Lange muss man suchen, um in der heutigen Sachbuchliteratur einen Autor zu finden, der ihm in der Brillanz des Stils, der Tiefe der Reflexion und dem Umfang der Bildung auch nur entfernt nahe kommt. Die Rede ist von jenem Mann, der in Wien aus dem Fenster des dritten Stocks in der Gentzstraße sprang, als er 1938 die Nazischergen an die Tür klopfen hörte. Noch im Augenblick des bevorstehenden Todes hat er auf seine Art den Wiener Charme definiert, denn während seines Sprungs rief der massige Mann den Leuten auf der Straße noch ein „Achtung!“ zu.
Seine außerordentliche Gabe ist eine seitdem in der Sachliteratur nie wieder erreichte Meisterschaft im Gebrauch der deutschen Sprache. Friedell verstand es, in aphoristischer Kürze Akteure der Geschichte mit größter Anschaulichkeit zu schildern, zum Beispiel, wenn er den Grafen Mirabeau in folgenden Worten beschreibt:
Mit seiner auffallend hochgewachsenen und breitschulterigen, gedunsenen und vierschrötigen Gestalt, seinem mächtigen blatternarbigen Kopf, den eine ungeheure Löwenmähne ungepuderten gelockten Haares krönte, und seinen riesigen Knöpfen und Schuhschnallen war er schon in seiner äußeren Erscheinung von einer eigentümlich befremdenden und imposanten Elefantiasis: »seine ganze Person«, sagt Madame de Staël, »war gleichsam die Verkörperung einer regel- und schrankenlosen Gewalt.« In seinem Antlitz lebten, nach den Worten Chateaubriands, Stolz, Laster und Genie.
Oder wenn er Aretino skizziert, einen der ersten Skandaljournalisten der heute so verbreiteten Revolverpresse:
Noch gefürchteter aber war der »göttliche Aretino«, der Vater der modernen Publizistik, von dem das Volk nicht mit Unrecht behauptete, er besitze den bösen Blick. Er bezog von den beiden großen Gegnern Karl dem Fünften und Franz dem Ersten gleichzeitig Pensionen und erhielt auch von anderen Potentaten: den Königen von England, Ungarn, Portugal und von vielen kleineren Fürsten reiche Geschenke; selbst der Sultan schickte ihm eine schöne Sklavin. Er war aber auch ein vollendeter Techniker der geistreichen Erpressung. Es liegt aber in der Paradoxie des Renaissancecharakters, dass Aretino, abgesehen von den Infamien, zu denen er sozusagen beruflich verpflichtet war, einer der liebenswürdigsten, hilfreichsten und freigebigsten Menschen gewesen ist, ein rührender Kinder- und Tierfreund, ein unermüdlicher Wohltäter und Gastgeber, dessen Haus jedermann offen stand, der Kranke unterstützte, Gefangene befreite, jeden Bettler beschenkte, alles erpresste Geld mit vollen Händen an andere austeilte und jedem Bedürftigen seinen Rat und seinen Einfluss lieh, ein »Sekretär der Menschheit«, wie er sich selbst, il banchiere della misericordia.
Stephan Zweig, ein Zeitgenosse Friedells, ist diesem an psychologischem Scharfsinn ebenbürtig, aber eine derart anschauliche Klangfülle des Stils hat auch dieser Meister des Worts nur selten erreicht. Wie treffend zum Beispiel die Worte, mit denen Friedell Wilhelm Busch charakterisiert:
Wie bei allen großen Künstlern ist man auch bei Busch in Verlegenheit, wohin man ihn eigentlich rangieren soll. Ist das Primäre seiner Kunst die eminente zeichnerische Begabung, die eine ganz neue Technik der Karikaturistik geschaffen hat, nach der höchsten Kunstregel: »le minimum d’effort et le maximum d’effet«? Mit sechs Bleistiftstrichen umreißt er einen ganzen Lebenstypus, eine ganze Gesellschaftssphäre, ein ganzes Menschenschicksal. Ein gleichschenkliges Dreieck als Mund drückt mit der Spitze nach unten freudiges Entzücken aus, mit der Spitze nach oben herzliches Bedauern, ein schräges Linienpaar über den Augen ernsteste Bedenken, ein Punkt in der Mitte des Antlitzes bitteren Seelenschmerz. Oder war auch bei ihm im Anfang jene unbegreifliche Fähigkeit, der Sprache durch die allereinfachsten und allernatürlichsten Satzbildungen die ungeahntesten Wirkungen zu entlocken?; wie etwa in dem schlichten Referat: »Heut bleibt der Herr mal wieder lang. Still wartet sein Amöblemang. Da kommt er endlich angestoppelt. Die Möbel haben sich verdoppelt.
