(Ähnlichkeiten mit der Stuttgarter Rede von DGB-Chef Michael Sommer sind keinesfalls zufällig – die Übereinstimmungen sind kursiv und in Anführungszeichen gesetzt)
„Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen,
der 1. Mai ist kein Feiertag – für viele Menschen in Europa schon gar nicht. Jeder zweite Jugendliche in Spanien ist arbeitslos, Millionen von Rentnern in Europa haben Angst vor Altersarmut. Die Menschen in Griechenland, Portugal oder Italien haben Furcht vor den Diktaten einer Troika, die ihnen sozialen Fortschritt und erkämpfte Arbeitnehmerrechte stehlen will, um Spekulanten und Finanzmärkte zufrieden zu stellen.“
Für uns alle sollte der erste Mai ein Tag des Protestes aber auch der Besinnung sein. Wie konnte es dazu kommen, dass immer mehr Menschen der südlichen Peripherie arbeitslos werden? Tragen vielleicht auch wir, die deutschen Gewerkschaften, einen Teil der Schuld an dieser verhängnisvollen Entwicklung? Ich glaube, diese Frage sollten wir ehrlicherweise bejahen. Unsere großen Konzerne, vor allem im Autosektor, in der Flugindustrie, im Maschinenbau verkaufen einen immer größeren Teil ihrer Produkte nach Asien. Diese Entwicklung haben wir in aller Naivität gut geheißen, weil sie ja den Arbeitern der betreffenden Unternehmen Nutzen verschaffte. Das Auftragsvolumen stieg, das führte in der Regel zu höheren Löhnen. Das hat uns natürlich gefallen.
Doch die Kehrseite der Medaille haben wir zu leichtsinnig ausgeblendet. Produzenten wie China können die Hochtechnologieprodukte von BMW oder BASF nur mit Gütern der Niedertechnologie bezahlen. Im Gegenzug überschwemmen sie daher Europas Bau- und Supermärkte mit ihren Billigprodukten und haben auf diese Weise die traditionellen Industrien in Spanien, Griechenland, Portugal, aber auch in Deutschland schon weitgehend eliminiert. Als Gewerkschaften haben wir dazu geschwiegen. Anders gesagt, haben wir uns an die Seite der Großbetriebe gestellt, weil unsere Leute dort am stärksten und am besten organisiert sind. Die kleineren Unternehmen im Süden, aber auch in unserem eigenen Land haben wir in aller Stille geopfert.
Deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen, stehen wir heute vor einem Glaubwürdigkeitsproblem. In den Ländern der südlichen Peripherie wirft man uns vor, wir hätten es zugelassen, dass man ihnen die Arbeit nimmt. Jetzt würden wir über ihr Los doch nur Krokodilstränen weinen.
Diese Vorwürfe sind ernst zu nehmen. Umso ernster, wenn wir, liebe Kolleginnen und Kollegen, auf unsere eigene Situation hier in Deutschland blicken. „Derzeit geht es uns gut. Vordergründig. Nur leider wird verschwiegen, dass das so genannte deutsche Beschäftigungswunder damit bezahlt wird, dass ein Viertel der Menschen in diesem Land zu Hungerlöhnen arbeiten muss und von der Arbeit nicht leben kann. Es wird verschwiegen, dass der Grundsatz gleicher Lohn für gleiche Arbeit millionenfach, Tag für Tag in den Betrieben mit Füßen getreten wird. Es wird verschwiegen, dass Frauen, auch gut qualifizierte Frauen, abgedrängt werden ins Prekariat, in Minijobs und Arbeitsplätze, die subventioniert werden mit dem gleichzeitigen Bezug von Hartz IV. Es wird verschwiegen, dass versucht wird, gut tarifierte Arbeitsplätze dadurch unter Druck zu setzen, dass Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter in vielen Industriebetrieben für 30 oder 40 Prozent weniger Lohn schuften müssen. Das ist nicht die Arbeitsgesellschaft, die wir wollen. In Deutschland nicht und in Europa nicht.“
Liebe Kolleginnen und Kollegen. Der erste Mai sollte ein Tag der echten Besinnung sein, auch ein Tag der Besinnung auf unsere eigenen Fehler. An besserer Einsicht hat es uns gewiss nicht gefehlt. Wir wissen doch alle, dass es völlig sinnlos ist, Autos, Häuser, Nahrung zu produzieren, wenn die Menschen nicht Geld genug in der Tasche haben, um diese Dinge dann auch zu erwerben. Die Summe aller Einkommen (abzüglich der Ersparnis) muss immer groß genug sein, um die Summe der angebotenen Güter vom Markt zu nehmen. Das ist die goldene Grundregel jeder funktionierenden Wirtschaft. Wir brauchen dafür nicht einmal zu kämpfen, denn an ihrer Einhaltung haben die Produzenten letztlich das gleiche Interesse wie wir! Oder nützt es ihnen vielleicht, wenn sie auf ihren Produkten sitzen bleiben? Erinnert euch, damit genau das nicht passiert, hat ein Erzkapitalist wie Henry Ford schon vor etwa hundert Jahren seinen Arbeitern von sich aus fünf Dollar pro Stunde bezahlt! Sie sollten seine Autos eben auch kaufen können.
