Anmerkungen zu einem gleichnamigen Buch von Stefan Thurner
Teil I – vier Typen von Sachbuchautoren
Der Autor des Buches ist Spezialist für komplexe Netzwerke, die er an der Medizinischen Universität Wien mit Hilfe von Big Data analysiert. Ich erlaube mir in dieser Einführung, den Autor selbst zunächst einmal als Teil eines komplexen Netzwerkes zu sehen, in das er eingebunden, man darf wohl auch sagen, indem er gefangen ist – so wie jeder andere Sachbuchautor auch. Dieses Netzwerk besteht aus einer Triade: erstens, aus der zu beschreibenden Sache, nämlich der Gesamtheit der uns heute bedrohenden Krisen; zweitens, dem Autor und drittens, dem Publikum – dadurch gewinnt das Verhältnis die ihm eigene Komplexität. Denn dessen dritte Säule, das Publikum, entscheidet letztlich darüber, ob Gedanken überhaupt die Chance besitzen, an eine breitere Öffentlichkeit zu gelangen.
Von dieser komplexen Triade – Welt, Autor und Publikum – ist zwar in Thurners Buch keine Rede, aber es scheint mir angemessen und seiner Theorie zu entsprechen, wenn man sie zum Ausgangspunkt aller weiteren Überlegungen macht. Denn diese Trinität bringt vier mögliche Typen von Autoren hervor. Erstens, den konsequenten Schwarzmaler, dessen Erfolgschancen beim großen Publikum nahezu null sind; zweitens, den Krisenleugner; drittens, den Publikumsschmeichler und, viertens, den Fachmann als Retter in der Not.
Der Schwarzmaler
Nehmen wir an, dass unsere Welt nicht nur zerbrechlich sei, sondern bereits zerbrochen wäre, weil sie aufgrund unserer ökonomisch bewirkten Umweltzerstörung und militärischen Aufrüstung auf keine Zukunft mehr hoffen darf. Ein Autor, der eine solche Erkenntnis ohne Wenn und Aber formuliert und keine mögliche Rettung in Aussicht stellt, würde von jedem Verlag als unverkäuflicher Schwarzmaler abgelehnt werden. Verlage und Agenturen wissen ziemlich genau, was die Menschen lesen und was sie nicht lesen wollen. Die Frage, ob der Autor möglicherweise mit seinem Pessimismus im Recht ist, spielt aus ihrer Sicht keine Rolle.
Ich kenne nur ein einziges Buch, das eine derartig niederschmetternde Analyse wagte und dennoch nicht nur gedruckt worden ist sondern für kurze Zeit sogar erstaunliche Verbreitung fand. Es ist das Buch eines damals in Deutschland sehr bekannten, ja berühmten Mannes, den viele für seine Klugheit, sein enzyklopädisches Wissen, seine Beredsamkeit und nicht zuletzt wegen seines keineswegs wissenschaftlich dürren sondern im Gegenteil schönen Deutsches bewunderten. Der Autor heißt Hoimar von Ditfurth und sein Buch trägt den Titel „So lasst uns denn ein Apfelbäumchen pflanzen – es ist soweit“. Im Nachhinein darf wohl behauptet werden, dass es einzig und allein der – damalige! – Ruhm und Ruf des Autors waren, der die Veröffentlichung dieses Weltuntergangsbuches ermöglichte. Von Ditfurth sah die Welt unfehlbar in den Abgrund schlittern – und zwar bereits vor achtunddreißig Jahren (1985), als die heutigen Multikrisen sich gerade erst abzuzeichnen begannen. Sieht man einmal vom Waldsterben ab, so wurden die erdrückenden Befunde des Autors bis heute nicht widerlegt, aber mit seinem Ruhm war es nach diesem Buch sehr schnell vorbei. Da war ein hervorragend informierter Bewunderer von Technik und Wissenschaft plötzlich vom Paulus erneut zu einem Saulus geworden, denn das Fazit seines Buches war eindeutig und ließ keinen Appell und keinen Ausweg zu: Wissenschaft und Technik hätten ihre Versprechen nicht erfüllt, lautete die Diagnose des Autors. Sie können nicht länger als Heilsbotschaften gelten, weil sie die Menschheit statt ins Paradies direkt und unwiderruflich in den Untergang führen.