Dabei darf man Friedell nicht als Weichzeichner missverstehen, er versteht sich auch auf die Kunst, Sätze voll scharfer Ironie mit spitzer Feder zu schreiben. Die von ihm gern und genüsslich kritisierte Professorenschaft hat er sich dadurch von Anfang an zu Feinden gemacht:
Was Gottsched für die Poesie und Poetik unternommen hatte, leistete Christian Wolff für alle Teile der Gelehrsamkeit und Philosophie. Er machte die Gedanken Leibnizens, mit Ausschluss der tiefsten und originellsten, dem großen Publikum mundgerecht, indem er sie in breiter und flüssiger, dünner und salzloser Breiform vortrug, zugleich aber auch in ein wohlgegliedertes geschlossenes System brachte, wofür Leibniz sowohl zu unruhig wie zu genial gewesen war. Keines von beiden konnte man Wolff zum Vorwurf machen. Sein selbstsicheres Phlegma, seine Unbedenklichkeit, alles zu sagen und alles zu erklären, sein ordnungsliebender Schachtelgeist, seine spießbürgerliche Vorliebe für die goldenen Mittelwahrheiten machten ihn zum gefeierten und gefürchteten Klassenvorstand ganz Deutschlands.
Und Friedell hatte keinen Respekt vor den Großen der Weltgeschichte – er konnte, wenn es ihm richtig schien, auch ätzend werden:
Das Phänomen Rousseau bezeichnet den Einbruch des durchtriebenen und brutalen Plebejers in die Weltliteratur. Das bisherige Schrifttum des dritten Standes hatte den Ehrgeiz, in die höhere Welt aufzusteigen, die Feinheit, Anmut, Beherrschtheit ihrer Lebensform zu erreichen und womöglich zu überbieten: aber Rousseau verachtet die »Gesellschaft« oder spielt vielmehr virtuos die Rolle dieses Verächters, er bleibt unten; und das ist seine Originalität und seine Stärke. Seine Ordinärheit ist jedoch nicht einfach Natur, das wäre uninteressant, sondern gesteigerte, gestellte, plakatierte Natur: er legt die Schminke fingerdick auf und macht dadurch für seine verkünstelte und verspielte Zeit den Effekt erst voyant, schlagend, bühnenfähig… Man ist entzückt über die Pikanterie, mitten unter Reifröcken und Seidenfräcken einen unrasierten Kerl in Hemdärmeln zu sehen, der sich in die Hand schnäuzt, ins Zimmer spuckt und alle Dinge beim Namen nennt. Dass dies nur eine neue Nuance der Affektion darstellt, bemerkt in einer Zeit, deren einzige Apperzeptionsform die Affektation ist, natürlich niemand.
Wer Sprache liebt, den können Sätze wie diese in eine Art Trance versetzen. Allerdings will selbst die Liebe gelernt sein. Hat jemand in seiner Jugend nie guten Wein gekostet, dann wird er ihn auch nicht als solchen erkennen, wenn man ihn im Alter damit bewirtet – so geht es mit der vollendeten Prosa eines Thomas Mann – der Friedell übrigens besonders schätzte – ebenso zu wie mit einer Sonate von Mozart oder einer Bleistiftzeichnung aus der Hand von Horst Janssen. Nicht nur die Könnerschaft selbst will erlernt sein, sondern sogar noch die Fähigkeit, sie überhaupt wahrzunehmen.
