Brauchen wir eine Andere Welt?
Gedanken über die Zukunft der Demokratie
Den Einzelnen gibt es – geschichtlich gesehen – nicht lange. Statt seiner gab es den gehorsamen Untertan, der gesichtslos im Kollektiv verschwindet. Erst die Demokratie war der Zauberstab, der den gesichtslosen Einzelne aus seinem Jahrtausende währenden Schlummer erlöste. Demokratie beruht auf der Achtung verschiedener mit einander im Wettstreit befindlicher Meinungen. Demokratie setzt Verschiedenheit und Wettbewerb voraus – den Wettbewerb um die jeweils besten Lösungen im Sinne des Gemeinwohls.
Friedliche Ameisenstaaten
Mit anderen Worten: Demokratie ist ein schönes Ideal, das in der Praxis aus einem unschönen Konzert ewig streitender Kampfhähne besteht. Bekanntlich ist die Demokratie die schlechteste aller Regierungsformen – sieht man einmal von den übrigen ab. Keineswegs muss man in ihr die beste Verfassung im Sinne des Gemeinwohls sehen. Denn es sind historisch Fälle bezeugt, wo autokratische Herrschaften Einzelner oder einer Oligarchie zum Vorteil des Kollektivs tätig waren. Die weitgehend auf alle persönliche Machtentfaltung verzichtende Herrschaft der venezianischen Dogen liefert dafür das vielleicht eindrucksvollste geschichtliche Beispiel. Und wir brauchen auch nicht daran zu zweifeln, dass in Ameisen- und Bienenstaaten das Gemeinwohl auf ideale Weise gepflegt und verwirklicht wird. Das ist schon deshalb der Fall, weil die Unterordnung und Einbettung aller Einzelnen in das Ganze hier bis zu ihrer biologischen Reduktion auf bestimmte Funktionen perfektioniert worden ist. Eine Arbeiterin im Ameisenstaat kann niemals Königin werden – das ist schon biologisch unmöglich. In dieser Gesellschaft gibt es daher kein Streiten, kein Gerangel, kein Intrigieren um Macht, Einfluss und größeren Besitz. Jeder füllt den ihm seit seiner Geburt zugewiesenen Platz aus. Der indische Kastenstaat hat versucht, die fehlende biologische Differenzierung der Menschen in kulturelle Absonderungen zu übersetzen und abzubilden. Das ist mit größtem Erfolg gelungen. Das Kastensystem des indischen Subkontinents hat sich als eine der langlebigsten menschlichen Ordnungen erwiesen – sein Einfluss reichte so tief, dass es sogar auf christliche und islamische Gemeinschaften auf dem Subkontinent übergriff!
Es ist also keineswegs ein Vorrecht der Demokratie, eine stabile Gesellschaft hervorzubringen. Aus geschichtlicher Perspektive haben sich Ameisenstaaten und menschliche Ordnungen, die ihnen nahe kommen, als weit stabiler erwiesen. Wenn die mehr als tausendjährige Stabilität des indischen Kastensystems ein Beweis für Effizienz im Sinne des Gemeinwohls ist, dann muss man ihnen auch in dieser Hinsicht einen sehr hohen Rang zuerkennen. Damit verglichen ist die Demokratie des alten Griechenland nicht mehr als eine politische Eintagsfliege gewesen. Sie ist vor allem an sich selbst gescheitert: ihren inneren Parteikämpfen und fortwährenden Zwistigkeiten. Welchen Weg und welche Entwicklung die erst zweihundertjährige Demokratie der westlichen Staaten einschlagen wird, ist vorerst noch völlig offen.
Selbstverwirklichung oder Tod durch Erstickung?