Dieses Buch eines im Alter kompromisslosen Pessimisten war und blieb eine Ausnahmeerscheinung in der deutschen Publikationslandschaft. Selbst Katastrophenfilme, die sich heute einer gewissen Beliebtheit erfreuen, lassen doch immer noch einen Ausweg offen. Irgendwo im intergalaktischen Raum, wenn nicht gar auf dem uns naheliegenden Mars, gelingt es einer kleinen Zahl von Versprengten ein neues Virginia zu gründen – die Menschheitsgeschichte beginnt sozusagen wieder von vorn und der Zuschauer verlässt das Kino mit einem Aufatmen und trotz allem getröstet.
Der Krisenleugner
steht auf der andere Seite und kann, wenn er seinen Standpunkt auch nur halbwegs plausibel vertritt, stets auf großen Beifall beim Publikum hoffen – ganz besonders natürlich auch bei der Industrie und anderen Krisenverantwortlichen. Jeder Autor, der halbwegs glaubwürdig argumentiert, dass es in Wahrheit gar keine Krise gebe, weil das heutige Leben bedeutend sicherer, gesünder und die Zukunft weit weniger gefährdet sei als je zuvor in der menschlichen Geschichte, darf sich einen weltweiten Erfolg erhoffen, denn genau diese frohe Botschaft möchten die meisten Menschen und Politiker hören.
Das Paradebeispiel für diese Leugnung liefert Steven Pinker, zweifellos einer der intelligentesten zeitgenössischen Autoren, der das Evangelium einer am Ende immer siegreichen und letztlich unfehlbaren Technik und Wissenschaft gegen jeden Einspruch mit unzweifelhafter Brillanz verteidigt. Auf den meisten Gebieten, über die er sich souverän verbreitet, ist Pinker zwar Laie – Spezialist nur als ausgebildeter Sprachwissenschaftler -, aber das tut seiner Wirkung durchaus keinen Abbruch. Er kommt dem elementaren Bedürfnis des großen Publikums entgegen, die Welt in eine rosa Hoffnungsaura zu hüllen. Das allein würde seinen weltweiten Erfolg allerdings nicht erklären, denn auch Esoteriker und andere Spinner wirken in diesem Sinne. Pinkers eigentliche Stärke und Wirkung liegt darin, dass er ohne Vorbehalte auf Seiten der Aufklärung steht und die Menschheit in ihrem zweihundertjährigen Glauben an den beständigen und unaufhaltsamen Fortschritt durch Wissenschaft und Technik bestätigt.
Der Publikumsschmeichler
Krisenleugner haben es freilich schwer, sobald die Sache selbst – in unserem Fall die krisengeschüttelte Wirklichkeit – sich aller Schönfärberei zunehmend verweigert. Die Polkappen schmelzen, Kalifornien und Teile Australiens werden von Feuerstürmen verheert, immer größere Teile Afrikas verdorren und Stürme von nie erlebter Gewalt machen die Auswirkungen der Klimakrise auch den hartnäckigsten Leugnern sichtbar. Da gelingt es am Ende nur noch unter gewaltsamer Verdrehung der Fakten, die Zukunft weiterhin auf Goldgrund zu malen.
Der Publikumsschmeichler geht raffinierter vor. Er findet immer bewundernde Leser, nicht selten sogar millionenfach. Ein Autor braucht uns nur überzeugend einzureden, dass wir in unseren Schöpfungen gottähnliche Leistungen vollbringen, und schon erschauern wir in stiller Ehrfurcht vor uns selber. Yuval Noah Harari ist ein Meister in der Kunst, uns in einen Rausch der Selbstbewunderung zu versetzen. Es gibt Kritiker, die seine Beschwörungen als Schaumschlägerei abtun und ihn der Oberflächlichkeit zeihen.*1* Doch seiner Beliebtheit tut das durchaus keinen Abbruch. Denn der Rausch hält selbst dann noch an, wenn Harari die großen Probleme beim Namen nennt. In seiner Perspektive bleibt die Aufklärung, was sie von Anfang an zu sein behauptete, eine Erlösungslehre und Apotheose, welche die Menschen zu Göttern macht. Es ist diese Selbststeigerung des Homo scientificus zu einem göttlichen Wesen – Homo Deus -, die ihren Heiligenschein auch noch auf den profanen Leser wirft. Ebenso wie Pinker spricht Harari fast nirgendwo als Fachmann – er war ursprünglich Historiker für das Militärwesen in der Renaissance -, dennoch hat er es fertiggebracht, die Rolle eines amtierenden Oberpriesters für das wissenschaftliche Zeitalter zu besetzen. Souverän redet er über schlechthin alles – über Mücken wie Elefanten -, und die Welt lauscht gebannt seinen Worten, weil Harari uns im Namen der Aufklärung Absolution erteilt, solange wir nur so inbrünstig wie er an die erlösende Kraft der Wissenschaften und des Fortschritts glauben.