Also, liebe Freunde hier in Stuttgart, dafür brauchen wir nicht zu kämpfen. Kämpfen müssen wir erst, wenn dieses Interesse bei den Produzenten nicht länger vorhanden ist, weil die goldene Regel außer Kraft gesetzt wird. Und wie kommt es dazu? Ich sage euch, dieser Fall bedroht uns immer dann, wenn ein Staat oder ein Staatenbund wie die Europäische Union sich zu sehr auf den Export verlässt. Dann nämlich sitzen die Kunden teilweise oder auch ganz außerhalb des eigenen Wirtschaftsraums, so dass es für sie gar nicht mehr nötig ist, die goldene Regel noch einzuhalten. Ihr wisst, dass die Bandenchefs von Sierra Leone ihre Diamanten ausschließlich an die Länder des reichen Nordens verkaufen. Sie sind reine Exporteure. Im Prinzip brauchen sie ihren eigenen Leuten überhaupt nichts zu zahlen. Es genügt, wenn sie Sklaven beschäftigen und jeden, der bei der Arbeit tot umfällt, gleich mit frischem Menschenmaterial ersetzen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen. In Deutschland und in Europa sind wir glücklicherweise weit von den Zuständen in Sierra Leone entfernt. Aber wir wollen es nicht einmal zu einer Annäherung kommen lassen. Als Gewerkschafter haben wir immer darauf bestanden, dass die Löhne hoch genug sein müssen, damit die Menschen sich das Konsumangebot auch leisten können. Doch haben wir allzu schlicht und naiv im Export das Heil gesehen und auf diese Art zweifellos dazu beigetragen, die goldene Regel auch bei uns in Deutschland zumindest teilweise außer Kraft zu setzen.
Jetzt sehen wir, dass die Menschen europaweit nachdenklich werden. Ich sage euch, in Frankreich wird in den kommenden Tagen eine sozialistische Regierung gewählt und in Griechenland wird man die Sparfanatiker aus den Ämtern jagen. Überall in Europa werden sich die Gewerkschafter an einen Tisch mit den Unternehmern setzen, weil wir den gordischen Knoten durchschlagen müssen. Die wichtigste Frage ist heute: Wie werden wir mit den Schulden fertig, ohne uns ins eigene Grab zu sparen? Ich glaube, dass wir Gewerkschafter darauf eine Antwort gefunden haben. Lasst es nicht länger zu, dass unsere industrielle Basis durch Billigimporte zerstört wird wie schon in den Vereinigten Staaten geschehen. Lasst nicht zu, dass erst der Süden und dann auch der Norden die Grundlage ihres bisherigen Reichtums einbüßen. Zu lange haben wir zu dieser Entwicklung geschwiegen, weil Deutschlands Spitzenindustrien ja bisher prächtig davon profitierten und immer noch profitieren.
Wartet nicht solange, bis es auch bei uns damit vorbei ist! Die Asiaten, erst Japan dann China, haben die traditionellen Industrien in Europa und Nordamerika zerschlagen. Jetzt warten sie nur darauf, uns auch von der Spitze zu drängen. Japaner, Südkoreaner und Taiwanesen produzieren längst keine Billigprodukte mehr.
