Manchmal kommen wichtige Einsichten zwei Jahrzehnte zu spät. Begegnen wir ihnen dann noch bei Leuten, die zuvor nichts gegen eine Politik neoliberaler Deregulierung einwenden mochten, ja, im Gegenteil im Lager ihrer Befürworter standen, dann können sie geradezu befremden. Immerhin galt Francis Fukuyama als ein Vordenker der amerikanischen Neokonservativen. Und nun? Einem Manne, der in Das Ende der Geschichte noch ein Loblied auf den Kapitalismus amerikanischer Prägung gesungen hatte, wird es niemand verargen, dass er inzwischen klüger geworden ist. Nur wird sich vielleicht mancher die Frage stellen, warum Fukuyama nicht all jene Warner nachträglich rehabilitiert, die auch in den Vereinigten Staaten längst vor seiner eigenen späten Erleuchtung die richtige Meinung vertraten. Natürlich kann es jeden nur freuen, wenn ein ehemaliger Saulus uns nun als geläuterter Paulus entgegentritt. Unsere Freude erhält jedoch einen bitteren Beigeschmack, wenn der neue Paulus seine lang gehegten früheren Irrtümer nun geflissentlich verschleiert oder sie gar zu rechtfertigen sucht.
Die Einsichten eines spät Geläuterten
In einem Spiegelartikel vom 30.1.2012 (Spg 12/5; S. 86. Wo bleibt der Aufstand von links?) äußert sich Fukuyama wie folgt:
„Wir dachten, der Globalisierung nur Herr werden zu können, indem wir gar nichts mehr selbst produzieren und lieber Dienstleistungen anbieten. Darüber haben wir ganz vergessen, dass der Sozialismus in den USA nur deswegen kein großes Thema ist, weil immer genügend Leute den Einzug in die prosperierende Mittelklasse schafften. Das funktioniert nun nicht mehr, denn die haben in Branchen gearbeitet, die wir Ländern wie China überlassen haben….
Und auf die Frage des Spiegels: Gehört zum Schutz der Mittelklasse auch eine neue Form des Protektionismus?
„Der Westen hätte niemals zulassen dürfen, dass China Werkbank der ganzen Welt wird. Die Chinesen haben westliche Staaten geschickt gegeneinander ausgespielt und sich so günstig deren Technologie gesichert. Jedes Land dachte: „Wenn ich noch ein bisschen verdienen will, muss ich jetzt mit ihnen ins Geschäft kommen, auch wenn sie mich über den Tisch ziehen und meine Innovationen klauen.“ Wir hätten nicht so feige gegenüber China auftreten dürfen.“
Man beachte, dass Fukuyama die Frage nach einer neuen Form des Protektionismus im Grunde bejaht, aber natürlich davor zurückschreckt, diesen von den Neoliberalen Jahrzehnte lang zum Unwort erklärten Begriff in den Mund zu nehmen.
Auf die weitere Frage, ob sich der Trend noch umkehren lasse, meint Fukuyama.
„Zumindest in den USA ist es zu spät. Alle wichtigen verarbeitenden Industrien sind längst in chinesischer Hand.
Da findet einer zu später Einsicht, die anderen schon vor Jahrzehnten geläufig war. Fukuyama hätte nur die Erkenntnisse Paul Kennedys aufgreifen müssen, eines international hoch geschätzten Historikers und Kollegen an der Universität Yale, der schon 1993 eine unmissverständliche Stellung bezogen hatte:
„Der Kern des Handelsdefizitproblems liegt in der langfristigen Erosion von Amerikas relativer industrieller Position… Es liegt im Wesen vieler Dienstleistungen, dass sie nicht exportiert werden können… Die industrielle Basis ist… entscheidend: Sie trägt praktisch alle Forschung und Entwicklung, welche von der amerikanischen Industrie bezahlt wird, und eine blühende und konkurrenzfähige industrielle Basis ist noch immer unverzichtbar für die nationale Sicherheit. (Paul Kennedy. In Vorbereitung auf das 21. Jahrhundert, (1993) Frankfurt 1997; S. 380.)
