(auch erschienen in: "scharf-links")
Er ist einer der wenigen, die gegen den Strom der billigen Schuldzuweisungen, der Häme und der nationalen Selbstbeweihräucherung schwimmen. Die Rede ist von Heiner Flassbeck, der die Schuld für die Eurokrise anders als die überwältigende Mehrzahl seiner Landsleute vor allem auch bei den Deutschen sieht. „Da ist etwas schief gelaufen, aber daran sind wir nicht ganz unschuldig. Alle Seiten haben Fehler gemacht. Es waren nicht zehn Millionen Griechen, die alles versaut haben. Sondern es waren auch wir.“ (1) Mit der Agenda 2010 habe die Regierung Schröder die anderen Staaten der Europäischen Union ins Abseits getrieben. Durch die Senkung der Löhne und die Abstriche am Sozialstaat habe Deutschland so viel an Wettbewerbsfähigkeit gewonnen, dass der Rest Europas dadurch zwangsläufig abgeschlagen wurde. Ich denke, er hat in diesem Punkt Recht – allerdings nur zur Hälfte und das macht seine Position angreifbar. Ich habe das an anderer Stelle ausgeführt. (2)
Dr. Flassbeck ist alles andere als ein weltfremder Professor, dem es um die Eleganz seiner Formeln geht. Unter Finanzminister Oscar Lafontaine war er als Staatssekretär tätig und ist heute Chef-Volkswirt bei der UNCTAD in Genf. Flassbeck hatte immer das Ganze im Auge, ihm liegt das Schicksal Europas am Herzen. Er meint es ernst, und das verschafft ihm bei kritischen Geistern die verdiente Aufmerksamkeit. Er sieht Europa zerfallen und wie jeder, der sich für das großartige Projekt eines in Frieden und Wohlstand geeinten Kontinents begeistert, leidet er unter dem rasanten Vertrauens- und Solidaritätsverlust, der sich mit jedem immer sichtbarer wird. „Es gibt keine politische Union von Ländern, die sich inzwischen hassen, weil dieser Hass jeden Tag aufs Neue geschürt wird.“
Andererseits ist die von ihm propagierte Therapie leider recht einfach und nicht sonderlich originell. Um die Krise zu überwinden, helfe nur eines, nämlich Wachstum – und da Wachstum in hoch verschuldeten Staaten nicht ohne Investitionen zu haben sei, sollen und müssen die Staaten sich eben weiter verschulden. An diesem leider nur zu bekannten Rezept endet die Weisheit von Heiner Flassbeck. Man kennt die Melodie – und mancher fühlt sich durch sie verstimmt.
Ein standfester Keynesianer
Denn so mancher hat sich doch gerade zu der Erkenntnis durchgerungen, dass übermäßige Schulden uns in die Krise führten, dass Schulden also die Wurzel des Übels seien. Und nun besitzt einer die Tollkühnheit, weitere Verschuldung zu fordern, damit wir die Krise der Schulden mit weiteren Schulden bekämpfen? In dem gegen Unendlich zielenden Aufstieg der Schuldenkurve vermag Heiner Flassbeck kein Problem zu erkennen. Er ist standfester Keynesianer, der an seinen Meinungen festhält, obwohl in Politik wie Wissenschaft längst ein Umdenken zu bemerken ist. Ja, Heiner Flassbeck hält nicht nur an seinen früheren Überzeugungen fest, sondern er versucht sie noch zusätzlich gegen alle Welt zu verteidigen!
Fast alle Menschen sind so einsichtig
Und zwar auf eine Weise, die so verblüfft, dass sie einem zu Anfang geradezu die Sprache verschlägt. „Schulden sind gar nichts Böses, Schulden sind völlig selbstverständlich; wenn der eine spart, macht der andere Schulden; sonst könnte der eine gar nicht sparen. Wenn man den Menschen erst einmal erklärt, dass es Ersparnisse ohne Schulden gar nicht gibt, dann denken sie sofort ganz anders darüber nach.“
Vermutlich. Jedenfalls kann ich mir vorstellen, wie perplex die Zuhörer bei Flassbecks Vorträgen sind, wenn der Ökonom sie auf solche Weise belehrt. Denn verblüfft ist sicher nicht nur der Laie, sondern auch der theoretisch geschulte Wissenschaftler fühlt sich zunächst einmal in die Defensive getrieben. Was der promovierte Ökonom da verkündet, hat ja zweifellos Hand und Fuß. Wenn ich mein Geld bei der Bank auf mein Sparkonto lege, dann muss diese dafür einen Schuldner finden, andernfalls kann ich dafür keine Zinsen erwarten. Flassbecks Belehrung schlägt deshalb sofort in den Köpfen ein. Er kann sich seines Erfolgs bei all den zuvor Irregeleiteten rühmen, die er am Ende zur Wahrheit bekehren konnte. „Fast alle Menschen sind so einsichtig.“ Sparen ist Schuldenmachen, und da wir doch alle Sparen wollen, müssen wir natürlich auch die Verschuldung gutheißen, ja sie sogar wollen!
