(Prof. Hankel, der Euro und die Grundbegriffe der Eigentumsgesellschaft)
Prof. Wilhelm Hankel gehört zu den Eurokritikern der ersten Stunde. Gemeinsam mit anderen Professoren hatte er 1997 eine Klage gegen die Einführung des Euro beim Bundesverfassungsgericht angestrengt. Es lohnt sich, seine Argumente aufzugreifen, weil sie einerseits auf dem ökonomischen Sachverstand eines Mannes beruhen, der über Jahre die höchsten Posten in Politik und Privatwirtschaft bekleiden durfte, und weil er noch dazu auf eine Universitätskarriere zurückblickt, die ihn bis nach Harvard führte. Andererseits ist die Beschäftigung mit seinen Thesen geeignet, die Grenzen einer allzu einseitig ökonomischen Sichtweise aufzuzeigen. (1) Der Umstand, dass die führende Zeitungen des Landes Prof. Hankels Stellungnahmen nicht publizierten, weil er mit ihnen quer gegen den Zeitgeist lag, wirft überdies ein Schlaglicht auf die befremdliche Gleichschaltung deutscher Medien. (2)
Hankels Thesen
Oder wird man Prof. Hankel nicht unbedingt zustimmen können, wenn er die Zeit der europäischen Integration vor Einführung des Euro folgendermaßen beschreibt? „Mit einem System eigener, nationaler Währungen … ließen sich Europas kulturelle und durch das Produktivitätsgefälle bedingte Unterschiede weit wirksamer überbrücken… Keine Währung musste „gerettet“ werden. Sie konnte (und musste) im nationalen Interesse abgewertet werden. Kein Staat musste für die Sünden anderer haften.“ Auch der Kontrast zwischen dem Enthusiasmus, den die Idee eines Vereinten Europa damals noch zu erwecken vermochte, und dem allgemeinen Misstrauen, dem Brüssel heute von Seiten der Bevölkerung begegnet, wird von Hankel in dem folgenden Satz auf einleuchtende Weise erhellt. „Der Pluralismus der europäischen Staatenwelt bot den Bürgern ein weit besseres Leben als ein zentralistisches Regime, ein von Brüssel aus regierter (oder diktierter) europäischer Einheits- oder Bundesstaat.“ (3)
Denn dieser Einheitsstaat macht aus der Schulden- eine Haftungsunion, welche die Grundprinzipien der so erfolgreichen Nachkriegswirtschaft, nämlich der sozialen Marktwirtschaft, außer Kraft setzt. „[Vor Einführung des Euro standen] Europas Staaten und Banken… nicht über dem Recht. Ihr (zivilrechtlicher) Konkurs wurde zwingend, wenn sie mit Überschuldung und Zahlungsunfähigkeit elementare Vermögensrechte ihrer Eigentümer, Gläubiger und Sparer verletzten… der Grundsatz, dass Schuld und Haftung sich nicht trennen lassen, … [wurde] eingehalten.“
Erst „die Einheitswährung hat Europa in seine heutige Krise geführt. Es waren die falschen, „auf ewig“ festgeschriebenen realen Wechselkurse, die bis auf null und darunter gesenkten Realzinsen, die nunmehr die „Rettung“ des Euro scheinbar erforderlich machen.“
Die unausbleiblichen Folgen
Und der Professor macht deutlich, welche weit reichenden Folgen sich daraus für die Realwirtschaft ergeben: „Europa droht mit der Eurorettung eine Kapitalflucht ohnegleichen: in Gold, Immobilien, Sachwerte, Rohstoffe. Eine Umwandlung von Ersparnissen in “totes Kapital“, das weder für Neuinvestitionen noch für die Schaffung von Arbeitsplätzen zur Verfügung steht.“
Doch mindestens ebenso beängstigend sei ein Blick auf die langfristigen Konsequenzen, welche die jüngsten Beschlüsse der deutschen Bundesregierung heraufbeschwören. „… mit der „Rettung“ des Euro, wie sie mit dem von Bundestag und Bundesrat verabschiedeten Gesetzespaket von ESM…, Fiskalpakt und Bankenunion betrieben wird, … rückt [eine Hyperinflation, wie Deutschland sie schon zweimal erlebte] wieder in greifbare Nähe.“ (4)