Der Fachmann als Retter in der Not
Im Gegensatz zu den Krisenleugnern und Publikumsschmeichlern haben wir es bei Thurner mit einem echten und vergleichsweise bescheidenen Fachmann zu tun, der uns über einen Forschungsbereich informiert, in dem er selbst in einer renommierten Institution, der Universität, tätig ist. Dieser Umstand macht ihn für einen Verlag von vornherein interessant, weil der prüfende Lektor das vorgebrachte Wissen nicht zu kontrollieren braucht; die zuständige Institution garantiert für die Seriosität des Autors.
Doch Fachwissen allein genügt nicht, um einen Sachbuchautor für einen Verlag interessant zu machen. Sind seine Ansichten zu abgehoben, abstrakt-theoretisch oder fallen sie gar zu pessimistisch aus, dann wird der Autor mit seinen Gedanken nie über wissenschaftliche Fachzeitschriften und eine Handvoll interessierter Experten hinausgelangen – das übliche Los der Mehrzahl aller Wissenschaftler. Zum Erfolgsrezept bei einem breiteren Publikum gehören eine eingängig geschriebene Analyse und Diagnose der bestehenden Probleme. Beide dürfen ohne weiteres in aller Schärfe erfolgen, vorausgesetzt, dass sie den Leser am Ende mit Hoffnung beschwichtigen – möglichst aufgrund einer neuen und überraschenden Therapie. Nach diesem bewährten Schema arbeiten nahezu alle bekannten Sachbuchautoren. Auf Anhieb denke ich da z.B. an Erich Fromm (Psychoanalyse), Fritjof Capra und Hans-Peter Dürr (Physik), Ernst F. Schumacher, Herman Daly, Acemoglu (Wirtschaft) sowie McGilchrist (Neurologie). Es ist verständlich, dass uns jeder dieser Autoren eine Rettung aufgrund der jeweils von ihm vorgeschlagenen Botschaft verspricht. Die Rettung kann in einer grundlegenden Bewusstseinsänderung bestehen. Das gilt von Sachbuchautoren wie Fromm, Capra, Dürr oder neuerdings von McGilchrist. Dagegen fordern Autoren wie Schumacher, Daly, Acemoglu aber auch Thurner bestimmte gezielte Eingriff in die bestehenden Institutionen.
Zweifellos tragen Erkenntnisse auf allen Gebieten der Forschung auf je eigene Art dazu bei, dass Gesellschaften einen Teil der auf sie zukommenden Probleme bewältigen. In diesem Sinne dokumentieren die vorgeschlagenen therapeutischen Eingriffe und Reformen in aller Regel einen realen Fortschritt der theoretischen und manchmal auch der angewandten Erkenntnis. Aber ich wage zu behaupten, dass sich im Rückblick auf alle vergangenen Vorschläge eine weitere Einsicht ebenso generalisieren lässt, nämlich die, dass sämtliche Versprechungen und Hoffnungen das Maß des dann tatsächlich Erreichten und mehr noch – des tatsächlich Erreichbaren – weit überschritten. Diese Vorschläge erweckten in uns die Hoffnung, dass wir nur einige Stellschrauben in unserem Gehirn oder in unseren Institutionen verdrehen müssten: das würde dann schon genügen, um die Krisen zu bemeistern und die Entwicklung in eine radikal andere Richtung zu lenken.
Das Buch von Stefan Thurner ist insofern typisch für die Gattung des Fachmanns als Retter aus der Not als der Autor genau in diese Kerbe schlägt. Andererseits zeichnet sich der Verfasser durch ein hohes Maß an Ehrlichkeit aus. Zwar verspricht er dem Leser schon auf den ersten Seiten, dass die Analyse von Big Data innerhalb komplexer Netzwerke uns dazu verhelfen würde, krisenhafte Entwicklungen rechtzeitig zu erkennen und sie durch sinnvolle Steuerung zu beherrschen. Wir gewinnen den Eindruck, dass uns Forschung und Technik endlich ein Instrument in die Hände geben, um die unerwünschten Auswirkungen unserer finanztechnischen, ökonomischen, sozialen und politischen Maßnahmen von vornherein zu erkennen und dann auch einzudämmen. Thurner bleibt also der Grundlinie treu, dass die durch Technik und Wissenschaften verursachten Probleme nur durch den Einsatz von noch mehr Technik und Wissenschaft zu lösen seien. Diese Art der Homöopathie – die Methode, Gleiches mit Gleichem zu bekämpfen – versteht sich seit mehr als zweihundert Jahren unter nahezu allen Wissenschaftlern von selbst.
