Es geht ein Riss durch die Gesellschaft – auf der einen Seite die Empfindsamen, die überzeugten Idealisten, Optimisten und Verteidiger einer besseren Ordnung und eines neuen Menschen, auf der anderen Seite die hartgesottenen Realisten, die Macht- und Tatsachenmenschen, die eingefleischten Skeptiker und Pessimisten. Die ersten setzen sich für eine „andere Welt“, eine radikal verwandelte Zukunft ein, die zweiten sind die realistischen, unbeugsamen und oft eiskalten Macher, deren Welt fantasie- und freudlos anmutet. Die einen scheinen Jugend und Hoffnung zu repräsentieren, die anderen Alter und Resignation.
Das ist allerdings eine etwas simple Gegenüberstellung, denn die Yuppies und Überflieger, alle jene also, die mit Papas Geld an den besten Privatschulen studieren und anschließend die Chefposten der Konzerne besetzen, sind durchaus jung, aber ihnen haftet nichts Empfindsames an. Sie sind auf eisernen Wettbewerb vorbereitet. Die Elite in Politik und Wirtschaft, sei sie nun jung oder alt, gehört eindeutig nicht dem Lager der Idealisten und der Sucher nach einer besseren Ordnung an. Sie profitieren von der Ordnung, so wie sie ist.
Es war auf dem Höhepunkt der Wirtschaftskrise, als es im österreichischen Rundfunk eine Diskussionsrunde zwischen einem Wirtschaftsminister und einem führenden Mitglied von Attac, Christian Felber (neben zwei weiteren Teilnehmern), gab. Für den letzteren sollte es ein Sieg auf der ganzen Linie sein. Felber war nicht nur hervorragend vorbereitet, er hatte nicht nur die besseren Argumente, sondern er überzeugte auch durch menschliche Wärme. Felber tritt für Kooperation, gegenseitige Hilfe und Mitleid mit den Schwächeren ein. Reinhold Mitterlehner sprach im Sinne der Wirtschaft, wenn er den Wettbewerb, den Kampf, das Können an die vorderste Stelle rückte. Kurz, beide haben die einander schroff gegenüberstehenden Lager auf geradezu idealtypische Art repräsentiert. Der Riss, der wie ein Abgrund zwischen der Macht und dem Idealisten aus der Zivilgesellschaft klafft, hätte nicht tiefer sein können.
Dass die Lager hier so unmittelbar aufeinander trafen, ist eine Seltenheit, und sie wird sich kaum wiederholen. Der Wirtschaftsminister der Republik Österreich wird es nur schwer verwunden haben, dass sein Auftritt ganz den Ruch einer Niederlage verströmte. Er repräsentiert die Macht, und die Macht hat noch nie mit sich spaßen lassen. Man wird sich hüten, Herrn Felber noch ein weiteres Mal den Trägern der Macht gegenüberzustellen.
Noch eine weitere Lehre lässt sich aus diesem Zusammentreffen ziehen. Sie ergibt sich gerade daraus, dass Christian Felber ein so typischer und intelligenter Vertreter aus dem Lager der Empfindsamen ist. Deren Voraussetzungen und Bestrebungen spricht er um vieles deutlicher als andere aus. Wettbewerb ist ihm zuwider, Wettbewerb bedeutet Kampf, Sieg oder Niederlage. Felber möchte eine gemeinwohlorientierte Wirtschaft ins Leben rufen, in der Kooperation ganz an die Stelle des Webbewerbs tritt, denn Kooperation ist gegenseitige Hilfe, Liebe und Mitleid. So sehr ist er von dieser Mission durchdrungen, dass er auch persönlich mit gutem Beispiel vorangehen will. Er möchte auf keinen Fall besser als andere sein, sich nicht mit anderen messen, weil er ihnen dabei ja Schmerz zufügen könnte (Gemeinwohlökonomie. S. 18.). Mit anderen Worten, er möchte den Menschen überhaupt grundsätzlich ändern und deshalb den Wettbewerb, den er für ein besonders gefährliches Übel hält, an der Wurzel ausrotten – darin liegt die Größe und zugleich die Schwäche der neuen Empfindsamen.
Denn kann ihm ein solches Vorhaben gelingen? Besteht überhaupt eine Aussicht, dass die neuen Empfindsamen ihr Programm in die Tat umsetzen?