Die Grundlagen der modernen Eigentumsgesellschaft
Diesen Thesen kann sich ein gemäßigter Vertreter der sozialen Marktwirtschaft ebenso anschließen wie der radikale Verfechter einer neoliberalen Ökonomie, denn die Betonung von Schuld und Haftung verweist auf die Grundlagen der modernen Eigentumsgesellschaft. Diese beruht ebenso auf der Befreiung wie auf der damit einhergehenden Verantwortung des Einzelnen in politischer wie ökonomischer Hinsicht. Bis ins 18. Jahrhundert nahm der Staat sich das Recht heraus, seine Bürger sowohl politisch wie auch wirtschaftlich von oben zu dirigieren. Und auch der moderne Feudalismus der real existierenden sozialistischen Staaten setzte diese Tradition fort. Nicht die Masse der Proletarier, sondern das Politbüro herrschte. Die weltgeschichtliche Leistung der Eigentumsgesellschaft bestand – wo immer sie sich durchzusetzen vermochte – in der Erlösung des Einzelnen aus staatlicher Vormundschaft. Im Prinzip sollte jeder die Chance haben – und zeitweise hatte er sie auch – alle politischen Posten und alle ökonomischen Funktionen zu bekleiden. Ausschließlich durch Talent und Ausbildung sollte der Zugang zu ihnen beschränkt und geregelt werden.
Chancen und Verantwortung gehören unlösbar zusammen
Es ist wichtig, dieses grundlegende Prinzip der Eigentumsgesellschaft und einer funktionierenden Marktwirtschaft immer wieder hervorzuheben, denn nur dann gerät auch die Gefahr in den Blick, die dieses Wirtschaftsmodell von jeher bedrohte. Da die Stellung der Bürger weder durch einen Feudalherrscher noch durch ein Politbüro von oben diktatorisch bestimmt und festgelegt wird, stehen die Einzelnen in ständigem Wettbewerb miteinander, also in einer unaufhörlichen Konkurrenz um die besseren Ideen, Verfahren und Organisationsmethoden. Notwendig gehen aus diesem Wettbewerb Sieger und Verlierer hervor. Für die Marktwirtschaft war das nie ein existenzielles Problem, denn in der Schaffung von Reichtum hat sie sich allen anderen ökonomischen Systemen so sehr überlegen gezeigt, dass sie sich leisten konnte, die Verlierer so aufzufangen, dass sie nie um ihr Überleben zu fürchten hatten (nicht selten hat sie ihnen sogar ein recht bequemes Leben ermöglicht). Mit anderen Worten, sie konnte sich den Übergang in eine soziale Marktwirtschaft leisten.
Allerdings hat sie damit niemals so weit gehen können, dass sie den Unterschied zwischen ökonomischem Erfolg und Versagen beseitigt. Aus falsch verstandener Menschenliebe hätte man dann die Grundlage dieses Erfolgs selbst in Frage gestellt. Wie Prof. Hankel zu Recht betont, muss die Marktwirtschaft auf dem Prinzip beharren, dass Schuld und Haftung unlösbar verbunden bleiben. Eine Gesellschaft, die dem Einzelnen die Chance zum Aufstieg bietet, muss ihn auch zur Verantwortung für seine Fehler ziehen!
Die immanente Gefährdung der Gesellschaft des Privateigentums
Ich weiß, dass man sich mit der Betonung dieser Grundprinzipien unserer Gesellschaft nicht unbedingt Freunde macht. (5) Schon deswegen nicht, weil es ja zweifellos richtig ist, dass ein Vertreter des neoliberalen Lagers sie vorbehaltlos unterzeichnen könnte. Die Diskussion wird daher auch erst in dem Augenblick wirklich ernst, wo wir einen Schritt weitergehen und den Blick auf die Gefahren richten, mit welchen die Eigentumsgesellschaft auch in ihrer menschenfreundlichsten Variante, der sozialen Marktwirtschaft, bis heute zu kämpfen hat. Über dieses Thema pflegen die neoliberalen Theoretiker zu schweigen.