Aber eines macht Thurner besonders sympathisch. Er unterschlägt die zahlreichen und gewichtigen Einwände und Bedenken nicht, die sich einem kritischen Leser dabei zwangsläufig aufdrängen. Meinerseits möchte ich versuchen, diese Einwände zu verallgemeinern. Alle unsere tatsächlichen Fortschritte in der Beherrschung der Natur lassen sich darauf zurückführen, dass sich Letztere berechenbar verhält – innerhalb gewisser Grenzen zumindest. Ein Elektrizitätswerk oder ein Handy funktionieren genau deshalb, weil sie berechenbare Maschinen sind, so wie auch die spektakulären Fortschritte der Medizin nur dadurch erklärbar werden, dass selbst der Mensch bis zu einem gewissen Grade eine Maschine ist, deren defekte Teile wir erkennen, reparieren oder – teilweise – sogar ersetzen können.
Doch so spektakulär auch die Erfolge, die wir auf diese Weise erzielen, die Grenzen dieses Fortschritts sind ebenso klar erkennbar. Die Beherrschung der Kernspaltung in einem Atomkraftwerk funktioniert beispielsweise nur so lange wie Letzteres ein geschlossenes System darstellt. Wenn ein Erdbeben wie in Fukushima oder unsachgemäße Eingriffe wie in Tschernobyl es in ein offenes System verwandeln, wird es für uns schlagartig unberechenbar und wir verlieren die Kontrolle. Für den kritischen Leser legt das Buch von Stefan Thurner diese Grenzen nicht weniger offenkundig bloß. Die Verheißung der Herrschaft über komplexe Systeme gilt nur für geschlossene Systeme – und auch da nur bei starker Vereinfachung. Denn die uns umgebenden ökonomischen, sozialen und politischen Systeme sind nie ganz geschlossen; dort wo sie offen sind, entziehen sie sich der Berechenbarkeit und der darauf beruhenden Beherrschung. Gerade das Buch von Stefan Thurner belegt, dass Big Data weit mehr Probleme erzeugt als beseitigt (Zitate des Buches gebe ich im Folgenden in Kursivschrift wieder).
Teil II – das Pardus-Universum bei Stefan Thurner
Auf die Möglichkeiten der Analyse komplexer Netzwerke wurde der Autor durch die Dissertation eines Studenten aufmerksam, welche aus einem Computerspiel namens Pardus bestand: einem Spiel, das die Wirklichkeit möglichst detailgetreu abbildet, indem es die Spieler wie im wirklichen Leben agieren lässt. Der Unterschied: jede einzelne Aktion jedes einzelnen Spielers wird protokolliert. Die Schöpfer des Pardus-Universums wussten, wer in welcher Sekunde wo war, wer sich wie verhielt, wer sich wie mit anderen verband, wer wie mit Geld umging, wer in welcher Situation wie reagierte, wer wem etwas schenkte und wer wem etwas stahl oder sonst etwas Böses tat. Sie wussten tatsächlich alles über jeden und jede. Der Spielleiter ist also in jeder Entwicklungsphase der imitierten Wirklichkeit genau informiert, in welche Richtung sich das Netzwerk bewegt. Anders gesagt, ist der Spielleiter, was Gott einmal war, nämlich ein höheres Wesen, das jeden Gedanken und jede Handlung seiner Geschöpfe kennt. Der Spielleiter kann daher auch widersprüchliche Tendenzen erkennen, bevor diese soziale, finanzielle oder ökonomische Spannungen auslösen. Da Netzwerke komplexe Strukturen sind, in denen Fehlentwicklungen sich zu Kipp-Punkten aufschaukeln können, die am Ende den Kollaps des Systems bewirken, scheint der prognostische Wert solcher Überwachungssysteme auf der Hand zu liegen. Das ist denn auch die positive Vision, welche uns der Autor auf vielen Seiten seines Buches immer wieder vor Augen hält: Das Pardus-Universum beweist, dass die Komplexität in sozialen Systemen beherrschbar sein kann.