Nichts Neues unter der Sonne
Ich selbst hatte 1999 ein Buch mit dem leider etwas missverständlichen Haupttitel Die Arbeitslose Gesellschaft geschrieben. Dessen eigentliche Botschaft war im Untertitel als Frage enthalten: Gefährdet Globalisierung den Wohlstand? Dort vertrat ich, dreizehn Jahre vor Fukuyama, die These, dass die Öffnung gegenüber den Billiganbietern mit der Zeit zwangsläufig einen Abbau des im Westen errungenen Wohlstands bewirken würde. Ich ging aber einen Schritt weiter als der amerikanische Politologe, denn dieser Abbau setze, so meine damalige These, nicht notwendig eine De-Industrialisierung wie in den Vereinigten Staaten voraus. Er könne ebenso dadurch erfolgen, dass unsere Industrien, um weiterhin wettbewerbsfähig zu bleiben, ihre Produkte billiger und billiger anbieten und in diesem Prozess der gesamte Standort und seine Sozialstandards sukzessive ausgehöhlt werden.
Genau diese Entwicklung ist seit der Agenda 2010 in beschleunigtem Tempo vorangeschritten. Zwar hatte Deutschland in vielen Bereichen schon zuvor ganze Teile seiner industriellen Basis an Asien verloren (Werften, Elektronik etc.), doch wenn es weiterhin über einige Schlüsselindustrien von unverminderter Wettbewerbsfähigkeit verfügt (z.B. die Auto- und die Maschinenbranche), dann verdankt es diese Tatsache der von Gerhard Schröder vorangetriebenen Politik einer entschlossenen Standortverbilligung – mit anderen Worten: dem Sozialabbau. Vor Schröder wurde Deutschland als kranker Mann Europas verspottet, nach Schröder ging es der Industrie wieder gut. Dass dieser Erfolg mit dem Abbau errungener Wohlstandsleistungen erkauft worden ist, ließ sich umso leichter verdrängen, als Deutschland innerhalb Europas nun von vielen als Vorbild gefeiert wird.
USA – ein Gigant auf tönernen Füßen
Die USA und Deutschland haben grundsätzlich den gleichen Pfad beschritten. Sie haben sich der Konkurrenz des Weltmarkts ohne Wenn und Aber geöffnet, nur haben sie auf diese Öffnung in unterschiedlicher Art reagiert. Die Vereinigten Staaten setzten alles auf die Karte der Dienstleistungen, so als wäre es möglich – laut Kennedy ein illusionäres Projekt – die eigene Stellung als Weltmacht auch dann noch zu behaupten, wenn man die Produktion materieller Dinge an die anderen abtritt und sich selbst nur noch mit der symbolischen Sphäre befasst: also mit Forschung, Software, Entertainment etc. Die elementare Einsicht, dass alle Theorie immer am Konkreten überprüft, geschult und entwickelt wird, ist schlicht übersehen worden; vor allem aber, dass die Unabhängigkeit eines Landes dabei verloren geht. Alles was vorher an materiellen Produkten im Inland erzeugt worden ist, muss ja nun aus dem Ausland bezogen werden. Die Abhängigkeit in umgekehrter Richtung ist dagegen um vieles geringer, denn Dienstleistungen gehen mit der Zeit als selbstverständlicher Überbau aus der Sphäre der materiellen Produktion selber hervor.
Einem Mythos aufgesessen
Der Mythos, dass die Dienstleistungsgesellschaft den fortschrittlichsten Typ einer Ökonomie darstelle, bemächtigte sich in den neunziger Jahren einer ganzen Generation von Politikern und Ökonomen und richtete erst in ihren Gehirnen danach in der Wirklichkeit Verwüstungen an. Freilich nicht ganz ohne wenigsten zu Beginn eine gewisse Plausibilität aufzuweisen. Sah es doch eine Zeitlang tatsächlich so aus, als würden Hollywoodfilme, die Softwareprodukte von Apples und anderer Dienstleistungsgiganten die in sie gesetzten Erwartungen erfüllen. Diese Euphorie währte nicht lange. Inzwischen haben Fukuyama und mit ihm ganz Amerika umlernen müssen. Zu seinem Leidwesen weiß das Land es nun besser. Nicht nur dass die Mittelklasse an innerer Auszehrung leidet und soziale Unruhen mit der Occupy-Bewegung bereits begonnen haben. Viel schlimmer ist, dass die Vereinigten Staaten ökonomisch zu einem Giganten auf tönernen Füßen geschrumpft sind. Ohne ihre immer noch überragende militärische Stärke wären sie als Weltmacht schon abgetreten.