Im Unterschied zu den alt- und neofeudalen Systemen, wo eine Instanz – ein Herrscher, eine Oligarchie oder ein Politbüro – der gesamten Bevölkerung ihr soziales, politisches und ökonomisches Handeln und nicht selten sogar das „richtige“ Denken von oben vorschreiben und oktroyieren -, setzt die Eigentumsgesellschaft die Freiheit aller voraus. Und genau damit ist auch die Gefahr beschrieben, welche sie aus ihrem Inneren bedroht. Ein völlig freier ungebändigter Wettbewerb endet stets in der Aufhebung allen Wettbewerbs. Eine uneingeschränkte Freiheit beim Erwerb persönlichen Eigentums endet stets damit, dass der größte Teil der Bevölkerung schleichend enteignet wird (zwar nicht de jure, wohl aber de facto). (6)
Die Aufhebung des Wettbewerbs durch die Sieger im Wettbewerb
Der erste Punkt gerät dem neoliberalen Lager gerade noch in den Blick. Zähneknirschend, wenn auch meist unter großem tatsächlichen Widerstand akzeptiert man die Existenz eines Kartellrechts und entsprechender staatlicher Institutionen, welche die stärksten Unternehmen daran hindern, allein aufgrund ihrer überlegenen Stärke (wie finanzieller Ressourcen, Marktbeherrschung, Werbemonopole etc.) alle schwächeren Konkurrenten rücksichtslos aus dem Markt zu drängen. Am Ende würden dann für jedes Produkt oder auch ganze Produktpaletten nur noch Monopolbetriebe den Markt beherrschen, und die würden dann die Preise diktieren. Das ist das Ende einer funktionierenden Marktwirtschaft.
Dieselben Leute, die diese Gefahr gerade noch in den Blick bekommen, wollen jedoch nichts davon wissen, dass die gleiche Dynamik, welche durch Wettbewerb den Wettbewerb annulliert, ebenso für das Eigentum gilt. Wer seinen Mitmenschen gegenüber einen hinreichend großen Vorsprung besitzt, kann sein Eigentum gleichsam mechanisch vermehren, weil ihm das System die entsprechenden Möglichkeiten verschafft. Anders als das Heer seiner kleineren Mitstreiter kann er sich dank seiner ungleich größeren finanziellen Ressourcen Fachleute mieten, die für ihn die jeweils günstigsten Anlagestrategien erkunden. Das Grundprinzip einer gerechten Markwirtschaft, wonach der Sieg im sozialen Aufstieg und der Mehrung des Eigentums einzig dem größeren Talent und der besseren Ausbildung zustehen solle (statt wie in den alten und neuen Feudalismen der Geburt, den Beziehungen oder der Zugehörigkeit zu einer Einheitspartei), wird so außer Kraft gesetzt. Die Folge: Es kommt zu einer fortschreitenden Konzentration der Vermögen. In Deutschland hat diese den oberen fünf Prozent inzwischen schon etwa die Hälfte des gesamten Volksmögens in die Hände gespielt.