Dennoch können wir eines mit Bestimmtheit behaupten. Wo immer Demokratien entstanden, haben sie ein unvergleichliches Feuerwerk des Geistes, der Kunst, des Könnens auf allen Gebieten menschlicher Schaffenskraft entfacht. Der Gegensatz zwischen dem entfesselten Geist Athens und dem Tod des Geistes durch Erstickung in der autokratischen Ordnung Spartas könnte nicht größer sein. In Athen konnte jeder freie Bürger mit Talent und Können zum eigenen und zum Wohl des Ganzen beitragen. Es herrschte ständiger Wettbewerb um die größere Aufmerksamkeit, den größeren Applaus. Der Philosoph musste beständig neue Gedanken, der Dichter neue Theaterstücke, der Politiker neue Ideen beisteuern. Wer hinter den anderen zurückblieb, musste mit Spott und Häme rechnen. Dieser kleine Stadtstaat produzierte in wenigen Jahrzehnten mehr Gedanken, kühne Geistesentwürfe und bis in die Gegenwart nachwirkende Werke der Dichtung als die großen Reiche der Perser oder Ägypter in vielen Jahrhunderten – ganz zu schweigen von der kulturellen Totenstille, die in weniger als zweihundert Kilometern Entfernung in Sparta herrschte.
In Athen war jeder freie Mann davon besessen, dem eigenen Ruf und Ruhm zu dienen – wenn sich daraus auch ein Vorteil für das Gemeinwohl ergab, umso besser. In Sparta hingegen ging es ausschließlich um das Gemeinwohl. Sparta war ein Ameisenstaat, wo jeder den ihm von der Gemeinschaft zugewiesenen Platz auszufüllen hatte, wenn es sein musste bis hin zur Selbstaufopferung für das Ganze. Für die selbstsüchtige Entfaltung von Geist und Können war in Sparta kein Platz. Man muss sich diesen Staat etwa so wie das heutige Nordkorea vorstellen. Der Einzelne verschwindet völlig hinter dem Kollektiv. Alle politischen Verlautbarungen triefen von Moral und Aufrufen zur Selbstaufopferung im Sinne des großen Ganzen.
In Sparta galt der Einzelne nichts, das Kollektiv war alles. In Athen war es umgekehrt: Man bewunderte den Einzelnen umso mehr, je unverkennbarer er als Einzelner in Erscheinung und aus dem Kollektiv mit unverwechselbarer Stimme und Physiognomie vor die anderen trat – mit anderen Worten sich als Einzelner verwirklichte, wie wir es heute nennen würden. Es verstand sich von selbst, dass diese Verwirklichung kein abstrakter auf die Person beschränkter Prozess war, sondern sich auf die Dinge erstreckte, also die ökonomische Freiheit des Güter- und Reichtumerwerbs umschloss. Durch größeres Wissen, größere Zielstrebigkeit oder einfach die größere Rücksichtslosigkeit durfte er auch seinen materiellen Wohlstand vermehren. Demokratie und Verfügung über persönliches Eigentum sind unlösbar miteinander verbunden. Der Einzelne verwirklicht sich, indem er geistig und materiell mit den anderen Gliedern der Gesellschaft in Wettbewerb tritt.
Demokratien sind bedroht: Sie bergen den Keim der Selbstzerstörung
Und genau daraus entstehen jene elementaren Konflikte, welche die demokratische Eigentumsgesellschaft – die Gesellschaft der individuellen Selbstverwirklichung – von Anfang an heimgesucht haben und sie immer wieder von innen zerstörten. Denn der Wettbewerb ist zwar die geschichtlich mächtigste Kraft, um alle natürlichen Anlagen des Menschen zur höchsten Entfaltung zu bringen, aber er hat sich immer auch als größte Gefahr für das Gemeinwohl erwiesen. Nicht ungestraft erlaubt man dem Einzelnen die größtmögliche Entfaltung. Da diese regelmäßig auch die maximale Mobilisierung der Eigensucht nach sich zieht, führt sie zur Auflösung der Gemeinschaft und zum Ruin des Gemeinwohls. Die demokratische Eigentumsgesellschaft – das erfolgreichste Modell zur Entfaltung der Individuen –zersprengt dann das eigene Fundament.
