Mit offenen Armen hat sie ihn empfangen, sie wartete nur auf ihn. Es sollte eine Lustparty werden, schade, dass nun etwas ganz anderes daraus wurde. Jetzt jammert die EU, sie sei betrogen worden. Aber welch eine Heuchelei: Sie wollte betrogen werden!
Gewiss, die Griechen haben sich mit falschen Zahlen Zugang zur Eurozone verschafft. Aber hat Eurostat, das statistische Zentralamt der Europäischen Union, denn damals überhaupt so genau hinschauen wollen? Lautete nicht die Weisung von oben, man dürfe zutrittsbereite Staaten nicht mit allzu großen Hindernissen abschrecken? Die deutsche Industrie und die deutschen Banken haben doch alle nur darauf gewartet, in der erweiterten Eurozone ihre Geschäfte umso leichter ausweiten und vertiefen zu können. Über eine eventuelle Zahlungsunfähigkeit des Schuldners brauchte man sich keine Gedanken zu machen, solange der griechische Staat für Schulden garantierte. „Was will man denn dem Erpressungspotential der großen Käufer von Staatsanleihen (Banken, Versicherungen, Pensionsfonds) … entgegensetzten, die im Notfall, wie man auch in der Griechenland-Krise gesehen hat, gern mit ihrer eigenen Insolvenz drohen, um den Steuerzahler in Geiselhaft zu nehmen?“ bringt die FAZ die Haltung der führenden Geldinstitute dazu auf den Punkt.1
Dass Betrug jedenfalls durchaus erlaubt sei, sofern wenig Aussicht auf seine Aufdeckung besteht, ja dass man es unter solchen Bedingungen sogar für dumm hält, ihn nicht zu begehen, gehört leider zu den alltäglichen Erfahrungen innerhalb unseres Wirtschaftssystems. Große Unternehmen drücken sich erfolgreich von der Besteuerung, indem sie Fachkräfte ausschließlich damit beschäftigen, alle Schlupflöcher und Tricks aufzuspüren, die sie von den Pflichten gegenüber dem Gemeinwohl entbinden. Nicht anders gehen viele Begüterte vor. Sie können es sich leisten und machen deshalb ausgiebig davon Gebrauch, die besten Steuerberater für den Zweck der Steuervermeidung einzusetzen. Auch wenn es sich hier nur selten um Betrug im rechtlichen Sinne handelt, so gehört die bewusste moralische Hintergehung zu Lasten der Allgemeinheit doch zu den gängigen, man muss schon sagen, zu den stillschweigend gebilligten Praktiken. Und was in den oberen Etagen der Wirtschaft geschieht, wiederholt sich in den unteren in Form der Schwarzarbeit. Ulrich Wickert hat den darin aufscheinenden Zeitgeist in einem präzisen Schlagwort eingefangen. Der Ehrliche ist der Dumme, lautet der Titel eines seiner Bücher.
Darf man sich unter diesen Umständen darüber wundern, dass die Griechen, ein Volk, das seit der Antike für seinen Erfindungsreichtum berühmt ist, eine erstaunliche Kreativität im Umgang mit Zahlen bewiesen? Das spricht weniger gegen sie selbst als gegen den Leichtsinn in zentralen europäischen Institutionen.
Gewiss haben sie dabei auf unsere Kosten gelebt, aber kann man ihnen das wirklich verübeln? Bis gegen Anfang 2010 wurden sie doch geradezu dazu ermuntert. Denn bis dahin haben wir kräftig an ihnen verdient oder bildeten uns dies jedenfalls ein. Einerseits war die deutsche Industrie nur zu froh, das Füllhorn ihrer Produkte, angefangen von Kühlschränken über Pflanzenschutzmittel bis zu Volkswagen und BMWs, über Griechenland auszuleeren. Es hängen ja deutsche Arbeitsplätze daran. Schließlich sollten die EU und der Euro nicht nur ein Projekt von Idealisten sein, sondern Deutschland den europäischen Binnenmarkt erschließen. Andererseits waren auch deutsche (neben französischen) Banken, Versicherungen und Pensionsfonds nur zu gerne bereit, dem griechischen Staat das nötige Geld vorzuschießen, damit sich seine Bürger all diese schönen Dinge auch leisten konnten. Mit anderen Worten, alle an diesem Handel Beteiligten waren eine Zeitlang überaus zufrieden. Die deutsche Industrie und die deutschen Banken verdienten, und die Griechen leisteten sich ein üppiges Leben auf europäischem Niveau. Auch die Gläubiger, die den Banken das dafür erforderliche Geld bereitgestellt haben, waren mit diesem Handel glücklich, weil man ihnen ja die gewünschte Sicherheit und Rendite versprach.2 Mit Ausnahme von ganz wenigen „Schwarzsehern“ und „Nörglern“ – zu denen auch der Autor dieses Artikels gehört3 – dachten bis Anfang 2010 alle, die über Macht und Einfluss verfügen, also die Spitze der Europäischen Union, die Vertreter der nationalen Regierungen und natürlich die von ihnen zu Rate gezogenen Ökonomen, dass es auf diese für alle Beteiligten so erfreuliche Art immer so weiter geht.