Friedell lässt sich niemals auf Vereinfachungen ein. In einer Zeit der großen Vereinfacher – man kann auch von ideologischen Betonköpfen sprechen – macht ihn das wohl eher suspekt. Er scheut sich nicht, die Wirklichkeit so zu schildern, wie sie uns in aller Regel entgegentritt, nämlich widersprüchlich bis zur Unfassbarkeit. So schildert er zum Beispiel Michelangelo, nachdem er uns diesen zunächst als den größten Künstler seiner Zeit präsentiert, von einer Seite, die in der monumentalen Geschichtsschreibung gewöhnlich unter einem Schleier verdeckt bleibt:
In seiner äußeren Erscheinung abstoßend hässlich: von »malaiischem« Gesichtsausdruck, klein und schwächlich, immer schlecht gekleidet; scheu, misstrauisch, wortkarg, stets mit sich und den anderen unzufrieden; ohne jede Genussfreude, frugal bis zur Schäbigkeit: mit einem Tölpel von Diener in einer elenden Kammer lebend, seine Nahrung etwas Brot und Wein, seine Erholung ein paar Stunden Schlaf in den Kleidern; von gänzlich unverträglichem Charakter, intolerant und gehässig gegen andere Künstler; von einem exklusiven Selbstgefühl, das zwar berechtigt, aber nicht einnehmend war: ein neunundachtzigjähriges Leben ohne irgendeinen Lichtblick, ohne Glück, ohne Freundschaft, ohne eine einzige Liebesstunde.
Wie gut der Kulturhistoriker Friedell es dabei versteht, jene scheinbaren Kleinigkeiten ins Licht zu heben, die man in wissenschaftlichen Werken vergebens sucht – und die eine Person doch oft besser charakterisieren als noch so gelehrte Ausführungen!
Schiller inspirierte sich bekanntlich beim Schreiben durch den Geruch fauler Äpfel. Man könnte nun (ohne dass damit im geringsten etwas Degradierendes ausgedrückt werden soll) auch von dem Pathos seiner Vorgänge und Gestalten sagen, es lebe in einer solchen Atmosphäre. Ihre Leidenschaft ist vollkommen echt, hat aber etwas nicht ganz Frisches, einen »Stich«, den befremdenden und zugleich verführerischen Hautgout des Morbiden und Konservierten; des Theatralischen.
Ganz gleich, ob Friedell einen Staatsmann, einen Dichter, einen Maler oder einen Denker ins Visier nimmt, stets gelingt es ihm, in aphoristischer Kürze die Quintessenz sichtbar zu machen:
Eckhart ist eine eigenartige Kreuzung aus einem kristallklaren Denker, einem Dichter von unvergleichlicher Wucht, Plastik und Originalität der Bildersprache und einem religiösen Genie. Seine Lehren, die nach seinem Tode von der Kurie verdammt wurden, ziehen die Summe aller mystischen Spekulation. Es versteht sich, dass er Agnostiker ist; von der Wahrheit sagt er: wäre sie begreiflich, so könnte sie gar nicht Wahrheit sein. In undurchdringlicher Finsternis, in unbeweglicher Ruhe thront die Gottheit; wir können von ihr nur Negationen aussagen: dass sie unendlich, unerforschlich, ungeschaffen sei; jedes positive Prädikat macht aus Gott einen Abgott.
Das ist keine Wissenschaft im üblichen Sinn – so darf diese ja gar nicht reden – aber das ist, was von einer langen wissenschaftlichen Abhandlung übrig bleibt, wenn wir das Wesentliche im Gedächtnis bewahren.
Als Meister erwies sich Egon Friedell auch darin, eine ganze Epoche auf den lebendigen, unmittelbar einleuchtenden Begriff zu bringen, aber ohne sie deswegen schulmeisterlich in eine Formel zu zwingen. Friedell braucht niemals Formeln, er spricht in Bildern:
Antoine Watteau, der 1684 geboren wurde und schon 1721 an der Schwindsucht starb, hat in fast achthundert Bildern das Parfüm jener wissenden und infantilen, heitern und müden Welt, die man Rokoko nennt, mit einer solchen Kraft und Delikatesse, Unschuld und Virtuosität festgehalten, dass man an diese Zeit nicht denken kann, ohne sich zugleich an ihn zu erinnern, und Rokoko und Watteau fast austauschbare Begriffe geworden sind. Vielleicht keinem zweiten Künstler ist es so restlos gelungen, das flüchtige Leben seiner Umwelt in all seinem sprühenden Glanz in tote Zeichen zu übertragen: diese Menschen, deren seelische Entfernung von uns noch weit mehr beträgt als die zeitliche, hier schlafen sie, in Farbe gebannt, einen unsterblichen Zauberschlaf als unsere Zeitgenossen und Vertrauten.