Im übrigen lässt Stefan Thurner auch keinen Zweifel daran, dass Pardus in der Realität bereits erfolgreich angewandt wird, allerdings für Zwecke, die erwiesenermaßen wenig lobenswert sind. Die globalen Datenmonopolisten umfassen die üblichen Verdächtigen, nämlich Unternehmen wie Amazon, Google, Microsoft, Facebook sowie Geheimdienste und Cyberabteilungen in den Verteidigungsministerien dieser Welt. Sie besitzen Nutzer-Daten in ungeheurem Ausmaß und lassen im Normalfall niemanden anderen wissen, welche Informationen über wen bekannt sind und wie diese genutzt werden. Und sein verständliches Fazit: Eine vollständige digitale Kopie des Planeten, vergleichbar mit der der Pardus-Welt, birgt… riesige Gefahren für massive Manipulation.
Erstaunlich finde ich allerdings, dass in dieser Auflistung einer schönen neuen Welt, in der jede Handlung des Bürgers und – wenn möglich – auch noch jeder seiner Gedanken von einem Superhirn registriert wird, das offensichtlichste Beispiel fehlt. In der Volksrepublik China wird Pardus gegenwärtig an einem Fünftel der Menschheit exekutiert – und zwar nach genau den Vorgaben, die der Informationswissenschaftler Stefan Thurner zu seinem wissenschaftlichen Ziel deklariert. Pardus ist die erste Welt mit einer vollständigen digitalen Kopie. Alles, die gesamte Geschichte des Pardus-Universums, ist mitgeschrieben – bis ins kleinste Detail. Jede Bewegung, jede Handlung, jede Veränderung, jede Interaktion zwischen Avataren, alles ist archiviert.
Genau dieses Modell wird gegenwärtig in China zur Anwendung gebracht. Indem die chinesische Führung das tägliche Leben jedes Chinesen im Verkehr, im Konsum, im Austausch der Gedanken über das Internet oder das Telefon, in der Ortsveränderung der Menschen usw. umfassend protokolliert, will das Regime genau das verhindern, was nach Thurner die eigentliche Gefahr komplexer Netzwerke bildet. Das Fehlverhalten einzelner Bürger könnte sich summieren und sich zu Tipping-Points aufschaukeln, die das System aus dem Gleichgewicht bringen oder gar zum Kollaps. Denn das Ziel der Entwicklung ist vom Regime in Peking eindeutig festgelegt. Es geht darum, den chinesischen Staat ökonomisch, politisch und sozial zum gefestigsten und mächtigsten auf dem Globus zu machen – ein klassisches Ziel jeder Großmacht. Dieses Ziel wurde in China erfolgreicher und in kürzerer Zeit als irgendwo sonst in der Welt schon nahezu verwirklicht, und zwar innerhalb der unglaublich kurzen Frist von nur drei Jahrzehnten.
Es ist daher wenig verständlich, dass Thurner diese weltgeschichtliche Anwendung des Pardus-Spiels ebenso wie die Tatsache unterschlägt, dass es dort im Namen der Wissenschaft exekutiert wird. Die totalitäre Überwachung der Bürger erfolgt mit dem erklärten Ziel, Stabilität und materiellen Fortschritt für die gesamte Bevölkerung auf schnellstem Weg und mit größter Effizienz zu realisieren. Niemandem, der die Entwicklung in China verfolgt, kann es entgehen, dass heute nirgendwo auf der Welt eine so große Wissenschaftsgläubigkeit, ja Wissenschaftsbegeisterung herrscht wie gerade dort. In Thurners Buch ist zwar viel von China die Rede, aber durchwegs in negativem Sinn, nur damit ja nicht der Verdacht entsteht, der für den kritischen Leser eine Tatsache ist, nämlich dass China das Computerspiel Pardus schon längst in die Praxis umgesetzt hat.
Es stimmt leider nicht, wenn Thurner behauptet, dass es diese Einschränkung der Freiheit… wie zum Beispiel Überwachungsnetzwerke… in der westlichen Zivilgesellschaft nicht /gebe/. Wie er selbst an anderer Stelle schreibt, wird sie in westlichen Gesellschaften ebenso umfassend von Großkonzernen wie Apple, Amazon, Facebook, Google, Twitter etc. praktiziert, nur eben privat und nicht – oder zumindest weit weniger – durch den Staat. Die private Überwachung innerhalb von Unternehmen ist aber auch in westlichen Staaten die Regel. Schon vor der Erfindung des Internets und der Künstlichen Intelligenz praktizierte die Privatindustrie eine umfassende Kontrolle der eigenen Mitarbeiter. So gesehen, verhält sich China insgesamt wie ein Konzern, wo jeder auf die Ziele der Betriebsleitung (des chinesischen Politbüros) eingeschworen wird. Wer in einem Betrieb als Dissident auftritt, indem er die von der Leitung festgelegten Ziele sabotiert, wird gefeuert. Wer wie die Uiguren einen unabhängigen und muslimischen Staat anstrebt, wird als Terrorist verfolgt.