Hat Großmutter es nicht doch anders gemacht?
Doch wie ist es nach den Vorträgen von Herrn Flassbeck? Ich denke, da fasst sich so mancher, wenn er auf der Straße steht, urplötzlich an den Kopf. Er denkt an seinen Nachbarn, der gerade in eine Geldklemme geriet und ihn um einen Kredit für ein Jahr angeht. Ich wollte und möchte ihm doch eigentlich gar nichts leihen, schießt es ihm durch den Kopf. Wie kann es da an meinem Sparwillen liegen, dass er zum Schuldner wird? Da kann doch etwas nicht stimmen! Doch der Mann nimmt sich sogleich wieder zurück. Da denke ich eben aus der Froschperspektive, im großen Ganzen der Volkswirtschaft herrschen sicher ganz andere Gesetze. Doch dann fällt dem Zweifler die eigene Großmutter ein, die ihr Geld nie zur Bank gebracht hatte, weil sie es stets unter der Matratze verwahrte. Kein Zweifel, sie sparte, aber wo war da der Schuldner, der sie angeblich zum Sparen zwang? Wenn das damals die meisten Menschen so machten, ist da nicht schon die ganze Ökonomie betroffen?
Und der Mann hört jetzt nicht mehr auf, noch weiter zu denken. Da er belesen ist, fallen ihm auf einmal die Zustände in Japan ein, damals auf dem Höhepunkt der Depression. Zu der Zeit haben japanische Banken nämlich genau dasselbe wie seine Großmutter gemacht. Sie haben die Spareinlagen ihrer Kunden zwar weiterhin entgegengenommen, aber nicht in Form von Krediten an die Betriebe weitergeleitet, weil ihnen das zu unsicher erschien. Statt unter der Matratze wurde das Geld in Tresoren verwahrt – bei einem Zinssatz von Null Prozent ging die Bank dabei kein Risiko ein. Jetzt, sagt sich der Mann, befinden wir uns wirklich auf der makroökonomischen Ebene. Ja, wieso hat Sparen denn damals das Schuldenmachen bedingt?
Eine ideologisch bestimmte Wirklichkeitsdeutung, die für den längsten Teil der Geschichte einfach nicht stimmt
Der Mann kann sich seiner Skepsis nicht länger erwehren. Könnte es sein, dass Dr. Flassbeck aus ideologischen Motiven – im Bestreben die Wirklichkeit nach seinen Vorstellungen zu deuten – die tatsächlichen Verhältnisse falsch interpretiert? Es stimmt einfach nicht, dass Sparen zwangsläufig auf Verschuldung gründet. Das stimmt nicht einmal für moderne Gesellschaften. In Zeiten der Deflation und des allgemeinen Misstrauens in die Zukunft führt Sparen keineswegs notwendig zur Vergabe von Krediten und so zur Verschuldung.
Lässt man aber die modernen Gesellschaften einmal beiseite, dann stimmt diese Behauptung schon gar nicht – sie erweist sich als falsch für mindesten 95% menschlicher Geschichte. In stationären Wirtschaften, wie sie noch bis vor zweihundert Jahren die Regel waren, sparte man, indem man Geld (Gold, Silber oder Schmuck) vergrub und versteckte. Es gab keine Schuldner, weil diese in stationären, nicht-wachsenden Wirtschaften gar nicht benötigt werden. (3) Erst in einer Wachstumswirtschaft verleihe ich mein Geld an einen Dritten, der – direkt oder auf dem Umweg einer Bank – dadurch zu meinem Schuldner wird. Erst in dieser modernen Wirtschaftsform (die sich noch dazu nicht gerade in einer Zeit der Rezession und Deflation befinden darf) muss er es anlegen, indem er das Geld in Dinge verwandelt, die es vorher nicht gab, z.B. in neue Straßen, Häuser, Brücken, Maschinen: also in Kapitalstock. Diese neu geschaffenen Objekte müssen dann ihrerseits die Wirtschaft derart beleben, dass mein Schuldner an ihnen genug verdient, damit er mir den Kredit nach einer Anzahl von Jahren mit Aufschlag (Zinsen und Dividenden) zurückzahlen kann.