Das reaktionäre Gegenideal
So erklärt sich, dass in diesem Milieu der geistigen Efferveszenz: des beständigen Brodelns kreativer Ideen, kühner Utopien und konkurrierender Weltentwürfe auch immer wieder das radikale Gegenideal die Geister in seinen Bann zieht: die ein für alle Mal ruhig gestellte Gesellschaft, wo es keinen Streit, keinen Wettbewerb und damit auch keine Vielfalt gibt. Mit anderen Worten, das Ideal der Re-Aktion. Es ist kein Zufall, dass dieses Ideal mit der Demokratie zugleich auf die Welt gelangt. Es ist gewissermaßen der Schatten, der sie seit ihrer Geburt begleitet. Denn der Urtyp dieser weltanschaulichen Selbstverleugnung, die sich aus geistiger Helle und der Unruhe des Geistes nach der Friedhofsstille einer ewigen Ordnung sehnt, einer Ordnung, wo man die Vielfalt der Meinungen und Individuen von oben gewaltsam unterdrückt, weil die einmal gefundene ewige Wahrheit sie als überflüssig und störend verwirft; dieser Urtyp der Re-Aktion tritt uns im geistig brodelnden Athen selbst entgegen, nämlich in Gestalt des großen Plato, des Übervaters der abendländischen Philosophie, der die eigene Schizophrenie allen späteren Zeitaltern vererbte.
Der verratene Sokrates
Nirgendwo in der Geschichte des menschlichen Geistes hat sich geistige Schizophrenie auf gleich krasse Weise manifestiert. Einerseits hat Plato Sokrates zu einem Helden der Geschichte und einem leuchtenden Vorbild verklärt: Sokrates, ein Mann, den man im zeitgenössischen Sparta ebenso wie im heutigen Nordkorea, kaum dass er den Mund auch nur öffnet, von Staats wegen ermorden würde. In der ehemaligen DDR oder in Festlandchina hätte man ihn zumindest ausgewiesen, eher aber wohl einfach verschwinden lassen. Denn Sokrates verkörpert den freien Menschen, der sich durch nichts und niemanden von sich selbst und den eigenen Überzeugungen abbringen lässt. Sokrates repräsentiert das mündige Individuum, das sich selbstbewusst dem Ganzen entgegenstellt. Es ist wahr, Sokrates hatte dabei immer das Gemeinwohl im Auge, nicht den persönlichen Vorteil, aber die bloße Tatsache, dass ein Individuum hier die Wahrheit nur in sich selber sucht statt die Tradition und die Weisheit der Alten zur obersten Instanz für Wahrheit und Recht anzuerkennen, macht ihn zu einem archetypischen Repräsentanten der athenischen Demokratie. Auch wenn dieser Mann das Gemeinwohl predigt, ist er doch die Inkarnation des selbstverwirklichten Menschen, wie sie damals nur in Athen möglich war.
Doch Plato hat nicht nur diesen, er hat noch einen zweiten Sokrates geschaffen. Plato hat die Freiheit Athens und damit auch Sokrates selbst posthum verraten. Er hat Sokrates zum Fürsprecher der spartanischen Diktatur gemacht. Im Staat lässt Plato den neuen Sokrates vom Individualisten zu einem Kollektivisten mutieren. Er macht aus ihm einen Mann, der in Platos Staat keinen Platz haben würde, ja, in dem man ihn keinen Tag hätte leben lassen. Der Staat Platos schafft nämlich die Individuen und die Vielfalt der Meinungen ab. Er beseitigt den Wettbewerb und das misstönige Konzert der konkurrierenden Wahrheiten. Dieser Staat sorgt mit eiserner Hand für Ordnung, aber um welchen Preis! Plato ermuntert die Wächter des Staates – d.h. die mehr oder weniger Geheime Staatspolizei – ausdrücklich zur Lüge, um die Bevölkerung ideologisch in Schach zu halten. Dieser radikal verfälschte Sokrates, mit dem Plato im Staat das Andenken des realen Sokrates nachträglich verfälscht und entweiht, predigt Lüge, Gewalt und Gleichschaltung im Sinne einer vermeintlich ewigen Ordnung. Plato, selbst Kind und Geschöpf einer freien Gesellschaft, wird im Alter von einer wachsenden Angst vor der Freiheit beherrscht. Der späte Plato wird zum Verräter an den Idealen des historischen Sokrates und des athenischen Staats.