Auch wenn Thurner diese Parallelen verschweigt, so gibt der durchschlagende Erfolg des chinesischen Pardus-Systems dem Autor von „Die Zerbrechlichkeit der Welt“ andererseits durchaus recht. Er braucht uns gar nicht besonders zu demonstrieren, dass im Kleinen jetzt schon gewisse Subsysteme erfolgreich stabilisiert werden können, z.B. das Finanzsystem. Mit dem Verständnis des Finanzsystems als komplexes, dynamisches Netzwerk-System wird dessen Stabilisierung zu einem technischen Problem – mit technischen Lösungen. China macht der Welt auf allen Gebieten vor, wie man den Staat als einen Automaten konzipiert, wo sich – so könnte es scheinen – dann alle technischen Probleme eben auch technisch lösen lassen, jedenfalls so lange wie es der Regierung gelingt, ihre Bürger dazu zu zwingen, ihr Handeln (und möglichst auch ihr Denken) ganz in den Dienst der von oben verordneten Ziele zu stellen.
Tatsächlich denkt Thurner immer an China, auch wenn es für ihn ein Tabu darstellt, es zu einem welthistorischen Beweis für ein angewandtes Pardus-Spiel zu deklarieren. Denn vor dem Erfolg dieses Landes kann er die Augen nicht verschließen. So konnte zum Beispiel der Anteil der Bevölkerung, der eine Krankenversicherung besitzt, von zehn Prozent im Jahr 2004 auf 95 Prozent im Jahr 2016 angehoben werden. China konnte auch extreme Fortschritte in der Armutsbekämpfung erzielen… Marktwirtschaft und Industrie funktionieren auch in Diktaturen offenbar problemlos. Ich würde ergänzen, dass sie dort sogar besonders gut funktionieren, weil alle Faktoren, welche ihre Effizienz gefährden könnten, mit wissenschaftlicher Methodik beseitigt werden.*2*
Allerdings setzt dieser Erfolg die Geschlossenheit des Systems voraus – alle Parameter müssen berechenbar bleiben. Wir sahen, dass diese Voraussetzung schon bei so überschaubaren Systemen wie Atomkraftwerken nicht garantiert werden kann. Wie in Fukushima oder Tschernobyl kann ein Erdbeben oder menschliches Versagen zu unvorhersehbaren Katastrophen führen. In weit höherem Maße gilt das natürlich für menschliche Gesellschaften insgesamt, wie Thurner selbst einräumt, wenn er sagt, dass die/der westlichen Zivilgesellschaft/ zugrundeliegende Komplexität wissenschaftlich derzeit noch unbeschreibbar sei.
Aber die Grenzen des Pardus-Spiels und damit der wissenschaftlichen Analyse und Steuerung der Wirklichkeit liegen nicht nur im Ausmaß der Komplexität – China ist eine hochkomplexe Gesellschaft wie jede andere auch. Dennoch demonstriert dieses Land besser als jedes andere, wie wissenschaftliche Analyse und Steuerung systematisch dazu eingesetzt werden können, Fortschritt und Stabilität (auf Kosten der Freiheit) zu erreichen. Komplexität – auch die von komplexen Netzwerken – lässt sich offenbar beherrschen. Nur eines wird sich dieser Kontrolle immer entziehen: die Tatsache, dass alle natürlichen Systeme offen sind und daher niemals zur Gänze berechenbar.