Die Revolution des Sparens in der modernen Wachstumsgesellschaft
Wenn das Geld sich in Kredite verwandelt statt unter Matratzen versteckt zu werden, haben wir es mit dem Übergang von einer stationären zu einer Gesellschaft des Wachstums zu tun, die mit geliehenem Geld immer neue Bauwerke und immer neue Maschinen hervorbringt. Es ist falsch, Sparen und Verschuldung einfach gleichzusetzen. Diese Gleichsetzung gilt erst und allein für die moderne Wachstumsgesellschaft. Dann allerdings sind Guthaben und Schulden notwendig zwei Seiten derselben Medaille.
Wieder ein Apostel des ewigen Wachstums
Weiß Dr. Flassbeck also, was er da sagt und wovon er seine Hörer unbedingt überzeugen will, wenn er die Gleichsetzung von Sparen und Schulden als unantastbares Dogma verkündet und sich zum vorbehaltlosen Fürsprecher weiterer Verschuldung macht? Wenn er daher fordert: „Europa muss zunächst zurück auf einen Wachstumspfad“? (4)
Ich glaube nicht, dass er es weiß. Denn damit predigt er genau jenes permanente Mehr und Immermehr – das Gegenteil von Nachhaltigkeit -, welches uns mit etwas weit Schlimmerem als der europäischen Krise bedroht, nämlich der Umweltkrise, einem Menetekel, das außer dem alten Kontinent gleich den ganzen Globus in Mitleidenschaft zieht. Flassbeck sieht darüber großzügig hinweg. Jetzt gelte es erst einmal, das nächstliegende Übel zu bekämpfen. Wirklich? Besteht nicht die eigentliche Misere von Politik und Wirtschaftwissenschaft genau darin, dass sie immer nur von einem nächstliegenden Übel zum anderen eilt, also stets nur die nächsten fünf Jahre im Blick hat – ganz gleich, was sie damit in der Zukunft anrichtet? Ich halte diese Haltung für intellektuell und moralisch gleich unvertretbar.
Sparen kann Reichtum vernichten
Sie führt aber darüber hinaus in die Irre. Bei näherem Hinhören erweist sich Heiner Flassbecks Lied von der betörenden Schönheit der Schulden als ein gefährlicher Sirenengesagt. Schulden sind schön, so suggeriert er, weil das zugrunde liegende Sparen Kredite schafft, diese den Kapitalstock mehren und damit überhaupt erst den volkswirtschaftlichen Reichtum begründen. Leider ist das eine Milchmädchenrechnung. Denn Sparen kann zwar den Reichtum mehren, aber mindestens ebenso oft bringt es Industrieruinen und Rostgürtel hervor: Dann vernichtet es volkswirtschaftlichen Reichtum, statt ihn zu erzeugen. Das gilt im Wettbewerb der Unternehmen ebenso wie im ökonomischen Wettrennen der Nationen.
Wenn von zwei mit Krediten geschaffenen Unternehmen das erste bei gleicher Produktqualität seine Erzeugnisse um zehn Prozent billiger herstellt als das zweite – gleichgültig ob aufgrund innovativer Herstellungsmethoden oder weil es die Löhne um zehn Prozent drückt – dann geht Nummer zwei in Konkurs und der Kredit erweist sich als faul. Mit anderen Worten, Spargelder wurden an unproduktiven Kapitalstock verschleudert.
Wenn der Kapitalstock ganzer Nationen wertlos wird
Das gilt ebenso für den Wettbewerb zwischen Nationen. So lange die neuen deutschen Bundesländer als DDR firmierten, gehörte ihr Kapitalstock zu den produktivsten im damaligen Ostblock. Doch kaum war die Vereinigung vollzogen, als beinahe der gesamte produktive Apparat im Osten Deutschlands schlagartig seinen gesamten Wert einbüßte. Im internationalen Wettbewerb mit westlichen Ländern ließen diese Anlagen keine Verwendung mehr zu, weil sich keine wettbewerbsfähigen Güter in ihnen produzieren ließen. Der wertlose Kapitalstock des Ostens wurde von der Treuhandgesellschaft abgewickelt.