Und wie steht es um Deutschland, die führende Macht Europas?
Deutschland hat den zweiten in der Arbeitslosen Gesellschaft beschriebenen Pfad beschritten. Es musste ihn wählen, weil es auf dem Gebiet exportfähiger Dienstleistungen wenig zu bieten hat. Wichtige Teile seiner industriellen Basis hat es bis heute bewahren können, teils aufgrund innovativer Leistungen, aber vor allem durch Maßnahmen der Standortverbilligung. Schon 1999 – Jahre vor der Agenda 2010 – hatte ich ein allgemeines Wettrennen der Nationen vorausgesagt, bei dem die bei gleicher technischer Qualität der Produkte weltweit billigsten Anbieter dem Rest der Welt jeweils das zulässige Maß der Standortkosten diktieren. Ich hätte natürlich auch sagen können, dass Politik und Demokratie durch dieses von außen kommende Diktat schrittweise mattgesetzt werden. In einer globalisierten Welt der offenen Märkte hat die nationale Politik kaum noch ein Wort mitzureden, wenn es um die Festlegung der Löhne, der Arbeitsbedingungen, aber auch der Kosten der Bildung, des Gesundheitssystems, der Renten etc. geht. Gewiss können nationale Parteien je nach politischer Färbung weiterhin Umschichtungen innerhalb des Budgets vornehmen. Die eine Partei wird den Verteidigungssektor begünstigen, die andere eher das Gesundheitssystem. Solche Freiheitsgrade sind weiterhin vorhanden. Aber wie teuer ein Standort noch sein darf, der seine Waren auf dem globalen Markt absetzen will, das wird in Zeiten der Globalisierung von außen bestimmt, genauer gesagt vom potentesten Billiganbieter, im Augenblick also (und wohl noch für einige Zeit) hauptsächlich von China.
Die Agenda 2010
Kanzler Gerhard Schröder, als Sozialdemokrat eigentlich einem Programm verpflichtet, dessen oberste Priorität die Erhaltung des Wohlstands im arbeitenden Teil der Bevölkerung ist, hat die Agenda 2010 nicht deswegen durchgesetzt, weil er selbst oder seine Partei daraus Vorteile bezog – das genaue Gegenteil war der Fall: Schröder ist abgewählt worden und viele Parteimitglieder sehen in der Agenda 2010 bis heute den größten Sündenfall der Sozialdemokratie. Schröder hatte sich zu dieser Maßnahme entschlossen, weil er für Deutschland die Bedingungen der Globalisierung akzeptierte und es unter dieser Voraussetzung in der Tat keine andere Alternative gab. Aus genau dem gleichen Grund hat der Demokrat Bill Clinton die Politik seines Vorgängers, des Republikaners Bush Senior, bruchlos übernommen, ebenso wie der linke Tony Blair die Politik der rechten Margaret Thatcher. Sie beugten sich den äußeren Imperativen der Globalisierung.
Weltkrieg um Wohlstand
In meinem damaligen Buch habe ich – ohne dass es sie schon gegeben hätte – vor der Agenda 2010 gewarnt, weil eine solche Standortverbilligung kein einmaliger Schritt bleiben würde. In dem Maße wie Billiganbieter mehr und mehr Bereiche der Industrie beherrschen und technologisch an die Spitze vordringen, drängen sie die Anbieter der frühindustrialisierten Staaten gnadenlos an die Wand und zwingen diese zu weiterem Sozialabbau im Sinne der Standortverbilligung. In einem solchen „Race to the bottom“ muss der Agenda 2010 zwangsläufig eine Agenda 2012, darauf eine Agenda 2014 etc. folgen. Denn es genügt, dass die Nachbarn die Standortverbilligung ihrerseits imitieren, dann geht der eigene Vorsprung augenblicklich verloren. Das Wettrennen der Nationen wird so zu einem Weltkrieg um Wohlstand, wie Gabor Steingart es im Titel eines gleichnamigen Buches Jahre später pathetisch formulieren sollte.*1* Es ist ein Krieg, der letztlich von jenen gewonnen wird, die mit unschlagbar billigen und technisch mit jedem Jahr besseren Produkten den Weltmarkt erobern und dabei noch den Vorteil aufweisen, dass ihnen ein praktisch unerschöpfliches „Humanmaterial“ dabei zu jedem Lohn zur Verfügung steht.