Sollen wir als Gewerkschafter, die Repräsentanten der arbeitenden Menschen, dieser Vernichtung der Grundlagen unseres Wohlstands tatenlos zusehen? Gewiss nicht. Wir sind entschlossen, den Auslagerern und De-Industrialisierern europaweit den Kampf anzusagen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, „der 1. Mai ist unser Tag der Arbeit. Er ist der Tag, an dem wir für die Rechte und unsere Würde als arbeitende Menschen demonstrieren, hier in Deutschland, überall in Europa, auf der ganzen Welt. Denn wir wissen: Es ist die Arbeit, die Werte schafft.
Es ist die Arbeit, die dem Menschen Würde verleiht.
Es ist die Arbeit, die die Gesellschaft zusammen hält.
Es ist die Arbeit, die Solidarität und Fortschritt ermöglicht.
Anders formuliert: Ohne Arbeit wäre diese Gesellschaft nichts. Und: Ohne gute Arbeit, ohne sozial geschützte Arbeit hat Europa keine Zukunft. Deswegen lautet unser Motto für diesen 1. Mai: Gute Arbeit für Europa – gerechte Löhne, soziale Sicherheit. Dafür demonstrieren heute Hunderttausende in unserem Land. Denn wir sind uns einig, dass es so nicht weitergehen darf auf unserem Kontinent.
Sicher, vieles von dem, was uns heute plagt, ist das Resultat falscher Politik.“ Es ist das Resultat falscher Weichenstellungen, die leider auch wir zu verantworten haben. Denn vieles haben auch wir falsch gemacht – und das, obwohl wir in Deutschland als Gewerkschaft mehr Macht besaßen als die arbeitenden Menschen irgendwo sonst auf der Welt. Wo sonst, wenn nicht bei uns im Land der Mitbestimmung, hätten die Weichen richtig gestellt werden können? Was hätten wir anders machen können und sollen?
Von Anfang an standen uns zwei Wege offen, um in Deutschland eine sozial gerechte Gesellschaftsordnung zu schaffen, so wie dies dem Geist und den Absichten unseres Grundgesetzes entspricht. Wir hätten einerseits dafür sorgen können, dass Arbeit auf angemessene Weise belohnt wird. In diesem Fall hätte niemand allein deswegen, weil er zeitweise ein Monopol auf gewisse Fähigkeiten und Voraussetzungen besitzt, ein exorbitantes Einkommen bezogen. Wir hätten uns z.B. für das Zehn- bis maximal Fünfzigfache des Mindestlohnes als absolute Einkommensgrenze einsetzen können. Vor allem aber hätten wir darauf bestehen sollen, dass Arbeit – und eben nur diese – zur Grundvoraussetzung aller legitimen Einkommen wird. Dann hätten wir nämlich dem Staat das Recht zuerkannt, alles Einkommen radikal zu besteuern, das ohne eigene Leistung bezogen wird, z.B. Einkommen über Zinsen, Dividenden, Währungsspekulationen, Kursgewinne etc.