Das hat inzwischen auch China erfahren müssen. In seiner Bekämpfung der Corona-Pandemie hat dieses Land sich strikt an die Vorgaben der Wissenschaft, d.h. der führenden Experten, gehalten. Die vorübergehende Quarantäne großer Menschenmassen hat diesem Land zwei Jahre lang einen durchschlagenden Erfolg beschert. Die Zahl der Erkrankten lag bei diesem Milliardenvolk eine ganze Zeit nahe bei Null, während in den Vereinigten Staaten in derselben Zeit etwas mehr als eine Million Menschen starben.*21* Doch dann geschah das Unvorhergesehene. Eine weitaus ansteckendere Variante des Virus machte die Fortsetzung dieser Politik unmöglich – man hätte praktisch das ganze Land in Quarantäne schicken und den Kollaps der Wirtschaft riskieren müssen. Wiederum waren es die wissenschaftlichen Experten, die dem Regime eine radikale Kursänderung empfahlen, doch diese Änderung hat schwerwiegende Folgen. Gleichsam über Nacht wird das Gesundheitssystem total überlastet – vermutlich wird das nun auch in China Millionen Menschen das Leben kosten. Wie Erdbeben, menschliches Versagen oder auch unvorhersehbare menschliche Bedürfnisse (z.B. nach Freiheit) repräsentiert das Virus jenen Anteil des Unberechenbaren, das jedes natürliche, also offene System mit sich bringt.
Die Existenz jedes einzelnen Menschen wie auch die ganzer ökonomischer, finanztechnischer, sozialer und politischer Systeme bleibt gewöhnlich beherrschbar – jedenfalls innerhalb gewisser Grenzen. Dieser Umstand erklärt, warum jeder einzelne von uns seine eigene Überlebensstrategie entwickelt und dies auch der Menschheit insgesamt so gut gelungen ist, dass aus vereinzelten Jägern und Sammlern acht Milliarden der erfolgreichsten lebenden Art hervorgehen konnten. Aber die Offenheit jedes natürlichen Systems und die Tatsache, dass es deshalb nie vollständig berechenbar ist, wird uns gerade in unserer Zeit auf drastische Art vor Augen geführt. Niemand hat vor zweihundert Jahren vorausgesehen, dass es gerade der welthistorische Erfolg in der Vermehrung von materiellem Reichtum durch die Nutzung der fossilen Energieträger sein würde, der unseren Globus zu überhitzen und das menschliche Leben auf ihm zu zerstören droht. Die Vergiftung der Umwelt durch CO2 und tausend andere Rückstände der von uns prozessierten Rohstoffe war damals noch nicht vorauszusehen. Wir berechneten unser Tun auf wissenschaftliche Art – und das hat uns jenen überwältigenden Fortschritt beschert, den Autoren wie Yuval Noah Harari dazu verleiten, vom Homo Deus zu schwärmen. Aber in unseren Berechnungen fehlten schlicht und einfach die Giftstoffe und die von ihnen ausgehenden verheerenden Wirkungen – das ist heute die offene Flanke aller industriellen Gesellschaften.
Stefan Thurner weiß darum, und das ist für ihn ein weiterer Grund, die Analyse mit Hilfe von Big Data zu propagieren. Damit wäre es nämlich möglich, den Prozess der Klimaerwärmung umfassend zu kontrollieren, um gefährliche Tipping-Points rechtzeitig zu erkennen und den Systemkollaps zu vermeiden. Aber Thurner ist Realist genug, um Radikalkuren abzulehnen, denn sie würden nur das Übel der Klimaerwärmung durch andere – auf kurze Sicht ebenso drastische – ersetzen. Wir wollen einfach nicht, dass, während wir ökologische Netzwerke schützen, wirtschaftliche und soziale /Netzwerke/ kollabieren und Massenarbeitslosigkeit, soziale Unruhen, Armut und politisches Chaos die absehbaren Folgen wären… Würden wir den Energiehahn plötzlich abdrehen, wäre es so, als würden wir unserer Gesellschaft die Luft abdrehen.
Wenn Radikalkuren aber undurchführbar erscheinen, könnte es dann nicht sein, dass wir überhaupt keine Chance mehr besitzen, die Überhitzung des Planeten noch zu umgehen? Thurner beweist seine Ehrlichkeit, wenn er eingesteht, dass nach Meinung führender Experten der richtige Zeitpunkt für ein erfolgreiches Eingreifen bereits verpasst sei, denn das Ziel (von zwei Grad) zu erreichen, ist laut Hans Joachim Schellnhuber, Gründer und ehemaliger Chef des Potsdam Institut für Klimafolgenforschung (PIK), gar nicht mehr möglich. Und sobald wir einmal bei zwei Grad sind, werden wir durch eine Reihe von Rückkopplungsschleifen bald bei vier Grad sein, schätzt er. John Rockström, ebenfalls Experte am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung, sieht Folgen für unsere Art voraus, die – so möchte ich hinzufügen – um vieles einschneidender wären als alle bisherigen Kriege. „Bei einer um vier Grad wärmeren Welt ist es schwierig zu sehen, wie wir eine Milliarde Menschen, oder auch nur die Hälfte davon, darin unterbringen können.*3* Will Steffen, renommierter Klimaforscher und Mitarbeiter bei IPCC fasst seine Erkenntnisse in einem Satz zusammen: „Das derzeit wahrscheinlichste Szenario ist der Kollaps.“
Welche Therapie verheißt Thurners Buch, um einen schnellen Ausstieg aus den CO2-Emissionen zu erreichen? Thurners Rezept lautet wie folgt: Erstens die Formulierung der Rechte des Planeten. Zweitens das Bekenntnis weiter Teile der Bevölkerung zu diesen Rechten, und drittens die Schaffung einer exekutiven Macht – einer Institution – zur Überwachung der Einhaltung der Planetaren Rechte.