Die unabdingbare Chancengleichheit bei sozialem Aufstieg und Eigentumserwerb
Gewiss, der Einzelne soll sein Eigentum ebenso wie seine soziale Stellung zu seinem Vorteil verändern können. Diese Chance soll ihm selbst eine stationäre (kaum oder gar nicht mehr wachsende) Wirtschaft gewähren, wo eine Vermögensvermehrung der einen zwangsläufig zu einer entsprechenden Verminderung bei anderen führt. In jeder Generation sollen eben nicht die Geburt, nicht Privilegien und nicht die erworbenen Besitztitel zählen. Anders als die Feudalgesellschaft friert die marktwirtschaftliche Eigentumsgesellschaft bestehende Unterschiede niemals dauerhaft ein und verewigt sie dadurch, sondern in jeder Generation sollen die Karten aufgrund persönlicher Fähigkeiten neu gemischt und verteilt werden können. Das war und ist das Grundprinzip einer dynamischen Eigentumsgesellschaft. Daraus bezieht sie die ungeheure Energie ihrer individuellen Akteure und darauf beruht ihre Überlegenheit gegenüber allen anderen Gesellschafts- und Wirtschaftsformen. Eine solche Dynamik und innere Kraft setzt aber unabdingbar voraus, dass der Vorrang der Stärke den Wettbewerb nicht zerstört und dass der Vorrang des überlegenen Eigentums (Vermögens) nicht die Chancengleichheit im Eigentumserwerb außer Kraft setzt. Denn dann hat die Mehrheit (abgesehen von einzelnen ihrer Glieder) kaum noch Chancen des Aufstiegs (oder hat sie allenfalls noch dann, wenn ein erfolgreicher Außenhandel allen Bevölkerungsteilen ein Zuwachs an Einkommen beschert).
Das Prinzip Wettbewerb wurde eingeschränkt
Moderne westliche Demokratien haben sich durch das Kartellrecht mehr schlecht als recht gegen die Aushöhlung des Wettbewerbs abgesichert. Im Hinblick auf die Konzentration der großen Vermögen haben sie hingegen auf eklatante Weise versagt. Der Missgriff wurde in Deutschland bereits im Grundgesetz zementiert. Dieses hat die privaten Eigentumsrechte so definiert, dass es damit gegen die Erfordernisse einer dauerhaft funktionierenden Eigentumsgesellschaft verstieß. (7) Man vergaß, die Grenzen des Eigentums festzulegen, obwohl man sehr wohl begriffen hatte, dass es Grenzen des Wettbewerbs geben musste, damit dieser nicht in einer Monopolwirtschaft endet. Denn es lässt sich ja nicht übersehen, dass ein solcher Prozess beim Eigentum auf exakt parallele Art verläuft.
Das Prinzip Privateigentum unterliegt aber keiner Beschränkung
Wir sahen schon: Wenn das private Eigentum einer Minderheit in einer stationären, also kaum noch oder gar nicht mehr wachsenden Volkswirtschaft weiterhin zunimmt, dann wird das Eigentum der Mehrheit dadurch zwangsläufig vermindert. Wie dies geschieht – ob durch zins-, dividenden- oder spekulationsgetriebene Bereicherung dieser Minderheit oder umgekehrt durch eine zunehmende Steuerbelastung der Mehrheit – spielt dabei keine Rolle. Viele Wege führen zum selben Ziel.
Und dieser Prozess kann durch eine scheinbare Umverteilung von oben nach unten sogar noch begünstigt werden. Das ist stets dann der Fall, wenn die Umverteilung auf dem Wege der Staatsverschuldung erfolgt. Auf lange Sicht werden dadurch neuerlich die reichsten Gläubiger begünstigt, da die nachfolgenden Generationen ja mit ihren Steuern die entliehenen Summen mit Zins und Zinseszins zurückzahlen müssen. Schreitet der Staat nicht im Sinne der Allgemeinheit ein, dann geht ein ursprünglich über die ganze Bevölkerung verteiltes Eigentum allmählich in immer wenige Hände über – wiederum nähern wir uns dem Ende einer funktionierenden Marktwirtschaft und Demokratie. (8)
Das richtige Maß
Fassen wir noch einmal zusammen: Es soll und muss Sieger und Verlierer im marktwirtschaftlichen Wettbewerb geben – das ist eine logische Folge der Befreiung der Einzelnen von staatlicher Vormundschaft. Aber Sieg und Niederlage dürfen nie absolut sein. Um des funktionierenden Ganzen willen müssen beide in Grenzen gehalten werden. Das Geheimnis einer funktionierenden Marktwirtschaft liegt daher im richtigen Maß. Das macht die Marktwirtschaft zu einem stets gefährdeten und umkämpften System, das von zwei Seiten zugleich attackiert wird – nämlich rechts von den Verteidigern einer unbeschränkten Freiheit der Einzelnen (den Neoliberalen) ebenso wie links von den Verächtern der Freiheit (d.h. einer Linken mit neofeudalistischen Neigungen). Wie in allen Dingen ist auch hier das rechte Maß viel schwieriger festzulegen, zu verteidigen und durchzusetzen als die einfachen Lösungen von schwarz oder weiß. Nur wenn das linke Lager neben der sozialen Gerechtigkeit auch die Freiheit im Blick behält und das rechte neben der Freiheit auch die soziale Gerechtigkeit wird die Marktwirtschaft überleben. (9)
Erfolg hier und Misserfolg dort – warum diese Blindheit für die Bedrohung der bisher erfolgreichsten Wirtschaftsordnung?