Verlierer aber sind die früh-industrialisierten Staaten. Entweder opfern sie, wie die USA dies taten, ihre eigene industrielle Basis, um sie nach Asien auszulagern, oder sie sehen sich wie in Deutschland dazu gezwungen, ihren bisherigen Lebensstandard schrittweise auf das Niveau der billigsten Anbieter zu reduzieren, also Löhne, Renten, Bildung etc. langfristig auf Drittweltniveau herunterzuschrauben. Kurzfristig freilich scheint diese Strategie weniger schmerzhaft zu sein. Immer wenn eine neue Agenda gegen den Widerstand der Bevölkerung durchgeführt wurde, beruhigt der anschließende Erfolg zunächst einmal die Gemüter: Der Export wird angeheizt, Arbeitsplätze vermehrt. Die Verluste sind vorübergehend vergessen, weil es eine Zeitlang ja allen wieder besser geht. Doch, wie gesagt, schon bald wird die Strategie von anderen nachgeahmt, der Export geht zurück – und eine neue Agenda mit neuem Sozialabbau ist gefordert. So folgen Auf- und Abschwünge aufeinander. Per Saldo aber erleidet die Bevölkerungsmehrheit eine Erosion des schon errungenen Wohlstands – und das in Deutschland ebenso wie in den Vereinigten Staaten. So gesehen erscheint die mit der Agenda 2010 eingeleitete Politik, die von so vielen als vorbildlich für ganz Europa hingestellt wird, in einem veränderten Licht.
Deutschland als Exportland
Die Arbeitslose Gesellschaft hat ein bezeichnendes Schicksal erlitten. Sie hat anfangs viel Anklang vor allem in linken Kreisen gefunden. Bert Rürup, der ehemalige Vorsitzende des Deutschen Sachverständigenrats, lobte sie gar als „das Intelligenteste seit Robert Reichs Die neue Weltwirtschaft“. Ein offenkundiges Fehlurteil. Wer den Thesen von Robert Reich, dem ehemaligen Arbeitsminister unter dem “linken“ Clinton, Intelligenz bescheinigt – man vergesse nicht, dass sich Reich in dem genannten Buch vehement für die totale Öffnung der amerikanischen Wirtschaft einsetzte – hätte meine Arbeit, die diese Haltung als gefährlich verwirft, eigentlich als dumm einstufen müssen. Wer umgekehrt meinem Buch das Prädikat intelligent zuspricht, hätte das Buch von Reich eigentlich für dumm halten müssen. Nachdenkliche Köpfe rätseln noch heute darüber, wie ein Wirtschaftsweiser zu diesem Vergleich der beiden Bücher gelangte…
Dennoch: Die Argumentation der Arbeitslosen Gesellschaft schien einzuleuchten und schwer widerlegbar. Tatsächlich wurde sie bis heute nie ernstlich in Frage gestellt. Trotzdem war das Buch recht schnell vergessen. Denn schon 1999 waren die wirtschaftlich und politisch führenden Kreise Deutschlands überzeugt, dass ein forcierter Export nach Asien, vor allem nach China, dem Land gewaltige Vorteile brächte. Wurde die Kaufkraft der Deutschen nicht mit jedem Tag größer, seitdem man die Regale der Bau- und Supermärkte mit chinesischen Billigwaren vollstopfte? Exportierte Deutschland nicht immer mehr Autos und Europa immer mehr Airbusse nach Asien? Hat nicht – und damit vollziehe ich den Sprung in die Gegenwart – gerade der deutsche Erfolg im Chinageschäft das Land inmitten einer Zeit einbrechenden Wachstums zum stabilen Anker in Europa gemacht? Gilt nicht, womit Altkanzler Helmut Schmidt das eigene Land geradezu definiert, dass nämlich „Deutschland ein Exportland“ sei?