Die zwei ersten Punkte in diesem Maßnahmenkatalog entsprechen den üblichen Bekenntnissen auf Klimakonferenzen, die bisher keine Wirkung erbrachten und das wohl auch in Zukunft kaum tun werden. Ein einziger Punkt – derselbe, den ich in allen meinen Arbeiten mantragleich wiederhole – nämlich die Schaffung einer exekutiven Macht, wie sie schon der Historiker Arnold Toynbee verlangte, könnte effektive Abhilfe schaffen. Aber Toynbee wusste auch, dass der teilweise Verzicht auf einzelstaatliche Souveränität, den die Schaffung einer solchen globalen Exekutive notwendig zur Bedingung macht, nicht freiwillig erfolgen wird sondern allenfalls nachdem die Menschheit eine mehr oder minder große Katastrophe erlitten hat – wir wissen, dass auch die Europäische Union das Ergebnis der Katastrophe von zwei verheerenden Bruderkriegen gewesen ist.
*1* In seinem Buch „Ship of Fools“ nimmt der britische Anthropologe Christopher Hallpike kein Blatt vor den Mund.
*2* Thurner ist, wie gesagt, der Einwand natürlich bewusst, dass China sich jedem kritischen Leser seines Buches sofort als verkörperte Realanwendung des Pardus-Spiels aufdrängen wird. Um diese Assoziation möglichst auszuschalten, vergleicht er das kommunistische Regime mehrfach mit der totalitären Hitler-Diktatur – wie ich meine zu Unrecht. So lässt sich beispielsweise die blutige Unterdrückung der Uiguren in Xinjiang nur oberflächlich mit dem Massenmord an den Juden vergleichen. Das kommunistische Regime hat nichts gegen Minderheiten, sofern diese die Ziele des materiellen Fortschritts eines säkularen Staats und die Rolle der Partei als lenkende Instanz in diesem Prozess akzeptieren. Wenn sie dies tun, stehen ihnen dieselben Möglichkeiten des Aufstiegs wie den Han-Chinesen offen, die übrigens derselben Verfolgung ausgesetzt sind, wenn sie sich den Weisungen der Partei widersetzen. Das entspricht ganz der klassischen Tradition des alten China, wo die bürokratische Elite der Literaten – von Voltaire als Philosophen-Könige bezeichnet – das Ziel eines Staates in der Erhaltung von Wohlstand und sozialem Frieden erblickte. Das dumme Volk hatte ein Recht auf materielle Wohlfahrt, aber es hatte den Mund zu halten, wenn die kluge Regierung aus gebildeten Literaten über die Verwirklichung dieses Zieles befand. Hitler hingegen sprach offen darüber, dass man die Juden erfinden müsse, wenn es sie nicht gebe. Er brauchte Feinde, auf die er Hass und Mordlust lenken konnte. Die Juden wurden selbst dann aus allen Ämtern gedrängt, wenn sie sich vollständig assimilierten. Ja, sie wurden gerade deswegen verfolgt, weil viele von ihnen erfolgreicher als die Deutschen waren.
*21* Quelle: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1103602/umfrage/entwicklung-der-fallzahlen-des-coronavirus-in-den-usa/.
*3* Wie optimistisch mutet da die Prognose an, die der bekannte kanadische Ökologe William Rees aufstellte: Zwei Milliarden Menschen, meint er, würde die Welt bei unserem heutigen Ressourcenverbrauch allenfalls verkraften. Ich zitiere ihn in meinem Buch Ob wir das schaffen?
Über Zuschriften freue ich mich, aber ich werde keine Kommentare mehr veröffentlichen.