Warum ist es modernen Staaten gelungen, den inneren Widerspruch jeder Eigentumsgesellschaft halbwegs zu entschärfen, soweit er den Wettbewerb betrifft? Warum haben sie andererseits im Hinblick auf das mindestens gleich große Übel einer fortschreitenden Konzentration der Vermögen so offensichtlich versagt? Warum hört man sogar regelmäßig Zeter und Mordio schreien, wenn jemand auch nur auf diesen elementaren Widerspruch hinweist oder gar wagt, Vorschläge zu seiner Überwindung durch Vermögenssteuern zu machen? (10)
Nach dem Grund für diesen auffälligen Gegensatz brauchen wir, wie mir scheint, nicht sonderlich weit zu suchen. Ein gefährdeter oder zerstörter Wettbewerb wirft die Marktwirtschaft augenblicklich und für alle sichtbar aus ihrer Bahn. Innerstaatliche Monopole lähmen nicht nur den Wettbewerb im Inneren eines Landes, sondern gefährden auch die Wettbewerbsfähigkeit eines Landes auf dem internationalen Parkett. Überdies bedrohen sie den Konsumenten mit überzogenen Preisen, so dass Politiker um die Stimmer ihrer Wähler fürchten. Gegen eine solche Entwicklung stehen daher nicht nur die von unfairem Wettbewerb bedrängten ökonomischen Akteure, sondern auch die politischen Kräfte auf.
Die Eigeninteressen einer politischen und ökonomischen Kaste
Doch all diese Stimmen werden auffällig leise oder verstummen auch ganz, sobald es um die gefährliche Konzentration des Eigentums geht. Das hängt natürlich mit einem deutlichen Unterschied in den unmittelbaren Auswirkungen zusammen. Bei der Eigentumskonzentration ist selbst noch über Jahre der Schaden für die Gesellschaft weit weniger sichtbar als im Falle von Monopolen und Kartellabsprachen. Der Misserfolg einer solchen Strategie – die Erosion der Demokratie durch Aufhebung der Chancengleichheit – macht sich nur schleichend und unterschwellig, vielleicht auch erst nach Jahrzehnten, bemerkbar. Es scheint daher gar nicht besonders dringlich zu sein, sich mit diesem Problem zu befassen. Ein langfristiger Prozess sozialen, ökonomischen und demokratischen Verfalls, der zu einer inneren Aushöhlung bei äußerlich intakten demokratischen Institutionen führt, gerät den meisten Menschen überhaupt erst dann in den Blick, wenn er sich bereits in einem fortgeschrittenen Stadium befindet.
Das ist schon schlimm genug. Noch schwerer aber wiegt zweifellos der Umstand, dass die ökonomische und politische Elite hier ihre eigenen Interessen gegen die der Bevölkerungsmehrheit verteidigt. Es stört sie durchaus nicht, wenn ihre materielle Stellung bleibend gestärkt wird, selbst wenn sie damit langfristig die Grundlagen unseres Wirtschaftssystems zerstört.