Die Zwänge einer freien globalen Konkurrenz
Man stelle sich vor, dass der gesamte produktive Apparat der Bundesrepublik Deutschland, wie er mit Spargeldern über Jahrzehnte von seinen Bürgern geschaffen wurde, eins zu eins in einem anderen Lande kopiert wird. Dort wird jedoch um zehn Prozent billiger produziert, sei es weil man innovativere Methoden anwendet, sei es weil geringere Löhne, Lohnnebenkosten, Umweltauflagen und Steuern eine solche Reduktion der Kosten erlauben. Dann müsste in einem Umfeld freier globaler Konkurrenz der gesamte bundesdeutsche Kapitalstock ebenso abgewickelt werden wie in den 90er Jahren die Industrien der ehemaligen DDR. Deutschland würde seine Produkte nirgendwo mehr absetzen können – nicht einmal im eigenen Land!
Diese Vorstellung ist leider keineswegs aus der Luft gegriffen, denn sämtliche westlichen Großkonzerne inklusive ihrer Zulieferer bemühen sich seit zwei Jahrzehnten darum, genau diese Vorstellung in die Realität zu übersetzen. Sie sind eifrig dabei, ihren eigenen Kapitalstock eins zu eins ins billigere China auszulagern. Vorläufig besitzt Deutschland zwar noch auf einigen Gebieten – es werden jeden Tag weniger – genug innovativen Vorsprung, um gegen den Billiganbietern standhalten zu können. Doch wie lange noch? Die deutsche Solarindustrie, die vor kurzem noch als vorbildlich galt und als Beweis für besondere deutsche Stärke in der Umwelttechnologie, wird von China bereits aus dem Markt gedrängt.
Massengräber für die Ersparnisse ganzer Generationen
Das südliche Europa ist schon längst abgeschlagen. Der globale Wettbewerb hat diese Länder aus dem Rennen geworfen. Akzeptiert man die Bedingungen eines weltweiten Freihandels, dann – aber auch nur dann! – müssen die Hochlohnländer ihre Produktion Schritt um Schritt verbilligen, da der innovative Vorsprung durch den Technologietransfer der großen Konzerne in immer schnellerem Tempo neutralisiert wird. In Griechenland, Spanien und Portugal, aber auch in Italien erleidet der nationale Kapitalstocks einen rapiden Wertverfall, weil er Produkte nur noch zu Preisen erzeugt, die weit über denen des Weltmarkts liegen: Diese Länder sind zu Massengräbern für die Ersparnisse ganzer Generationen geworden. Kein Wunder, dass sich keine Gläubiger (Sparer) mehr finden, die dort investieren wollen. Eine gewaltige Kapitalflucht überall dorthin, wo die Ersparnisse immer noch produktiven Kapitalstock erzeugen, also in die aufstrebenden Länder Asiens und die noch wettbewerbsfähigen Länder des Nordens ist die unausbleibliche Folge.
Das ist der verderblichen Wirkung der gemeinsamen Währung, also dem Euro, geschuldet. Solange diese Länder über eigene Währungen verfügten, die ihnen die Möglichkeit der Abwertung boten, konnten sie ihre Stellung durch Abwertungen stärken. Damit ist es seit der Einführung des Euro vorbei.
Agenda 2010 – eine Verbilligung des Standorts durch Sozialabbau
Gerhard Schröder hat das Grundgesetz eines gnadenlosen Wettbewerbs ebenso erkannt wie vor ihm schon Adam Smith und Karl Marx. Sozialabbau – die Agenda 2010 – war seine Antwort. Der Standort Deutschland sollte verbilligt werden. Auf diese Weise machte er aus dem „kranken Mann“ Europas wieder ein wettbewerbsfähiges Land. Dr. Flassbeck hätte genau das Gegenteil getan. Er hätte mit Schulden neue Investitionen erzeugt, weil sich nach seiner Meinung Ersparnisse immer in produktiven Kapitalstock verwandeln, und er hätte die Löhne erhöht, also den Standort Deutschland auf zweifache Weise verteuert. Anders gesagt, hätte Flassbeck den damals kranken Mann noch kranker, nämlich weniger wettbewerbsfähig, gemacht. Flassbeck meint es gut; er ist ein Gegner des Sozialabbaus wie jeder, der um Nachhaltigkeit und sozialen Frieden besorgt ist. Aber das Gutgemeinte ist leider sehr oft der Gegner des Guten. Seine Vorschläge sind eine Rezeptur für den ökonomischen Niedergang.