Ich nehme an, dass jeder, der Christian Felber für seine Leistung im Gespräch mit dem Wirtschaftsminister Bewunderung zollte, es vor allem deswegen tat, weil Felber offensichtlich der intellektuell überlegene, durch sein Wissen hervorragende Streiter in einem geistigen Wettbewerb war. Da gab es keine Spur von Zusammenarbeit, da ging es nicht um Kompromiss oder um Ausgleich, sondern um Sieg oder Niederlage. Hätte Felber sich nicht unter Einsatz aller Kräfte bemüht, „besser als der andere“ zu sein und den anderen dadurch schlechter aussehen zu lassen, dann hätten wir gleich zu Beginn das Radio ausgestellt.
Liegt darin nicht ein merkwürdiger Widerspruch? Christian Felber hat seine theoretischen Überzeugungen durch sein praktisches Vorgehen dementiert. Und allein das war der Grund, dass er sich die Bewunderung auch jener zuziehen konnte, die, wie der Autor dieses Artikels, der Einstellung der neuen Empfindsamen mit Skepsis gegenüberstehen.
Denn es ist ja einfach nicht wahr, dass uns der Wettbewerb gleichgültig wäre und dass wir ihn am liebsten abschaffen möchten. Wir suchen die Auseinandersetzung, die Bewährung im Wettstreit um die besseren Ideen, das bessere Wissen, das größere Können. Eine Welt, in der wir mit allen und jedem nur ein und derselben Meinung wären, in der wir also permanent harmonieren, würde uns in kürzester Zeit ganz unerträglich werden. Sie wäre so langweilig, nichtssagend und fad, wie es schon das Paradies für den Dichter der Divina Commedia war. Über die Hölle wusste Dante bekanntlich Tausende unsterblicher Verse zu schmieden, denn dort geht es in jeder Hinsicht sehr hitzig zu, dagegen fiel ihm zum Paradies so gut wie gar nichts ein. Das Paradies könnte von Christian Felber erdacht worden sein. Es ist das Land, wo es keinen Wettbewerb geben darf, denn wenn sie ihre Zeit nicht gerade schlafend verbringen, singen die Engel dort in einem fort unisono: Es ist nicht auszuhalten!
Die neuen Empfindsamen irren, wenn sie eine Welt für möglich oder auch nur für erstrebenswert halten, in der es keine Bewährung, keinen Wettstreit, keine Auseinander-Setzung mehr gibt. Das wäre eine Welt der Totenstarre, eine Welt, in der wir uns die besseren Ideen verbieten müssten, weil wir damit andere, welche die schlechteren haben, mit unserer Überlegenheit kränken. Es wäre auch eine Welt, aus der wir die belebenden Gegensätze verbannen. Denn in jeder Gesellschaft stehen ja immer zwei Sphären ganz eng nebeneinander, die des Wettbewerbs und die der Kooperation. Zwischen Eltern und Kindern gibt es nur die Zusammenarbeit, zwischen Mann und Frau sollte es sie nur geben. Aber schon die Freundschaft kann dadurch gewinnen, dass sich ein belebender Wettbewerb zwischen den Freunden entfaltet, ein Wettbewerb, der allerdings nie den dauernden Sieg des einen oder eine bleibende Niederlage des anderen herbeiführen darf, wenn die Freundschaft Bestand haben soll. Und auch in Gesinnungsgemeinschaften wie Attac gibt es selbstverständlich den Wettbewerb. Er sorgt dafür, dass immer nur wenige bis an die Spitze aufsteigen. Dieser immer präsente Wettbewerb wird allerdings wie in der Freundschaft durch das gemeinsame Ziel gemildert, das alle in der Zusammenarbeit wieder eng miteinander verbindet.
Das Bemühen der neuen Empfindsamen, den Kampf auch in seiner mildesten Form ganz aus der Welt zu verbannen, wurde und wird immer wieder als „Gutmenschentum“ verspottet – nicht zu Unrecht, weil hier eine Dimension des Menschen hinweggezaubert und hinwegerklärt werden soll, die von jeher zu ihm gehörte. Selbst wer schlicht und einfach das Gute will, setzt sich dabei notwendig gegen das Schlechtere zur Wehr, d.h. er kämpft und tritt damit in einen Wettbewerb ein. Der Kampf und der Wettbewerb gehören zur Conditio humana.