Die Krise wäre auch ohne den Euro gekommen
Prof. Hankel macht die Einführung des Euro für die gegenwärtige Krise Europas verantwortlich. Ich vermag ihm nur unter Vorbehalt zuzustimmen. Auch ohne diese voreilige Maßnahme – ein Zugeständnis Deutschlands an Frankreich – hätten die europäischen Einzelstaaten früher oder später das Misstrauen der Rating-Agenturen erweckt, weil ihre Staats- und Unternehmensschulden im Verhältnis zur volkswirtschaftlichen Leistung – mit wenigen Unterbrechungen – fast überall kontinuierlich gestiegen sind. So oder so war es unausbleiblich, dass die Gläubiger angesichts einer gegen Unendlich aufsteigenden Schuldenkurve irgendwann Verdacht schöpfen würden. Es ist dann ja nur eine Frage der Zeit, wann Staat und Wirtschaft aufgrund nachlassenden Wachstums den Punkt der Zahlungsfähigkeit erreichen. Die Höhe der Schulden im Vergleich zur volkswirtschaftlichen Leistung ist dabei nicht einmal das größte Problem, sondern ihre Ungleichverteilung: Während eine Minderheit sich des größten Teils der ihnen entsprechenden Guthaben erfreut, hat die Mehrheit unter ihrer immer größeren Last zu ächzen – darin liegt das eigentliche Problem, denn es läuft auf eine stete Verschiebung der Eigentumsverhältnisse hinaus. (11)
Unruhe ist die erste Bürgerpflicht
Hervorgerufen wurde es durch einen Mangel an politischer Wachsamkeit. Im Europa der Nachkriegsjahrzehnte hat sich die Eigentumsgesellschaft als so erfolgreich erwiesen, dass ihre inhärenten Gefahren verdrängt und verschwiegen wurden. Gegen die fortschreitende Konzentration der Vermögen haben linke Parteien und Gewerkschaften ebenso wenig getan wie das christliche Lager im rechten Spektrum. Inmitten der allgemeinen Blindheit und bewussten Problemverdrängung war es schon ein spektakulärer Sonderfall, wenn ein sozialdemokratischer deutscher Finanzminister einmal den Mut aufbrachte, die Wahrheit unverblümt zu Protokoll zu geben: „Nichts ist so unsozial wie ein überschuldeter Staat, nichts trägt mehr zur Umverteilung von unten nach oben bei“ (Hans Eichel).
Heute ernten wir die Folgen dieser Verdrängung. Das historisch erfolgreichste Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell ist wieder einmal an die Schwelle zur Selbstzerstörung gelangt – statt Chancengleichheit haben wir eine neue Klassengesellschaft. Wir haben oben und unten, Privileg und Prekariat. Die ökonomisch-politische Elite unternimmt nichts, um diese Entwicklung aufzuhalten. Im Gegenteil, im Zuge der gegenwärtigen Verschuldungskrise wird die Aushöhlung von Chancengleichheit und Demokratie sogar in forschem Tempo vorangetrieben. Denn Schulden lassen sich (sobald ein entsprechendes Wachstum für ihren Abbau nicht mehr erzielt werden kann), grundsätzlich nur auf zwei Arten bekämpfen: Erstens, durch die Reduktion der ihnen entsprechenden Guthaben auf Seiten der Superreichen (Vermögensobergrenze) (12), zweitens, durch eine Entwertung des Geldes, indem man die Notenpresse rotieren lässt. Die herrschenden Kreise haben sich für die zweite Lösung entschieden, da diese ihre Privilegien am wenigsten gefährdet. Sobald die Überschwemmung mit frisch gedrucktem Notenbankgeld ihre monetären Guthaben inflationiert, werden sie in Sachwerte flüchten. Die Kluft zwischen den beiden Extremen von Privileg und Prekariat wird sich weiter öffnen, und der Mittelstand fällt dann mitten in diesen Abgrund hinein – wie das bereits in den Vereinigten Staaten der Fall ist.