Und es wäre ja auch wirklich so weitergegangen, wenn sich nicht bei den Geldgebern plötzlich Misstrauen eingestellt hätte. Industrie, Banken und Staaten, alle waren entschlossen, so wie bisher weiterzumachen, hätten ihnen die Gläubiger nicht von einem Tag auf den anderen klar gemacht, dass sie durchaus die Macht besitzen, das Spiel mit den Schulden jederzeit zu beenden – falls sie nämlich befürchten müssten, ihren Einsatz dabei zu verlieren…
Noch werden die Prognosen in nüchternem Ton vorgebracht. „In zwei Jahren werden Griechenlands Schulden auf 160% des Bruttoinlandsprodukts gestiegen sein, selbst wenn die Griechen noch so viel sparen.“ Und „niemand geht wirklich davon aus, dass ein Land wie Griechenland nach 2013, wenn die Hilfsmaßnahmen auslaufen, seine Schulden jemals wieder aus eigener Kraft zurückzahlen kann.“4 Joachim Fels, Chefvolkswirt der Investmentbank Morgan Stanley, prophezeit allerdings schon größeres Unheil. „Die Krise wird sich durch die gesamte Euro-Peripherie fressen und dann auch das Zentrum erreichen“.4
Wie konnte es zu einer für die Zukunft Europas so verhängnisvollen Entwicklung kommen? Um das zu verstehen, sehen wir einmal von den Geldvorgängen ab – den griechischen Staatsschulden -, um nur den Güterverkehr ins Auge zu fassen. Dann zeigt sich, dass Deutschland, der mächtigste Industriestandort innerhalb Europas, die Chance des Euro genützt hat, um einen Teil seiner gegen Überkapazitäten kämpfenden Produktion in Griechenland abzusetzen: BMWs und Volkswagen, Kühlschränke und Solarzellen, Haushaltsartikel und tausend andere Dinge „made in Germany“ – mit anderen Worten, alles, was man sich in Griechenland nur zu gerne beschafft, um zum europäischen Niveau aufzuschließen. Niemand scheint bei diesem Handel Gedanken daran verschwendet zu haben, dass von den Griechen erwartet wird, den aus Deutschland stammenden Warenstrom letztlich gleichfalls mit Waren abzugelten, Waren „made in Greece“ (also nicht mit bloßem Papier (Banknoten). Diese müssen dann in Summe den gleichen Wert aufweisen, wenn die Handelsbilanz stimmen soll.
Hier aber liegt das eigentliche Problem. Griechenland bietet vor allem pflanzliche und tierische Erzeugnisse an (z.B. Olivenöl und Fische), außerdem Erholungsorte für den Tourismus. Seine industrielle Produktion ist der nordeuropäischen weit unterlegen. Es bestand daher von vornherein nicht die geringste Aussicht, dass es mit diesem bescheidenen Angebot den gewaltigen Warenimport aus Deutschland bezahlen könnte. Jeder Ökonom – und angeblich gibt es deren nicht wenige in der Europäischen Kommission – hätte das von vornherein wissen können.
Jetzt steckt der europäische Karren tief im Morast, und es gibt keine einfache Medizin. Denn auch eine Umschuldung wird nur ein Problem lösen. Sie nimmt einen Teil der Last von den Griechen, dem deutschen Steuerzahler aber beschert sie einen weiteren Aderlass. Er wird zum zweiten Mal für die Rettung jener deutschen Banken aufkommen müssen, die einen wesentlichen Teil an griechischen Staatsschulden halten und daher durch eine Umschuldung ins Schlingern geraten. Denn die „Internationale der Gläubiger“ wird unnachsichtig auf der Rückzahlung der Kredite bestehen, auch wenn die Europäische Union dabei in Scherben zerspringt.
Kalypso hat Odysseus nicht halten können. Das Fest war bald zu Ende. Wird die EU Griechenland, Portugal und Irland halten? Wie lange wird es noch dauern, bis das so unvollkommen und so schlecht vereinte Europa, diese großartige und notwendige Idee einer Friedensgemeinschaft, an inneren Widersprüchen zerbricht und neuerlich in Zwergstaaten zerfällt, die dann auf der weltgeschichtlichen Bühne keine Rolle mehr spielen? Und wie lange wird es dauern, bis man endlich begreift, dass das große Projekt der Vereinigung von Anfang an gegen schwer wiegende Konstruktionsfehler kämpfte?