Liebe Freunde, aus der Sicht eines arbeitenden Menschen sollte das eine Mindestforderung sein. Leistungsloses Einkommen ist ja nichts anderes als ein atavistisches Überbleibsel aus längst vergangener Zeit: die Fortsetzung der uralten Sklavenwirtschaft, wo eine Herrenschicht ohne jede eigene Arbeit die Früchte aus der Leistung und Arbeit anderer presste. Wir hätten alles leistungslose Einkommen als Spekulation verwerfen und dem Staat das Recht zusprechen sollen, es in Form von Steuern abzuschöpfen. Das wäre ein neues Steuersystem, ein Neuer Fiskalismus, wie ich es nennen möchte. (1) Im Gegenzug hätten wir dafür plädiert, dass der Staat einen Teil dieser Steuereinnahmen dazu verwendet, um das Ersparte – die Frucht früherer Arbeit – vor inflationärer Entwertung zu schützen. Wir hätten aus Deutschland eine Art Schweiz gemacht, wo die Leute ihr Geld bekanntlich auch schon zu einer Zeit hinbrachten, als sie dafür kaum Zinsen kassierten. Es genügte ihnen, es dort sicher verwahrt zu wissen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen. Wir schweigen nicht länger, auch wenn uns manchmal die Hände gebunden sind. Natürlich ist euch bekannt, dass man uns durch Statuten so stark gefesselt und eingeengt hat, dass wir den Unternehmen diesen Weg nicht aufzuzwingen vermögen. Doch wir können die Allgemeinheit aufklären und zum Handeln aufrufen. Denn die Bereicherung der Eliten auf Kosten der Bevölkerungsmehrheit hat auch bei uns in Deutschland ein unerträgliches Ausmaß erreicht. Die Zahlen sprechen da eine deutliche Sprache. Inzwischen beläuft sich die Gesamtsumme der von der Deutschen Bundesbank ausgewiesenen Zinsen sage und schreibe auf ein Drittel des gesamten für den Konsum verfügbaren Haushaltseinkommens. Sie und ich und alle übrigen Deutschen wenden bei ihrem täglichen im Schnitt jeden dritten Euro dafür auf, um die Gläubiger mit Zinsen und Dividenden zufriedenzustellen! (2) Das ist weit mehr als die oft so lautstark beklagte Mehrwertsteuer. Denn die Unternehmen müssen ja die von ihnen zu zahlenden Dividenden sowie die Zinsen für die von ihnen aufgenommen Schulden auf die Preise der Produkte aufschlagen! So werden die Gläubiger von uns, den Konsumenten, bezahlt.
Liebe Freunde hier in Stuttgart. Würdet ihr alle und überhaupt die Gesamtheit der Deutschen ein gleich großes Sparguthaben und gleich viele Aktien besitzen, dann wäre dagegen nichts einzuwenden. Jeder würde mit der linken Hand empfangen, was er mit der rechten zu zahlen hat. Doch ihr wisst, dass Sparguthaben und Aktienbesitz eben alles andere als gleichmäßig verteilt sind. Fast fünfzig Prozent davon konzentrieren sich bei einer verschwindenden Minderheit von nur fünf Prozent der deutschen Bevölkerung. Und deswegen profitieren von diesen durchschnittlich dreißig Prozent Abgaben im Konsum nur ganz wenige Menschen. In Wahrheit fließt da ein reißender Strom leistungsloser Einkommen von unten nach oben.
Bisher haben wir es versäumt, die Deutschen rechtzeitig vor dieser Entwicklung zu warnen und damit haben wir unserer Glaubwürdigkeit sicher geschadet. Jetzt werden uns durch die Krise die Augen geöffnet. Denn mittlerweile ist auch hier in Deutschland unübersehbar, dass über uns eine Schicht von Superreichen thront, die über ihre ökonomische Macht, nicht zuletzt über ihre Lobbys in Brüssel und über die von ihnen ausgehaltene Presse, eine ungeheure politische Macht ausüben und die Demokratie unterminieren.
Sagen wir es, ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen. Eine gierige Elite, repräsentiert unter anderen durch die Chefs der großen DAX-Konzerne, hat sich scham- und maßlos bereichert, und – ich gebe das mit Bedauern zu – auch einige aus unserer Mitte haben immer höhere Honorare verlangt, nur um „auf Augenhöhe“ mit der anderen Seite zu konferieren. VW-Chef Winterkorn kassiert an die 10 Mio. Euro pro Jahr, etwa das 500-fache eines einfachen Arbeiters. Wir haben das stillschweigend hingenommen, nur damit uns die Herren gnädig auch einige Krümel zuwarfen, mit denen wir dann die eigenen Leute beschwichtigen konnten.
Liebe Kollegen und Kolleginnen. Wir dürfen nicht länger dazu schweigen, dass die Reichen von uns, der arbeitenden Bevölkerung, mit leistungslosem Einkommen üppig gefüttert werden. Sie werden es nicht allein, weil wir ihnen mit unserem Alltagskonsum zu Zinsen und Dividenden verhelfen, sondern sie werden es ebenso, wenn der Staat sich verschuldet. Denn natürlich muss auch in diesem Fall das entliehene Geld mit Zins und Zinseszins zurückgezahlt werden. Das bezahlen die Bürger mit ihren Steuern. Die Politiker haben die gerade lebende Generation verwöhnt, um die künftigen Generationen umso stärker zur Ader zu lassen. Die Not kommender Generationen – unsere gegenwärtige Not – wurde in Kauf genommen, nur damit man damals feiern konnte. Denn ein Großteil der Verschuldung wurde ja für Wahlgeschenke verwendet, mit denen die Politiker uns nur zu gern den Mund gestopft haben. Das war falsche Politik, grundfalsche, unter der wir alle heute zu leiden haben. Wir, die Gewerkschaften, haben zu lange zu einer Politik der teuren Leihgaben geschwiegen, die der Staat unter dem Druck der Besitzenden anstelle gerechter Besteuerung unternahm. Jetzt mästen sich die Eliten auf unsere Kosten, aber der Staat und wir – dazu müssen wir uns bekennen – haben ihnen dazu erst die Gelegenheit verschafft.