Es gibt einen Weg aus der Krise!
Gerade weil Flassbecks Vorschläge so gut gemeint und deshalb so verführerisch sind, tönen sie wie Sirenengesänge. Flassbeck blendet ein elementares Faktum des heutigen Wirtschaftlebens: den internationalen Wettbewerb, aus oder versucht ihn zumindest herabzuspielen. Mit dieser Scheuklappenattitüde steht er im Widerspruch zu seiner eigenen Forderung nach mehr geistiger Offenheit: „Es gibt auch noch ganz andere Vorstellungen und es gibt noch ganz andere Ideen, die wir auch diskutieren müssen, wenn wir schon mit den alten Ideen überhaupt nicht weiter kommen.“ (5) Leider denkt er dabei ausschließlich an seine eigenen Vorstellungen und Ideen, nämlich ein weiteres Schuldenmachen. Was ist daran neu?
Wirklich neu ist dagegen der Zweifel an Deutschlands gegenwärtiger Industriepolitik. (6) Ist es richtig, dass Deutschland mehr Gewicht auf den kleinen Teil seines Exports ins außereuropäische Ausland legt als auf die Masse seiner europäischen Exporte? Muss es sich dem Druck der internationalen Märkte aussetzen und sich mit Gerhard Schröder einem „Race to the bottom“ anschließen, der sein über Generationen gewachsenes Sozialsystem Schritt um Schritt demontieren und außerdem seine europäischen Partner hoffnungslos abhängen wird? Deutschland könnte zum Nutzen Europas – langfristig auch zu seinem eigenen – sehr wohl eine ganz andere Politik betreiben. Innerhalb eines gemeinsamen und nach außen geschützten europäischen Marktes würde es der südlichen Peripherie eine reale Chance geben. Es gibt einen Weg aus der Krise! Heiner Flassbeck könnte ihn durchaus erkennen, wäre er nur bereit, seiner eigenen Forderung nach geistiger Offenheit zu folgen.
Verschuldung richtet fast immer sozialen Schaden an
Die Sirenensänge des Dr. Flassbeck sind gut gemeint, betörend, aber leider auch oberflächlich. Sie lassen nämlich einen weiteren Aspekt ganz außer Acht, den ich in meinen sämtlichen Büchern und Artikeln besonders betone. Würden sich Guthaben und Schulden gleichmäßig über die Bevölkerung verteilen, sodass jeder als Gläubiger (Sparer) soviel an Einnahmen bezieht wie er als Schuldner verliert, würden wir uns im besten Fall nur das Problem eines ewigen Wachstums einhandeln. Wir würden „nur“ die Natur dabei opfern, die ein ewiges (quantitatives) Immermehr, bei dem wir den Erdball wie eine Zitrone ausquetschen, leider auf Dauer nicht zu vertragen scheint. Doch dürften wir mit Heiner Flassbeck in diesem Fall immerhin behaupten, dass künftige Generationen im Hinblick auf ihr Einkommen nicht belastet werden.
Doch Guthaben und Schulden sind alles andere als gleichmäßig verteilt – in Deutschland besitzen fünf Prozent der Bevölkerung etwa 50% des Volksvermögens, und diese Ungleichverteilung spitzt sich mit der Zeit immer mehr zu. Daher opfern wir tatsächlich weit mehr, nämlich außer der Natur auch noch den sozialen Frieden, die Chancengleichheit und die Demokratie. Denn Gewinn und Verlust sind eben höchst ungleich verteilt. Die Bevölkerungsmehrheit trägt die Last von Steuern und Zinsen, die eine Minderheit als Gewinn verbucht. Und daher müssen künftige Generationen sehr wohl für unseren heutigen Luxus bezahlen. Ich habe nicht den Eindruck, dass Herr Flassbeck sich dieser Problematik bewusst ist oder sie auch nur sehen will. Auch hier gibt es andere Ideen, aber Herr Flassbeck will sie nicht sehen. Durchwegs ist er darum bemüht, das Schuldenmachen nicht nur als gut, sondern geradezu als die einzig richtige Therapie zu vermarkten, und scheut auch nicht davor zurück, abweichende Meinungen als „Quatsch“ zu disqualifizieren. Folgerichtig müsste er eigentlich zu dem Schluss gelangen, dass die Masse der kleinen Sparer einer Minderheit großer Gläubiger sogar Dank dafür schulde, dass die letzteren sich auf ihre Kosten bereichern. Es muss ihm sogar als gut und richtig erscheinen, dass Jahr um Jahr ein immer größerer Teil des Volksvermögens auf die Konten einer Minderheit von Gläubigern strömt – angeblich geht daraus ja immer neuer produktiver Kapitalstock hervor. (7) Wer sich einmal in falschen Voraussetzungen verrennt, hat es schwer, noch weit irrigeren Folgerungen zu entgehen.
