung, als gescheitert gelten müssen, aber weit schlimmer ist es, dass die wichtigste Errungenschaft auf dem Weg zu einer als sozial gerecht anerkannten Gesellschaft, die Gleichheit der Chancen, gegenwärtig wieder in Frage gestellt und de facto demontiert wird.

1 Zahlen in Amy Chua und Jed Rubenfeld: „The Triple Package: How Three Unlikely Traits Explain the Rise and Fall of Cultural Groups in America“. Die Autoren erklären die gemessenen Unterschiede der Intelligenz mit kultureller Prägung (superiority complex, insecurity, impulse control). Wobei natürlich zusätzlich bedacht werden muss, dass die Kriterien für intelligentes Verhalten – Abstraktion, Kombination und Fähigkeit zu analogischem Denken – nicht vom Himmel fallen, vielmehr hat die Wissenschaft sie vom Erfolg individuellen Denkens und Handelns in modernen wissenschaftlich-technischen Gesellschaften abgeleitet. Der Flynn-Effekt, also die Tatsache, dass der Durchschnittswert so definierter Intelligenz mit der Zeit steigt, ist ein Indikator, dass Gesellschaften sich in diese Art Denken tatsächlich mehr und mehr ‚eingewöhnen’. Insofern kann man natürlich von einem Zirkelschluss sprechen: Wissenschaftliche Gesellschaften beweisen sich selbst, dass sie am intelligentesten sind, weil sie die Kriterien für Intelligenz von den eigenen Denk- und Verhaltensnormen ableiten. Diese Kriterien beweisen dann zwar, dass so definierte Intelligenz für den individuellen Erfolg von größter Bedeutung ist, aber damit ist keinesfalls ausgeschlossen, dass andere Kulturen Intelligenz und den darauf beruhenden Erfolg anders definierten.

2 https://www.youtube.com/watch?v=Ad5atkvsTvQ

3 Fruchtbarkeitsboykott auf der einen Seite, starke Zunahme des muslimischen Bevölkerungsanteils auf der anderen, eine derartige Entwicklung muss – wenn die genannten Zahlen stimmen – zwangsläufig dazu führen, dass Deutschland in fünfzig bis hundert Jahren seine bisherige Identität verliert und weitgehend muslimisch geprägt sein wird.

4 Außer der Folgerung, dass das Deutschland von morgen bei anhaltenden demographischen Trends ganz anders aussehen wird als das Deutschland von heute, habe ich keine weiteren aus den Daten abgeleiteten Schlüsse in Sarrazins Buch zu entdecken vermocht. Ströbele hätte besser daran getan, statt von ‚Folgerungen’ von verborgenem ‚Zweck’ oder verborgener ‚Absicht’ zu sprechen. Die einzige Folgerung, die ich habe finden können, ergibt sich unmittelbar aus dem Zahlenmaterial. „Ich möchte nicht, dass das Land meiner Enkel und Urenkel zu großen Teilen muslimisch ist, dass dort über weite Strecken türkisch und arabisch gesprochen wird, die Frauen ein Kopftuch tragen und der Tagesrhythmus vom Ruf der Muezzine bestimmt wird. Wenn ich das erleben will, kann ich eine Reise ins Morgenland buchen.“ Dies ist eine persönliche Präferenz des Autors, die man billigen kann oder auch nicht. Etwas anderes sind die unausgesprochenen Absichten oder Zwecke, die Sarrazin wie jeder andere Autor mit seinem Buch verfolgt. In diesem Sinne bleibt das Buch offen für alle denkbaren Interpretationsmöglichkeiten – worin denn auch der eigentliche Stein des Anstoßes liegt. Mögliche Interpretationen reichen von der direkten Aufforderung zu kriminellem Handeln gegen Mitbürger aus islamischen Ländern, wie sie die NPD propagiert oder toleriert, über ein das Zusammenleben vergiftendes Misstrauen bis hin zu einer von Verantwortung geprägten Politik, welche alles unternimmt, um Menschen aus fremden Kulturen erfolgversprechend zu integrieren, aber bei der Aufnahme neuer Migranten mit der nötigen Vorsicht verfährt, indem sie immer zugleich auch die Frage stellt, wie viel Andersartigkeit sie den eigenen Bürgern zumuten darf.

5 Sarrazin: „Das ist der Kern des Tugendterrors: Die Ideologie (oder Religion) der Gleichheit erklärt alle sich manifestierenden Unterschiede in den Leistungen und im materiellen Erfolg von Individuen und Gruppen zum Ausfluss von Ungerechtigkeit, letztlich zum Ergebnis des Bösen, das in dieser Welt wirkt.“

6 Eine Einstellung zur Gleichheit, die bei den Kritikern Sarrazins durchaus nicht immer vorhanden ist. Wenn es wahr ist, was Götz Aly, der bekannte Historiker, in seiner Replik auf den „inquisitorischen Gestus“ meint, „mit dem linksliberale Kritiker über den Autor Sarrazin herfallen,“ so verträgt sich dieser Gestus offenbar mit einem gerüttelten Maß Heuchelei. „Ich lebe in diesen linksliberalen Kreisen,“ bemerkt Aly, „und weiß, wie dort darüber gewacht wird, dass die eigenen Kinder und Enkel die ›richtigen‹, sprich: migrantenarmen, bürgerlich gehobenen Kindergärten und Schulen besuchen.“ (Götz Aly: Das Juden-Gen, Frankfurter Rundschau vom 7. September 2010).

7 Sarrazin selbst ist das keineswegs unbekannt, auch wenn er versucht, die Fakten schön zu reden. Überraschenderweise heißt es nämlich einige Zeilen später: „Allgemein steigt die Sparquote mit dem Einkommen, deshalb ist es leider mathematisch zwingend …, dass die Vermögensverteilung immer ungleicher ist als die Einkommensverteilung und dass diese Ungleichheit im Zeitablauf noch wächst, wenn sich das Vermögen auch nur maßvoll verzinst.“ Hätte er nur die richtigen Folgerungen aus dieser Einsicht gezogen! Warum Sarrazin aber an der mit drei Pünktchen bezeichneten Stelle des Zitats die Passage hinzufügt „und nicht Ausfluss einer besonderen Ungerechtigkeit“, ist mir unerklärlich. Eine systemhaft und gleichsam automatisch wirkende Ungerechtigkeit ist doch wohl am wenigsten gerecht und entschuldbar! In meinem nächsten Buch „Gleiche Chancen für alle – gegen den parasitären Transfer und die Zerstörung von Demokratie und Umwelt!“ thematisiere ich genau diese Tendenz einer wachsenden parasitären Ausbeutung durch eine Minderheit, welche die Gleichheit der Chancen weitgehend ausgehöhlt hat. Der parasitäre Transfer beruht zudem keineswegs nur auf der Mechanik der Zinsen, sondern wird ebenso durch renditeträchtiges Sachkapital bewirkt, gleichgültig ob dieses in Gestalt materiellen Eigentums oder in Form von Wertpapieren gehalten wird.