Liebe Kolleginnen und Kollegen. „Wir wissen, dass es vernünftige Alternativen gibt. Die Alternative zur Förderung von Spekulation und Finanzkapitalismus ist die Regulierung der Finanzmärkte und die Unterstützung der Produktion realer Güter und Dienstleistungen. Und wir lassen uns nicht einreden, dass die Finanz-Transaktionssteuer nichts bringt. Im Gegenteil: Sie könnte sogar sehr viel bringen. Dann wird jeder Knopfdruck, mit dem Spekulanten Milliarden um den Globus jagen, richtig teuer. Und dann würden sich die Wetten für die Finanzhaie auch nicht mehr lohnen.“
Allerdings sollten wir uns vor gar zu einfachen Rezepten hüten, um nicht in den Verdacht der Demagogie zu geraten. So unverzichtbar eine Transaktionssteuer auch ist, um wenigstens einen kleinen Teil der Spekulation einzudämmen, an dem eigentlichen Übel der großen Spekulation wird dadurch nichts geändert, nämlich der außerordentlichen Bereicherung durch leistungslose Einkommen aus Zinsen, Dividenden, Kursgewinnen etc. Es ist unsere Aufgaben, den Staat hier endlich zum Handeln zu drängen. Im Auftrag von euch allen, im Auftrag der Allgemeinheit, muss er die weitere Konzentration der Vermögen verhindern!
Liebe Freunde. Wir haben heute die um keinen Tag länger aufschiebbare Verpflichtung, den gefährlichen Zuständen in unserem Land endlich ein Ende zu setzen. Denn es ist ja nur allzu wahr: „Wer keine Steuern erhebt, wer Korruption zulässt, wer Militäretats aufbläht, wer mit Privatisierung seine Bevölkerung enteignet, wer die Finanzmärkte entfesselt und den Raubtier-Kapitalismus von der Kette lässt, der ist Schuld an der Misere in vielen Ländern Europas. Denn es sind doch nicht die Menschen, die über ihre Verhältnisse gelebt haben, sondern es sind die gierigen Eliten, die die Staaten ausgeplündert haben und es weiter tun und tun wollen. Das sind die Gleichen, die uns heute Enthaltsamkeit und Sparsamkeit predigen, die uns unsere Rechte und unseren Schutz nehmen wollen, die den arbeitenden Menschen Armut verordnen, damit sie weiter im Reichtum prassen können.“
So lasst uns denn diesen 1. Mai zu einem Tag der Entschlossenheit machen, auf dem wir unsere Kräfte sammeln und uns darauf besinnen, was wir hier und jetzt unternehmen müssen, um die bestehenden Verhältnisse zu ändern. „Die Alternative zum Kaputtsparen unserer Volkswirtschaften, die Alternative zum Schuldenmachen ist die Verbesserung der Staatseinnahmen. Die Steuern für Reiche müssen endlich wieder rauf.“
In diesem Sinne brauchen wir einen Neuen Fiskalismus, eine grundsätzlich neue Art der Besteuerung. Die Leistung der arbeitenden Menschen – und ich nehme hier keineswegs den Beitrag unserer Unternehmenschefs aus – soll ganz und gar unbesteuert bleiben (sofern das Einkommen nicht eine bestimmte Schwelle überschreitet). Denn Arbeit, liebe Freunde, ist doch schlicht und einfach das Fundament unseres gemeinsamen Wohlstandes. Mit welchem Recht bestraft der Staat gerade diejenigen, die mit ihrer Arbeit diesen Wohlstand überhaupt erst ermöglichen? Mit welchem Recht nimmt er von denen, die geben, statt von jenen, die nehmen? Wir brauchen einen Neuen Fiskalismus, der ausschließlich besteuert, was wir der Gesellschaft entziehen, also unseren Verbrauch, und zwar soll dieser gerecht, also auf progressive Weise belastet werden. Wer mit seinem Konsum gerade für das Lebensnotwendige aufkommt, braucht keine Steuern zu zahlen, während alle Steigerung über das Lebensnotwendige hinaus einer umso höheren Besteuerung unterliegt. (1)