Und wer bezahlt die Schulden? Die Notenpresse natürlich! Wozu ist die denn da?
Das gilt auch für Flassbecks Antwort auf die zentrale Frage, wer denn die Schulden bezahlen soll? Mittlerweile ist hinreichend bekannt, dass das hervorstechende Charakteristikum der gegenwärtigen Krise in einem Gläubigerstreik besteht. Die Sparer weigern sich, ihr Geld – außer für exorbitant hohe Zinsen – weiterhin Staaten zu leihen, an deren künftige Zahlungsfähigkeit sie nicht länger glauben, weil ihr Kapitalstock eben im internationalen Vergleich nicht länger ausreichend produktiv ist. (8) Also fehlt auf einmal das Geld für weitere Schulden. Da Verschuldung aber für Dr. Flassbeck der Königsweg aus der Krise ist, bleibt ihm nichts anderes übrig, als nach einer Instanz zu suchen, die das fehlende Geld zur Not aus dem Hut zaubern kann. Da bietet sich als einzige Institution, die dazu fähig ist, die Europäische Notenbank an, der „lender of last resort“. (9) Diese wird daher aufgefordert, die Wirtschaft mit Banknoten zu überschwemmen. Herr Flassbeck hat sich hier den vorherrschenden US-amerikanischen Standpunkt zueigen gemacht.
Was tat Odysseus, um dem Sirenengesang zu widerstehen?
Glücklicherweise haben sich die Fachleute der Deutschen Bundesbank bis heute gegen ein solches Ansinnen beharrlich gewehrt. Axel Weber, ihr ehemaliger Präsident, ist zurückgetreten, ebenso Jürgen Stark, der Chefvolkswirt im Direktorium der EZB. Jens Weidmann, der derzeitige Präsident der Deutschen Bundesbank und Mitglied des EZB-Rats, zeigt sich zutiefst beunruhigt über das Vorgehen der EZB. Nur Herr Flassbeck darf darin kein Problem erblicken: Er braucht nun einmal das Geld für weitere Schulden. Und so verrennt er sich aufgrund falscher Voraussetzungen nun auch immer weiter in falschen Schlussfolgerungen. Denn jetzt muss natürlich um jeden Preis das Gespenst einer drohenden Inflation verniedlicht, geleugnet oder als Hirngespinst hinwegdisputiert werden. (10) Deutschland ist gut beraten, wenn es sich vor den betörenden Gesängen des Dr. Flassbeck so schützt wie dies damals Odysseus tat.
1 Alle Zitate aus: Eurokrise – die politische Kultur ist ins Unterirdische abgeglitten. Mit einem solchen, um Verständnis bemühten Blick auf die Situation der Griechen beginnt auch mein Buch „Von der Krise ins Chaos“.
2 Die Agenda 2010 war eine Reaktion der Regierung Schröder auf die im internationalen Wettbewerb geschwächte Stellung Deutschlands – das zuvor als der „kranke Mann“ Europas bespöttelt wurde. Deutschland gab dem Druck der Billiganbieter nach und hat damit auf internationaler Bühne gewonnen, was es im Verhältnis zu seinen europäischen Partnern zerstörte. Siehe meinen Artikel „Stiglitz contra Merkel“.
3 Instandhaltungs-Investionen sind natürlich auch in Agrarwirtschaften unumgänglich, aber sie wurden meist auf Bauernhöfen und in Handwerksbetrieben von den laufenden Einnahmen bezahlt, also nicht auf dem Weg der Verschuldung. Schulden wurden, wenn überhaupt, allenfalls von Regierungen getätigt, aber nicht zu Wachstumszwecken, sondern meist für unproduktive Kriegsausgaben. Sonst gab es allenfalls Notkredite von Wucherern, die durch hohe Zinsen für Umverteilungen des Eigentums zu ihren Gunsten sorgten, also genau jene Konzentration der Vermögen bewirkten, die auch heute ein Hauptproblem der Verschuldung bildet.