1 Alle Hankelzitate sind dem Artikel „Abrechnung mit den Rettern“ aus EURO am Sonntag vom 22. Juli 2012 entnommen.
2 Dass sich Wilhelm Hankel, ehemaliges SPD-Mitglied, dazu hergab, seine Thesen – mangels anderer Foren – in der national-konservativen Jungen Freiheit, der rechtsextremen National-Zeitung und der Neuen Solidarität zu vertreten, spricht allerdings nicht für seine weltanschauliche Standhaftigkeit. Er hat sich dadurch angreifbar gemacht.
3 Hierzu vgl. „Europa ein Kartenhaus?“ in: Jenner, EuroKalypse Now? Es gibt einen Weg aus der Krise! Metropolis September 2012.
4 Wenn die Notenbank uneingeschränkt Geld drucken darf, ist das eine unausweichliche Folge, auch wenn sie diese Entwicklung eine Zeitlang durch eine entsprechende Ausgabe von eigenen Wertpapieren (und damit dem Abzug von Geld) eine Zeitlang zu neutralisieren („sterilisieren“) vermag.
5 Schon gar nicht in einer Zeit, wo die Verfechter eines bedingungslosen Grundeinkommens den Zusammenhang zwischen Einkommen und Leistung und damit das Grundprinzip der Eigentumsgesellschaft am liebsten ganz aushebeln möchten. Kein Wunder, dass von dieser Seite keinerlei Protest gegen den leistungslosen Zins- und Dividendensegen zu erwarten ist. Diese Leute wollen ja für sich selbst noch weit mehr, nämlich einen staatlich abgesicherten Rechtsanspruch auf Einkommen ohne Leistung! Es versteht sich von selbst, dass jede Gesellschaft ihren Gliedern in Notfällen hilft, und sie ist gut beraten, wenn sie Hilfe zur Selbsthilfe bietet. Mir ist aber kein Gesellschaftssystem bekannt, dass einen Rechtsanspruch auf Einkommen ohne Leistung gewährte. Jedenfalls haben sich auch die Gesellschaften des Schenkens und Teilens sehr wohl dagegen zu schützen gewusst, dass Trittbrettfahrer sich auf Kosten anderer bedienten.
6 Vgl. meinen Artikel „Herrliche Zeiten – die Chance der Spätgeborenen“ in: EuroKalypse Now? Es gibt einen Weg aus der Krise! Metropolis 2012.
7 Hierzu mein Artikel „Eigentum – ein Fehler im Deutschen Grundgesetz?“ in: EuroKalypse Now? Es gibt einen Weg aus der Krise! Metropolis 2012.
8 Das ist übrigens auch dann der Fall, wenn der Staat die entliehenen Gelder mit maximalem Nutzen verwendet, also reales Wachstum erzeugt. Dies kommt dann zwar der ganzen Bevölkerung zugute, dennoch profitieren die großen Gläubiger mehr als die Masse der Steuerzahler.
9 Hierzu vgl. meinen Artikel „Links oder Rechts – das ist die Frage“
10 Vgl. den Focus Artikel „Aufruf zur Staatspiraterie“ vom 23. Juni 2012. „So schlägt das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) Zwangsanleihen beim wohlhabenden Teil der Bevölkerung vor, um den Schuldenberg abzutragen… Im Kern ist die Vermögensabgabe der Aufruf… zur staatlichen Piraterie.“ Wenn solche Töne schon gegen eine bloße Anleihe vorgebracht werden, so kann man sich vorstellen, welches Geschrei erst gegen die Besteuerung der großen Vermögen erhoben wird! Diese sollte allerdings nur das personengebundene Vermögen betreffen, nicht das von Betrieben, denn damit würde man in der Tat der Wirtschaft und den arbeitenden Menschen schaden. Vgl. meine Vorschläge zu einem „Neuen Fiskalismus“.
11 In „Wirtschaft ohne Wachstum“ gehe ich auf die Ungleichverteilung von Schulden und Guthaben ein.
12 Vorschläge hierzu in Jenner, Wohlstand und Armut, sowie unter „Neuer Fiskalismus“.