Verrat aus edlen Motiven
Warum spreche ich über einen Verrat, der mehr als zweitausend Jahre zurückliegt? Weil Demokratien immer aufs Neue und immer nach gleichem Muster von solchem Verrat heimgesucht werden. Gerade weil Demokratien neben den Zwecken des Gemeinwohls auch den Individuen die größtmögliche Entfaltung gewähren, sind sie von innerem Zerfall bedroht und bringen die Verräter an ihren Idealen hervor. Im besten Fall ist es ein Verrat aus edlen Motiven. Karl Marx hatte die Selbstverwirklichung jener frühen Kapitalisten vor Augen, die ihr Eigentum an Geld und Gütern auf Kosten ihrer Mitmenschen so rücksichtslos vermehrten, dass im England der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine Menschenschinderei möglich wurde, wie sie selbst in Feudaldiktaturen selten so extreme Auswüchse erreichte. Marx war ein Moralist, der die Freiheit des Eigentums für das Elend verantwortlich machte, so wie Plato die Ursache für den politischen Zerfall in der Vielfalt konkurrierender Wahrheiten sah. Es ist kein Zufall, dass beide auf eine gleich radikale Lösung verfielen. Für Plato sollte und durfte es nur noch eine einzige Wahrheit geben, welche die Wächter den Staatsbürgern mit Gewalt aufzwingen. Für Marx durfte es nur noch einen einzigen Verfüger über alles Eigentum geben, den Staat, der mit Gewalt dessen private Aneignung verhindert. Beide Male erleben wir eine Re-Aktion gegen das Individuum und seine jeweils eigene Verwirklichung in Politik und Ökonomie. Beide Male wird diese Re-Aktion im Namen des Gemeinwohls und Kollektivs vorgenommen. Man kann auch sagen, dass in beiden Fällen Zeit und Entwicklung abgestellt werden, zugunsten der Vision einer ewig und unveränderlich gültigen sozialen Ordnung und Wahrheit.
Der antidemokratische Stillstand
Wo immer Plato, Marx oder ihre Gefolgschaft die antidemokratische Vision zu realisieren vermochten, sorgten sie für einen Stillstand der Zeit. In der historischen Realität ist das indische Kastensystem der Vision Platos wohl näher gekommen als jedes andere Gesellschaftsmodell. Es besteht sogar eine oberflächliche Analogie zwischen den sozialen Klassen von Nähr-, Wehr- und Lehrstand im platonischen Staat und den drei indischen Hauptkasten der Shudras, Kshatriyas und Brahmanen. Das indische System hat sich keineswegs als schlecht für das Gemeinwohl erwiesen. Es hat – allen ausländischen Überfällen zum Trotz – der indischen Gesellschaft eine Stabilität und Widerstandskraft verliehen, wie sie wenig andere soziale Ordnungen besitzen. Und es hat in Indien bis an die Schwelle der Neuzeit zu einer der schönsten und umfassendsten Symbiosen mit der natürlichen Umwelt geführt. Nur eines hat dieses System systematisch verhindert: die freie Entfaltung der Individuen, ihre Selbstverwirklichung durch individuelles Wissen und Können. Denn der Lebensweg jedes Einzelnen war durch die Geburt festgelegt. Kein Können, kein Wissen, keine Intelligenz führte ihn aus diesem Gefängnis hinaus. Man kam als König ebenso wie als Unberührbarer auf die Welt. Den einzigen Ausweg aus dieser unüberwindlichen sozialen Determination bot das Leben als kastenloser Asket, der allen weltlichen Zielen entsagt.