Allerdings verhält es sich mit dem Wettbewerb so wie mit so vielen anderen Dingen, z.B. dem Konsum, der Energie, dem Eigentum. Sicher ist es nicht der Konsum, der uns bedroht. Konsumiert hat der Mensch seit es ihn gibt. Es ist das Übermaß eines in sinnlose Vergeudung ausartenden Ressourcenverbrauchs. Auch von unserem Zugriff auf Energieträger geht kein Schaden aus. Schon der Steinzeitmensch hat Feuer angezündet, um sich daran zu wärmen. Erst der weltweite Ausbeutung fossiler Lager bedroht uns, weil sie den Globus mittlerweile wie eine Zitrone ausquetscht. Und gewiss geht auch vom Eigentum, über das wir uns freuen und mit dem wir deshalb besonders pfleglich verfahren, keine Gefahr aus, sondern zu einer Gefahr wird es erst in dem Augenblick, wenn es eine Gesellschaft aus dem Gleichgewicht bringt, weil es sich in den Händen einer verschwindend kleinen Schicht konzentriert.
Mit anderen Worten, es ist das Un- und das Übermaß, womit wir uns selbst bedrohen. Genau das gilt auch für den Wettbewerb. Was sind wir Mitteleuropäer doch für ein seltsamer Menschenschlag, hin und hergerissen zwischen Extremen! Auf der einen Seite die Verherrlicher von Kampf und Machtstreben mit Nietzsche an ihrer Spitze, jenem psychologisch-genialen Wahnsinnigen (wie Bertrand Russell ihn nannte), der im Zarathustra die blonde Bestie pries. Und jetzt meldet sich das andere Extrem zu Wort, die neuen Empfindsamen, denen schon der bloße Gedanke „besser als andere zu sein“, die größte Seelenqualen bereitet. Sind wir nicht wieder einmal von einer Krankheit in die nächste gefallen?
Von dieser Frage fühlt sich doppelt bedrängt, wer Theorie und Praxis miteinander vergleicht. Nietzsche vermochte – der eigenen Theorie zum Trotz – keiner Fliege etwas zuleide zu tun. Christian Felber hat – seiner eigenen Theorie zum Trotz – einen österreichischen Wirtschaftsminister in die Knie gezwungen. Ist da nicht jeweils auch ein guter Schuss Unehrlichkeit im Spiel?
Ich glaube, man sollte sich offen dazu bekennen, dass es pure Lust ist, die besseren Gedanken zu haben – und nicht selten auch großes Vergnügen bereitet, anderen die schlechteren nachzuweisen (das ist etwas anderes, als sie zu demütigen). Ich jedenfalls darf gegenwärtig von mir behaupten, dass ich einigermaßen zufrieden bin, das bisher beste Steuersystem entwickelt zu haben, eines, das zwar die Unternehmen und Unternehmer von allen (außer Ressourcen-) Steuern befreit, aber zugleich die Privilegierten stärker in das Gemeinwohl einbindet, als das jemals vorher gelungen ist (Siehe Neuer Fiskalismus auf meiner Website). Diese Lust wird auch nicht wesentlich dadurch gemindert, dass ich mich mit dieser Überzeugung vorläufig noch in einer beklagenswerten Minorität befinde, da ich sie bisher als einziger vertrete. Das wird sich ändern.
Wie gesagt, die neuen Empfindsamen sind nicht immer ganz ehrlich. Doch heißt das noch lange nicht, dass sie nicht in vieler Hinsicht im Recht sind. Man versteht, dass sie es längst nicht mehr hören können, wenn das andere Lager den ewigen Refrain, die gleichen abgedroschenen Argumente, dieselbe Fantasielosigkeit mit immergleichen Parolen verbreitet. Da ist von der angeblichen Notwendigkeit eines aggressiven Wettbewerbs die Rede, von Kampf und wieder Kampf. Kampf gegen den Menschen, Kampf gegen die Natur. Die ganze Geschichte nur eine einzige Abfolge von Siegen und Niederlagen? Gegen dieses erbarmungslose Weltbild, das im Menschen eine Art von höher gezüchtetem Bullterrier sieht, setzen sie sich mit Fantasie und menschlicher Wärme zur Wehr. Sie rufen zum Frieden auf, zur Gemeinsamkeit, zur Brüderlichkeit, zum Brücken-Schlagen. Sie ergreifen die Partei der Benachteiligten, der Schwächeren, der Abgedrängten. Man muss ihnen zugestehen, dass sie die eigentlich Hoffnung gebenden Kräfte in unserer Gesellschaft sind. Denn wir stehen in einer Zeit des Un- und des Übermaßes.