4 Es wurde ja bereits ausgerechnet, wie viel Wachstum wir schon bei dem gegenwärtigen Stand der Verschuldung brauchen (siehe „Wirtschaft ohne Wachstum“.
5 Diese Alternative stelle ich ausführlich in meinem Buch „Von der Krise ins Chaos“ dar.
6 In meinem Buch „Die Arbeitslose Gesellschaft – Gefährdet Globalisierung den Wohlstand“ hatte ich selbst diese Idee bereits 1997 zur Diskussion gestellt. In „Von der Krise ins Chaos“ wird sie im Einzelnen ausgeführt.
7 Immerhin sieht Flassbeck in der Nettoverschuldung gegenüber dem Ausland ein Problem. Dieses Problem lässt sich durchaus präzisieren. Angenommen, die Schuld würde sich auf 100% des BIP belaufen und sie wäre mit Zinsen in Höhe von 2% zu bedienen, so müsste das BIP um zwei Prozent wachsen, um den Verlust wettzumachen. Flassbeck scheint aber nicht zu sehen (oder, wie ich eher vermute, nicht sehen zu wollen), dass diese Rechnung genauso gilt, wenn 95 Prozent der Inlandsbevölkerung gegenüber einer Minderheit von 5% ihrer reichsten Mitbürger verschuldet sind. Von Schulden geht daher ein Wachstumszwang aus. Siehe meinen Artikel „Wirtschaft ohne Wachstum“.
8 Ich habe diese Problematik schon einmal unter „Stiglitz contra Merkel“ behandelt.
9 Zumindest angedeutet scheint mir diese Forderung bereits in dem Artikel vom 8.1.2012 in der Financial Times Deutschland, „Heiner Flassbeck – Direkte Staatshilfe macht’s billiger“.
10 So jedenfalls steht es bei denen zu lesen, die sich auf Dr. Flassbeck berufen. Zum Beispiel auf den “Nachdenkseiten“ in einem Artikel von Jens Berger, der mit hochtrabender Arroganz die Gegenstimmen zu seiner Befürwortung notenbankfinanzierter Schulden als Pop-Ökonomen diffamiert, also führende Vertreter der Deutschen Bundesbank wie Weidmann und Weber zumindest indirekt ins Visier nimmt. Schon der Anfang seines Artikels lässt allerdings Zweifel an den Kenntnissen des Autors aufkommen, weil er die Preisbewegungen mit M3 in Beziehung setzt, also einer Geldkategorie, die neben Bargeld (einschließlich den Zentralbankguthaben der Banken) sowie den Sichteinlagen auch noch Termin- und Spareinlagen einschließlich Schuldverschreibungen, Geldmarktfondsanteile etc. umfasst. Termin- und Spareinlagen aber sind kein Geld, sondern Geldforderungen. Ob Preisstabilität, also ein gleichbleibendes Verhältnis der Güter- zur Geldmenge (Bargeld + Sichteinlagen) besteht, oder ob im Falle der Inflation eine wachsende Geld- einer gleichbleidenden Gütermenge gegenübersteht bzw. im Falle von Deflationen das umgekehrte Verhältnis vorherrscht, ist völlig unabhängig davon, ob im selben Staat eine gewaltige Menge an Spareinlagen (Geldforderungen) mit einer ebenso großen Menge an Schulden einhergeht oder ob beide nur minimale Werte aufweisen. Es ist richtig, dass die EZB trotz ihrer unkonventionellen Geldpolitik deren inflationäre Wirkungen vorerst noch zu neutralisieren „sterilisieren“ vermochte, doch wie lange wird das noch möglich sein? Im Artikel von Berger liegen Richtig und Falsch wie Siamesische Zwillinge in so enger Verschlingung, dass es schon eines Meisterchirurgen bedarf, um sie voneinander zu trennen.
Nachtrag: Fünf Jahre nach Veröffentlichung dieses Artikels stoße ich auf einen Aufsatz von Joachim Jahnke, der sich vor allem mit den Nachdenkseiten von Albrecht Müller befasst, aber auch die Rolle von Heiner Flassbeck kritisch beleuchtet. Jahnkes Ausführungen halte ich für zutreffend (http://www.jjahnke.net/nachdenkseiten.html).