Griechenland – wie auch Portugal und alle Staaten der Union – gehören zwar Europa an, aber Europa verschafft ihnen keinen wirklichen Nutzen. Denn sie sind dem Wettbewerb mit der ganzen übrigen Welt ausgesetzt. Bieten Lateinamerika, China, Australien oder die USA ihre Produkte billiger an als ein Land der Union, dann kauft Deutschland sie da ein und eben nicht in Griechenland oder Portugal. Griechenland hätte nur dann eine wirkliche Chance, wenn in der Union der Grundsatz in Geltung wäre, dass Waren aus Europa – auch wenn sie teurer sind – stets Vorrang gegenüber nichteuropäischen Erzeugnissen genießen. Unter dieser Voraussetzung wäre Europa nicht nur ein idealistisches Projekt, sondern es wäre auf wechselseitigem Nutzen begründet – dem einzigen Band, das dem Idealismus Dauer verleiht.
Man sagt es ungern als Deutscher, doch entspricht es leider der Wahrheit, dass Deutschland sich zwar mit großem Idealismus für die europäische Idee einsetzte, wenn es jedoch um den Nutzen ging, zuallererst an den eigenen Vorteil dachte, d.h. an seinen weltweiten Export. Auch als sich die Ausfuhr in Länder jenseits der europäischen Union erst auf ein Viertel belief, weil Deutschland mit Dreivierteln seiner Produktion die Europäische Union belieferte, wollte es auf den wesentlich kleineren außereuropäischen Anteil auf keinen Fall verzichten. Damit zwang es sich selbst und alle übrigen Staaten der Union zur unbeschränkten Öffnung der Märkte.
Deutschland ist ein Exportstaat – so wurde es von Helmut Schmidt definiert. Es würde auch Exportstaat bleiben, wäre sein Handel auf die Union beschränkt. Dann hätte es viele seiner Industrien davor bewahrt, von der asiatischen Konkurrenz erdrückt zu werden. Die Arbeitslosigkeit – kurzfristig durch das Strohfeuer einer belebten Konjunktur abgemildert – wäre kein Thema und ebenso wenig der Sozialabbau. Deutschland wäre nicht jenes Land, das es heute geworden ist: Ein Staatsgebiet mit wenigen urbanen Zentren, in denen sich Hochtechnologie (noch) konzentriert, während sich weite Teile des Landes entvölkern, weil es dort keine Arbeit mehr gibt. Mit dem Beharren auf einem vermeintlichen Nutzen hat Deutschland die Union gesprengt. Denn Waren aus Griechenland oder Portugal würden ja augenblicklich einen weit höheren Preis erzielen, beide Staaten wären weit zahlungsfähiger, wenn sie mit ihrem Angebot nur mit den Staaten der Union und nicht mit der ganzen übrigen Welt konkurrieren. Jetzt sind sie zwar Teil der Union, aber diese gewährt ihnen keinen Schutz nach außen, wie dies zu den selbstverständlichen Aufgaben jeder lebendigen Gemeinschaft gehört. Die Union und der Euro verschaffen ihren schwächeren Mitgliedern keinen wirklichen Nutzen – das ist ihr Pferdefuß. Ich kann das traurige Verdienst für mich in Anspruch nehmen, diese Entwicklung schon in der Arbeitslosen Gesellschaft (S. Fischer 1997) warnend beschrieben und ihre Folgen vorhergesagt zu haben.
Auch andere Mitgliedsländer sind im Begriff, die Frage nach dem Nutzen zu stellen. Wenn das Vertrauen in die gemeinsame Wirtschaftspolitik nicht wiederhergestellt werden kann, wird Europa keine Zukunft haben. Europa hat wie Kalypso ein kurzes Fest der Illusionen gefeiert. Ja, und dann war erst einmal alles zu Ende.
Holger Steltzner: Von der Währungs- in die Transferunion. FAZ 30. Oktober 2010.
2 Ähnliche Überlegungen gelten für das deutsche Engagement in Irland, hierzu ein Artikel von Joachim Jahnke.
3 Ich hatte diese Entwicklung bereits in meinem Buch Das Pyramidenspiel aufgezeigt. Das Unheil wurde allerdings erst zur Kenntnis genommen, als es dann wirklich eintrat. Wie sagt Richard David Precht (Der Spiegel 10/26, S. 116)? „Wenn alle in die falsche Richtung laufen, irritiert der Mahner als Geisterfahrer.“
4 Der Spiegel 4/2011. S. 41, 60. Vgl. auch die Börsenzeitung vom 1.3.2011. „Griechenland müsste 20 Jahre lang einen Primärüberschuss von 20% erzielen, um bis 2034 die Schuldenquote von 60% des BIP wenigstens annähernd zu erreichen. Das aber ist in den vergangenen 50 Jahren – mit Ausnahme des Ölförderstaates Norwegen – noch keinem OECD-Land gelungen.“
5 Zitiert aus Der Spiegel 2010/49, S. 26.