Zu dieser positiven Einschätzung der Globalisierung stehen die Thesen der Arbeitslosen Gesellschaft, wie sie jetzt erneut von Fukuyama vorgebracht werden, in merkwürdigem Gegensatz.
Deutschlands China Connection
Angesichts dieses Widerspruchs mag es lohnend erscheinen, diese Thesen erneut in aller Schärfe zur Diskussion zu stellen – mit größerer Schärfe als dies bei Francis Fukuyama der Fall ist. Ich sehe darin geradezu ein Gebot der Stunde, denn die „China Connection“ Deutschlands hat einen weiteren Aspekt, der Francis Fukuyama entgangen ist. Der „Race to the bottom“ im Handel mit China ist heute einer der Gründe, warum das Projekt Europa in akuter Gefahr ist. Freilich liegt eine besondere Ironie und Tragik darin, dass gerade die Deutschen dieses Projekt jetzt gefährden. Immerhin haben sie es in der Vergangenheit mehr als andere gefördert. Man vergesse nicht: Sie waren die eigentlichen Zahlmeister Europas.
„Wenn man sich die europäische Integration als ein einvernehmliches System von Kriegsreparationen vorstellt, so entsprechen die Leistungen Deutschlands etwa denen, die ihm nach dem ersten Weltkrieg mit dem Versailler Vertrag aufgebürdet wurden. Berücksichtigt man nur die Nettobeiträge zum Budget des gemeinschaftlichen Europas, so zahlte Deutschland zwischen 1958 und 1992 mehr als 163 Milliarden DM an den Rest Europas. Dazu kamen 379,8 Milliarden D-Mark an „Transferzahlungen ohne Gegenleistungen…“ (so der Harvard-Wirtschaftsökonom Niall Ferguson). Man darf den Deutschen also gewiss nicht den Vorwurf machen, sie hätten sich zuwenig für Europa eingesetzt. Das Gegenteil ist der Fall.
Und dennoch: Deutschland ist schuld daran, dass Europa jetzt scheitern könnte
Der Wirtschaftsautor und derzeitige Chef-Volkswirt der UNCTAD Heiner Flassbeck hat den Finger auf die Wunde gelegt, als er darauf aufmerksam machte, dass Deutschland mit der Agenda 2010 Löhne und Sozialkosten soweit herabgesetzt habe, dass die übrigen Staaten Europas im internationalen Wettbewerb weit zurückfallen mussten. Auf Kosten seiner europäischen Nachbarn habe Deutschland sich auf diese Weise saniert. Der eigene Export in die Länder der europäischen Union schnellte in die Höhe, während die südliche Peripherie auf ihren Produkten sitzen blieb. Sie wurden schlicht zu teuer. Die Ungleichgewichte innerhalb Europas wurden durch die Agenda 2010 entscheidend verschärft. „Eine langfristige Lösung wäre, wenn die Löhne in Deutschland über fünf bis zehn Jahre deutlich steigen würden, dadurch bei uns die Binnennachfrage anzieht und auf diesem Weg die südeuropäischen Länder die Möglichkeit haben, ihre Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern.“
Flassbecks Analyse beschreibt Deutschlands Verhältnis zum übrigen Europa in zutreffender Weise, aber sie lässt einen entscheidenden Punkt außer Acht. Wenn Deutschland oder ein anderes europäisches Land mit dem Rest der Welt konkurrieren will, dann muss es so vorgehen wie zuerst die rechte Margaret Thatcher und nach ihr der linke Gerhard Schröder. There is no alternative. Es muss den Kosten des Standorts drücken und abermals drücken, um seine Waren auf dem Weltmarkt abzusetzen. Es ist bereits dann zu solchem Vorgehen gezwungen, wenn es verhindern will, dass die eigene Produktion auf dem Heimatmarkt durch Billigimporte verdrängt wird. Flassbeck ist gegen Schröder im Recht, solange man die außereuropäische Welt ignoriert. Schröder ist gegen Flassbeck im Recht, wenn man den Zwängen der Globalisierung gehorcht. Wäre Deutschland den Empfehlungen Flassbecks gefolgt, wäre sein Export nach China, in die Vereinigten und generell auf dem Weltmarkt eingebrochen, denn seine Waren wären dort nicht länger konkurrenzfähig gewesen. Andererseits wäre das Gleichgewicht innerhalb Europas erhalten geblieben. Nicht nur Griechenland, auch Italien hätte keinen Abschwung erleiden müssen.