Die antidemokratische Opferung der Individuen
Im real existierenden Sozialismus gab es keine drei Hauptklassen oder Kasten. Es blieben nur zwei Schichten übrig: die Nomenklatur und das gleichgeschaltete Volk. In romantischen Augenblicken hat Marx von der Freiheit geschwärmt, die dem Einzelnen im Kommunismus angeblich erlaube, des Morgens auf Fischfang zu gehen und nachmittags ein kritischer Kritiker zu sein. Doch Marx mochte sich noch so sehr darum bemühen, die Gleichschaltung der Einzelnen in einer klassenlosen Gesellschaft mit Verheißungen zu entschärfen, die „jedem [ein materielles Leben] nach seinen Bedürfnissen“ versprachen – die Realität sah zwangsläufig anders aus. Vielfalt lässt sich nur mit Zwang und Gewalt unterbinden. Eine unnachsichtige Diktatur (des Proletariats) sorgte in Gestalt des Politbüros für die geforderte Gleichschaltung. Plato und Marx stellten der freien Gesellschaft eine Zwangsordnung entgegen, in denen eine Oligarchie alle und die gleichgeschaltete Masse keine Freiheit besitzt. Gewiss ist das eine Gesellschaft, wo uns nicht die Misstöne ewig widerstreitender Meinungen irritieren – es herrscht Ruhe. Aber was für eine: die Friedhofsruhe.
Nur Freiheit erlaubt den Verrat an der Freiheit
Wenn wir es nicht ohnehin ahnen würden, so beweisen es Plato und Marx: Es zählt zu den Vorrechten der Demokratie, ihre eigenen Feinde hervorzubringen. In Sparta gab es keinen Marx und keinen Plato, ebenso wenig konnten und können diese in der DDR, in Sowjetrussland oder im gegenwärtigen China entstehen, und zwar aus einem ganz einfachen Grund. In diesen Staaten glaubte oder glaubt man, die ewig gültige Wahrheit oder Sozialordnung bereits gefunden zu haben. Propheten mit abweichenden Meinungen gelten daher zwangsläufig als ausrottungswürdige Abtrünnige oder Ketzer. Der Verrat an der Freiheit ist nur in Staaten möglich, wo es Freiheit schon gibt: die Freiheit des Individuums, die Vielfalt der Meinungen, den offen ausgetragenen Streit der Überzeugungen.
Aber nicht nur, dass Demokratien immer wieder die Rebellion gegen die Freiheit in ihrem Innern erzeugen. Es liegt darin leider eine Art von historischer Zwangsläufigkeit. Marx hatte ja recht mit seinen aufrüttelnden Anklagen gegen Kinderarbeit und Ausbeutung, und Plato hatte gleichfalls recht, wenn er im Hass der streitenden Parteien die Ursache für den Niedergang seines Landes sah. Und blicken wir auf unsere Zeit, so bietet sich ein ähnliches Spektakel. Die USA als älteste Demokratie der Welt sind gerade im Begriff, sich am Parteienhass zu verschleißen. Denn Demokraten und Republikaner sind unfähig zum Dialog. Das Wohl des Landes tritt hinter dem der eigenen Gruppe, der eigenen Clique und nicht selten auch ganz elementar hinter dem der eigenen Bereicherung zurück. Es zeigt sich, was wir schon von der griechischen Demokratie wissen: Unter allen Regierungsformen ist sie die am wenigsten stabilste, weil sie zwei Zwecke zugleich anstrebt: das größtmögliche Gemeinwohl und die größtmögliche Entfaltung der Einzelnen. Nur wenn und nur solange sich diese beiden Ziele im Gleichgewicht miteinander befinden, ist diese Gesellschaftsordnung ökonomisch und politisch jeder anderen weit überlegen. In diesen glücklichen Momenten ist sie es aus einem offensichtlichen Grund: Nur dieses System bringt es fertig, die Gesamtintelligenz dadurch zu potenzieren, dass sie alle Einzelintelligenzen für ihre Zwecke benutzt. Ameisenstaaten platonischer oder marxistischer Prägung sind einem solchen Modell notwendig unterlegen; in ihnen kommt nur die Intelligenz einer Oligarchie zum Zuge. Die Bevölkerungsmehrheit tritt als abgerichtetes Bataillon in Erscheinung, das die Befehle des Politbüros ohne Widerspruch zu exekutieren hat.