Welche eine glänzende psychologische Studie liefert auch die folgende Passage!
Lady Montague berichtet in ihren bekannten Briefen aus Wien, dass man es dort für eine schwere Beleidigung angesehen hätte, wenn jemand eine Dame zum Diner gebeten hätte, ohne ihre beiden Männer, den Gatten und den offiziellen Liebhaber, mit einzuladen. Ihr Erstaunen hierüber zeigt, dass diese Sitte offenbar nicht über den Kontinent hinausgedrungen war … Auch die Tatsache, dass das Rokoko ein Zeitalter der Gynokratie war, ist nicht aus besonders stark entwickelter Erotik herzuleiten. Dies ist vielmehr in zwei anderen Momenten begründet. Zunächst in der Feminisierung des Mannes, die sich von Jahrzehnt zu Jahrzehnt steigerte. »Die Männer«, sagt Archenholz, »sind jetzt mehr als in irgendeinem Zeitraum den Weibern ähnlich.« Sodann aber hatte in den romanischen Ländern das Gesellschaftsleben allmählich die grandiosesten Formen angenommen, und wo eine höchstentwickelte Kultur der Geselligkeit herrscht, dort herrscht auch immer die Frau. Aus derselben Ursache stammt auch in der Renaissance der soziale Primat des weiblichen Geschlechts. Nur war die Renaissance eine ausgesprochen virile Zeit und ihr Frauenideal daher die Virago. Ganz umgekehrt kann im Rokoko die Frau gar nicht weiblich und kindlich genug aussehen.
Nun findet man in der „Kultur der Neuzeit“ allerdings eine Reihe von Stellen, die aus heutiger Sicht anstößig wirken, weil sie alles andere als politisch korrekt sind. Über die Hauptakteure der Französischen Revolution zum Beispiel hat Friedell nichts Gutes zu sagen – nichts Gutes, aber dafür Sätze von funkelnder Brillanz:
Und nun entrollte sich jener glänzende Schundroman, der in Europa so viel Bewunderung und Entsetzen erregt hat. Seine drei Haupthelden sind: erstens Jean Paul Marat, eine tollgewordene Kellerratte, der das Versagen des öffentlichen Kanalisationssystems die Möglichkeit gibt, aus ihrer Latrine hervorzuschießen und alles wütend anzufressen, schmutzig, manisch, deformiert, luetisch und von einem unstillbaren Hass gegen alle erfüllt, die gewaschen, vollsinnig, nicht deformiert und nicht luetisch sind, der typische Vertreter des Gesindels der Revolution, der unterirdischen Existenzen, die aus Bordellkneipen und verfallenen Werkstätten, Waldwinkeln und Erdhöhlen plötzlich emportauchen; zweitens George Jacques Danton, eine Art »edler Brigant« und schlechte Karl-Moor-Kopie, wegen seines pockennarbigen Bulldoggenkopfs, seiner dröhnenden Stimme und seiner starken genussfreudigen Vitalität der »Mirabeau des Pöbels« genannt und in der Tat abwechselnd blutgierig und gutmütig, stumpf und intelligent wie ein ungezähmter Bullenbeißer; drittens Maximilian Robespierre, ein dämonisch gewordener Oberlehrer, der seine Tyrannei unter normalen Verhältnissen in Sittenpunkten entladen hätte und zu seiner Diktatur nichts mitbrachte als den konventionellen Verstand, die aufgeblasene Mittelschulbildung und die gute Leumundsnote eines mittelmäßigen Strebers: er war schon auf der Schule Primus und wäre zu jeder anderen Zeit und in jedem anderen Lande geworden, was ein Primus zu werden pflegt: Winkeladvokat, was er anfangs tatsächlich war, Magistratsbeamter, Buchhalter oder Polizeispion, und er wurde, was nur in jener Zeit und in jenem Lande ein Primus werden konnte: Autokrat des jakobinischen Frankreich.