Was zählt? Europa oder der Rest der Welt?
Heiner Flassbeck hat den Finger auf die Wunde gelegt, aber ohne das eigentliche Problem zu benennen: nämlich die Globalisierung in ihrer gegenwärtigen Form. Noch vor einem Jahrzehnt exportierte Deutschland etwa drei Viertel seiner Waren in die Länder der Union und nicht mehr als ein Viertel ins außereuropäische Ausland (inzwischen ist daraus nahezu ein Drittel geworden). Deutschland hatte die Wahl, seine Löhne und generell die Kosten der eigenen Produktion nach Maßgabe der ersten drei Viertel seines europäischen Exports zu definieren. Dann wäre die Agenda 2010 unnötig und sogar schädlich gewesen. Doch Deutschland hätte in diesem Fall das letzte Viertel seines Exports opfern und seinen Ehrgeiz als globaler Player aufgeben müssen. Die führenden Kreise Deutschlands haben diese Perspektive ohne jede Diskussion verworfen – sozusagen spontan und aus dem Bauch heraus. Mit der Agenda 2010 wurde dann auch von der größten Partei des linken Lagers die Weiche weg von Europa gestellt. Deutschland hat sich entschlossen, die Kosten seines Standorts im Hinblick auf das letzte Viertel des außereuropäischen Exports festzulegen: Hier wollte und will es wettbewerbsfähig bleiben. Damit aber hat Deutschland das europäische Gleichgewicht geopfert.
Die südliche Peripherie
Denn man mache sich doch bitte nichts vor! Wer glaubt allen Ernstes, dass Griechenland oder Italien, Spanien und Portugal bereit oder fähig sind, Deutschland auf dem Weg des „Race to the bottom“ zu folgen? Und wäre es überhaupt sinnvoll, wenn sie es täten? Schon heute sind die Überkapazitäten in sämtlichen Schlüsselindustrien ein Hauptproblem für die Weltwirtschaft. Was und wem nützt es, wenn nun auch sämtliche Länder Europas den bestehenden Produktionsüberhang zusätzlich durch eigene Produktionsstätten erweitern? Deutschland liefert in großem Umfang Maschinenanlagen nach China und wird im Gegenzug dafür mit jenen Produkten überschwemmt, die das Land der Mitte mit Hilfe eben dieser Maschinen erzeugt. Der deutsche Maschinenhersteller wird dadurch reich, aber ein Vielfaches an Unternehmen, welche die betreffenden Produkte bis dahin in Deutschland (oder in Europa) erzeugten, machen dabei zwangsläufig Bankrott. Und der Saldo an Arbeitsplätzen ist für Deutschland allenfalls solange positiv, wie China nicht auch die Produktionsmaschinen selbst produziert. Das wird nicht lange dauern. Angesichts der Tatsache, dass das fernöstliche Land inzwischen sogar in der Weltraumforschung zum erfolgreichen Konkurrenten der NASA wurde, ist dieses Aufrücken in die letzten Nischen deutscher technologischer Vorherrschaft nur eine Frage der Zeit – einer Frage von maximal zwei Jahrzehnten. Es verheißt ja nichts Gutes, dass inzwischen Europa – und nicht mehr die USA – der größte Markt für Chinas Produkte ist!
Diese Politik einer De-Industrialisierung auf dem Umweg eines hinterrücks und schleichend, aber unaufhaltsam fortschreitenden Sozialabbaus durch Standortverbilligung soll nun auch von den übrigen Staaten Europas betrieben werden?