Die Gefahr liegt eben nur darin, dass der Idealismus zur Blauäugigkeit verwässert. Er wird diese Schicksal notwendig erleiden, wenn wir uns einbilden, den Wettbewerb an sich auf den Index setzen zu müssen. Zwischen Idealismus und Blauäugigkeit gibt es eine fließende Grenze. Mancher redet sich ein, er brauche nur das eigene Bewusstsein zu ändern, damit auch die Welt eine andere wird. Aber ich sehe nicht, dass Blauäugigkeit die Welt jemals verändert hätte. China wird nach jüngsten Prognosen schon 2016 zur ersten Wirtschaftsmacht aufrücken. Es bedroht uns mit einem Wettbewerb, der statt den Protest der allzu Empfindsamen wachzurufen, im Gegenteil die kollektiven Kräfte aufreizt und mobilisiert. Nachdem sie mehr als ein Jahrhundert vom Westen unterdrückt worden sind, erleben die Chinesen einen gewaltigen Zuwachs an Selbstvertrauen, Selbstbestätigung und Motivation. Sie wollen besser sein als wir, vielleicht nicht um jeden, aber jedenfalls um einen sehr hohen Preis.
Und nicht nur China versucht, die alte Welt zu überholen. Diesen höchst gefährlichen weltweiten Wettbewerb, der uns mit Handels- und Ressourcenkriegen bedroht, schaffen wir nicht aus der Welt, indem wir – wie edelmütig auch immer – das persönliche Bekenntnis ablegen, hinfort allen Wettbewerbsgelüsten zu entsagen. In China oder Indien lacht man uns dafür aus. Und wird im übrigen so rücksichtslos unsere Märkte erobern, wie wir es früher von unserer Seite mit ihren Märkten geschehen ist.
Also das alte Lied – höre ich es jetzt aus der Reihe der Zartbesaiteten rufen – alles so wie gehabt? Ob ich damit etwa sagen wolle, dass sich nichts ändern kann und nichts ändern wird? Behält das andere Lager, das der Hartgesottenen, der Mitleidslosen, der traurigen Realisten letztlich doch wieder Recht?
Nein, das glaube ich keinesfalls. Dazu ist die gegenwärtige Situation mit ihren drei ineinander greifenden Krisen – von Ressourcen, Finanzen und Schulden – viel zu brisant. So wie bisher wird und darf es nicht weitergehen. Wir brauchen den Idealismus und die Visionäre. Doch wenn der Idealismus glaubwürdig sein soll und die Vision kein Merkmal einer psychischen Störung, dann müssen beide vom Menschen ausgehen, so wie wir ihn aus den vergangenen Jahrtausenden kennen, nicht, wie wir ihn uns in unseren Träumen erdichten.
Dem Lager der Hartgesottenen möchte ich auf keinen Fall angehören, aber ich bin auch den Theorien der neuen Empfindsamen gegenüber skeptisch. Daher meine Kampagne gegen Götz Werner und das bedingungslose Grundeinkommen, das ich für eine nicht nur blauäugige, sondern gefährliche Täuschung halte. Eine bessere Welt mit mehr Kooperation, mehr Gerechtigkeit, mehr Fürsorge für die Schwachen werden wir nicht dadurch bekommen, dass wir zuvor den Kampf und den Wettbewerb aus ihr verbannen und nebenbei auch noch die persönliche Leistung zu einem Unbegriff stempeln. Wir müssen uns mit dem Paradox abfinden, dass wir auf eine bessere Welt nur dann hoffen können, wenn wir sie mit den besseren Ideen und einer größeren Tatkraft verwirklichen, also für sie kämpfen – was ja, nebenbei bemerkt, ein Mann wie Christian Felber vorzüglich beherrscht.