Wenn Demokratie an Parteienhass und übermäßiger Selbstbereicherung scheitert
Doch, wie gesagt, diese gewaltige Überlegenheit der demokratischen Ordnung gilt nur so lange, wie das Gemeinwohl den gleichen Rang neben der Entfaltung der Einzelnen und ihrer Interessen einnimmt. Sie gilt nicht mehr, wenn die persönlichen Interessen der konkurrierenden Einzelnen den Blick auf das Gemeinwohl verstellen. Ohne die nötigen Sicherungen ist das eine unausweichliche Entwicklung. Denn es sind ja stets einige Individuen intelligenter, tatkräftiger oder auch einfach rücksichtsloser als der Rest der Gesellschaft. Ihnen fällt daher ein immer größerer Anteil materieller Ressourcen zu. Sobald das wirtschaftliche Wachstum erlahmt oder gar rückläufig ist, agieren sie auf einmal gegen das Gemeinwohl, da sie ihren Reichtum auf Kosten der eigenen Mitbürger vermehren. Die Brisanz ihres Verhaltens wird zusätzlich dadurch gesteigert, dass die im Wettbewerb am stärksten begünstigten Spieler begreiflicherweise bestrebt sind, ihre Vorteile auf Dauer zu sichern, damit sie nach Möglichkeit auch ihren Kindern und Enkeln zugute kommen. Dazu aber haben sie nun auch die erforderliche ökonomische und politische Macht. Unter dem lügenhaften Deckmantel der Förderung des Gemeinwohls hat der Neoliberalismus die Regeln von Wirtschaft und Politik zu Gunsten der ohnehin schon Privilegierten und zum eindeutigen Nachteil des Gemeinwohls korrumpiert.
Wir brauchen eine andere Welt!
Demokratien wären wohl unüberwindbar, wenn ihre Feinde nur von außen kämen. Doch sie kommen vornehmlich von innen, nämlich von ihren ideologischen Feinden, die sich der Freiheit bedienen, um Freiheit abzuschaffen, und von ihren praktischen Feinden, die das Gemeinwohl opfern, um nur noch ihren eigenen Interessen zu dienen. Die größere Gefahr geht im Augenblick eindeutig von den letzteren aus. Je mehr Macht die politisch wie ökonomisch herrschenden Schichten bereits besitzen, desto leichter fällt ihnen die Umpolung der echten demokratischen Selbstbestimmung in ein System, das immer weniger dem Gemeinwohl und immer mehr ihren eigenen Zwecken dient. Die Abgeordneten des US-Kongresses machen vor, wie diese Aushöhlung der Demokratie und ihre Verwandlung in eine Plutokratie funktioniert: Sie verabschieden Gesetze zugunsten von Unternehmen, in denen sie selbst als Investoren fungieren (Vgl. Guardian vom 25. 11. 2011, Naomi Wolf: The shocking truth about the crackdown on Occupy). Fast immer beenden diese „Volksvertreter“ ihre Tätigkeit im Kongress als einfache oder vielfache Millionäre.