Kurzsichtige Interessen zerstören das westliche Lager
Europa braucht sich nicht mit der übrigen Welt zu messen, um eine funktionierende, prosperierende Wirtschaft zu bewahren. Im Gegenteil, wenn es seine eigene Prosperität erhalten will, muss es sich dem Ansturm der Billiganbieter widersetzen. Es war richtig, dass westliches Kapital wesentlich dazu beitrug, den Aufstieg Chinas dadurch zu ermöglichen, dass es im Land der Mitte großzügig investierte. Selbstverständlich hat die übrige Welt das gleiche Recht auf materiellen Wohlstand, das wir für uns selbst in Anspruch nehmen. Allerdings sollte man dabei ehrlich bleiben. Westliches Kapital ist nie aus Altruismus nach China gegangen, sondern aus reinem Profitinteresse. Vor Unternehmen tat sich eine Goldader auf, wenn sie in China billig erzeugte Waren mit exorbitantem Gewinn in ihren Heimatländern absetzen konnten (ohne Rücksicht auf die Zerstörung heimischer Unternehmen). Dieses gewissenlose Profitinteresse war für die Chinesen nie ein Geheimnis. Ihre Dankbarkeit gegenüber westlichen Investoren hält sich daher in recht engen Grenzen. Sie setzen im Gegenteil alle Hebel der Industriespionage und des illegalen Diebstahls geistigen Eigentums virtuos und rücksichtslos in Bewegung, um die ausländischen Konkurrenten möglichst bald auch in jenen Bereichen zu überflügeln, wo diese vorläufig noch einen Vorsprung genießen. Eine kurzsichtige Politik der Bereicherung führt den Westen langfristig in den selbstinszenierten Zerfall.
Lenin hatte einmal gesagt, die Kapitalisten würden ihnen gerne den Strick verkaufen, an dem die Kommunisten sie dann aufhängen könnten. Francis Fukuyama hat in verspäteter Einsicht begriffen, dass Amerika seine eigene Zukunft verkauft hat. Nun verkauft Deutschland dem übrigen Europa eine Politik, die den Wohlstand der Union langfristig untergräbt und ihre Einheit gefährdet. Wenn europäische Autos Komponenten enthalten, die in Polen oder Tschechien billig verfertigt werden, dann ist das ein Gewinn für die gesamte Union, denn das Ziel eines Vereinten Europa: die Angleichung der Einkommen und des Lebensstandards, wird dadurch befördert. Wenn deutsche oder französische Autos chinesische Billigkomponenten enthalten, kämpfen die Länder der Union wirtschaftlich gegeneinander, und der eigene Wohlstand wird zugunsten Asiens abgebaut. Diese ökonomische Selbstzersetzung – vorangetrieben durch die Sonderinteressen mächtiger Konzerne – ist inzwischen so weit fortgeschritten, dass viele einen Weg zurück für unmöglich halten. Mit anderen Worten, sie haben sich mit dem eigenen Niedergang abgefunden.
Diese Resignation ist nichts anderes als politische Selbstaufgabe und eine Kapitulation vor den Profiteuren dieser Entwicklung, welche – darin liegt immerhin eine Chance – von der Krise gründlich diskreditiert worden sind. Man wird und muss sich darauf besinnen, dass die Europäische Union eher als jeder andere große Wirtschaftsraum in der Lage ist, der übrigen Welt ein echtes Vorbild zu liefern, indem er die günstigen Folgen der Globalisierung unmissverständlich von ihren schädlichen Auswirkungen trennt. Dazu braucht der Kontinent nur auf die eigenen Stärken zu bauen.*3*
1 Gabor Steingart hat dieses weltweite Wettrennen überzeugend beschrieben. Harald Schumann, ein hervorragender Wirtschaftsökonom, glaubte die De-Industrialisierung der Vereinigten Staaten in seinem Buch Global Countdown in Zweifel ziehen zu können. Eine Antwort auf seine Argumente findet sich im Pyramidenspiel.
2 Mehr dazu in meinem neuen Buch Von der Krise ins Chaos, das noch im Laufe dieses Monats bei LangenMüller Herbig (Signum Verlag) erscheint.