Liebe Freunde, das ist der fiskalische Weg aus der Krise. Befreien wir die arbeitenden Menschen endlich von einer drückenden Last! Machen wir Schluss mit der Absurdität, dass die Allgemeinheit jeden von uns umso stärker zur Kasse nötigt, je mehr wir uns mit unserer Leistung für sie, die Allgemeinheit, einsetzen. Befreien wir die Arbeit von ihren Fesseln! Dann werden wir in ganz Europa ein Aufblühen aller heute noch unprofitablen Branchen erleben. Wir befreien Arbeiter, Angestellte und Unternehmen aus einem lähmenden Korsett. Neben dem individuellen Konsum soll der Staat nur noch Rohstoffe besteuern, jene Grundstoffe also, welche die Unternehmen für ihren Betrieb verwenden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen. Seien wir hoffnungsvoll. Es gibt den Weg aus der Krise. Doch lasst mich mit einer Warnung enden. In einer durch die Krise aufgewühlten Zeit wie der unsrigen werden euch auch viele falsche Propheten bedrängen. Hütet euch vor den Demagogen. Da gibt es Leute, die von einem „milliardenschweren Marschall-Plan“ faseln. Ich frage euch: Wer soll denn den finanzieren? Das Ausland etwa, die Chinesen vielleicht oder die Russen? Dann werden wir uns noch weiter und noch viel stärker verschulden und bürden kommenden Generationen weit höhere Lasten auf – vor allem auch viel gefährlichere. Denn die Eliten im eigenen Land können wir zur Not enteignen, wie das in der Vergangenheit überschuldete Staaten ja in aller Regelmäßigkeit praktizierten – immer dann, wenn ihre Schulden die Grenze zur Unbezahlbarkeit überschritten. Doch wenn mächtige Länder unsere Gläubiger sind, dann ist ein solches Verfahren ausgeschlossen. Mächtige Länder drohen mit Krieg oder Konfiszierung.
Wer oder was bleibt also für die Finanzierung eines solchen Geldsegens übrig? Vielleicht die Reichen im eigenen Land und in der Europäischen Union? Ja, wenn wir einen neuen Fiskalismus einführen, eine ganz neue Art die Reichen am Gemeinwohl zu beteiligen. Dann könnten wir zumindest unsere Schulden abschütteln, und das Steuergeld wäre für andere Aufgaben frei.
Aber wenn wir diesen neuen Weg nicht beschreiten, was dann? Glaubt jemand im Ernst, dass die Gläubiger voller Begeisterung in Eurobonds investieren? Aber diese sind ja schon jetzt nicht länger bereit, ihr Geld in Staatsschulden anzulegen, es sei denn für so exorbitante Zinsen, dass jeder Staat dadurch in kürzester Zeit ruiniert wird! Oder soll die EZB einfach die Druckerpresse anwerfen? Ja, liebe Freunde, was dann geschieht, hat uns Goethe schon in Faust II beschrieben. Wenn ihr der Dichtung nicht glaubt, dann seht euch in der Geschichte um. Die frühen Zwanziger Jahre belehren euch, was damals mit den Deutschen geschah.
1 Man wird mir meine Genugtuung nicht verargen, dass sich hier kein Geringerer als der DGB-Chef Michael Sommer in aller Öffentlichkeit für den „Neuen Fiskalismus“ ausspricht, auch wenn er meine Ansichten dabei teilweise verzerrt.
2 Manche halten die Zahlen selbst oder die darauf begründeten Schlussfolgerungen für falsch. Leider ist beides unzutreffend. Herr Sommer gebührt besonderes Lob für seinen Mut, sich zu ihnen zu bekennen.