Die Engstirnigen unserer Zeit – das Internet treibt sie ja en masse ans Licht – sind freilich eher bereit, auf den Geist zu verzichten als auf die ideologisch vorgekostete Speise. Deshalb werden sie heftigen Abscheu gegen Sätze wie die Folgenden empfinden:
Demokratie und Freiheit: In den Schulbüchern wird allerdings zumeist unstillbarer Freiheitsdurst des Volkes als Ursache der großen Umwälzungen angegeben. Dies ist aber sicher von allen falschen Gründen, die man wählen könnte, der falscheste. Das Volk will niemals die Freiheit, erstens, weil es gar keinen Begriff von ihr hat, und zweitens, weil es mit ihr gar nichts anzufangen wüsste. Die Freiheit hat nämlich nur für zwei Klassen von Menschen einen Wert: für die sogenannten privilegierten Stände und für den Philosophen. Die ersteren haben sich das Talent, Freiheit angenehm oder nutzbringend zu verwenden, durch ein generationenlanges Training mühsam erworben; der letztere hingegen hat die Freiheit immer und überall, in jeder Lebenslage und unter jeder Regierungsform.
Oder wenn es bei ihm heißt:
kein Druck nämlich, ob er von links oder von rechts kommt, ist der Kunst so schädlich wie die lauwarme Zimmertemperatur des Liberalismus.
So etwas darf man heute nicht länger sagen, es mag richtig sein oder nicht. Aber, bitte, man beachte, wie treffsicher Friedell die Lehre Proudhons beurteilt, wenn er Letzteren gegen den Vorwurf des Kommunismus verteidigt:
Für einen Kommunisten gilt auch Proudhon wegen seines berühmten Ausspruchs: »Was ist Eigentum? Es ist Diebstahl«; aber dieser Satz kehrt sich eben nur gegen das vom Staat geschützte, arbeitslose Eigentum, das aus Renten und Zinsen, Hausmiete und Bodenpacht, Sinekuren und Privilegien und dergleichen fließt, und nicht gegen den privaten Besitz: das Eigentum, sagt er, sei die Quelle alles Missbrauchs, der Besitz aber (der im bloßen Gebrauch dessen besteht, was man sich erarbeitet hat) schließe jede Möglichkeit des Missbrauchs aus; dieser sei die Bedingung, jenes der Selbstmord der menschlichen Gesellschaft, dieser sei rechtlich, jenes widerrechtlich; und weit entfernt, den Privatbesitz abschaffen zu wollen, in dem er den notwendigen Ansporn zur Arbeit, die Grundlage der Familie und die Quelle alles Fortschritts erblickt, will er vielmehr, dass jeder Mensch Privatbesitzer sei.
In meinem Artikel „Aufstieg und Niedergang“ hatte ich ausgiebig aus dem Werk „The German Genius“ des englischen Publizisten Peter Watson zitiert, der dazu aufruft, Deutschland nicht nur mit den dreizehn unseligsten Jahren seiner Geschichte zu identifizieren. Egon Friedell lebte vor dieser Katastrophe, freiwillig sprang er in die Tiefe, bevor die Barbaren ihn in die Tiefe zu ziehen vermochten. Ebenso wie Watson war Friedell sich schon damals bewusst, dass sich das alte Deutschland abgeschafft hatte – schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war das geschehen, denn damals trat etwas anderes an seine Stelle:
Im letzten Akt der Neuzeit … bemerken wir Deutschland an der Spitze fast der gesamten Großfabrikation, tonangebend im Geschützbau, im Schiffsbau, in der optischen, chemischen und elektrotechnischen Industrie. Sehr im Gegensatz zum alten Deutschland: in Berlin regieren nicht mehr Fichte und Hegel, sondern Siemens & Halske und statt der Brüder Humboldt die Brüder Bleichröder, in Jena gelangt als Nachfolger Schillers Zeiß zu Weltruf, in Nürnberg werden Dürers Werke von Schuckerts Werken abgelöst, Frankfurt am Main muss vor Höchst am Main weichen und an die Stelle der Farbenlehre tritt die Farben-AG.
Dieses andere Deutschland hatte denn auch schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts die gleichen Probleme, die uns heute beschäftigen:
Die Gymnasialreform: Auch die Versuche, den gelehrten Unterricht zu reformieren, ergaben sich unmittelbar aus den naturalistischen Tendenzen der Zeit. Die Angriffe, die sich in Deutschland Ende der achtziger Jahre gegen das humanistische Gymnasium richteten, kamen hauptsächlich aus zwei Lagern: von den industriell interessierten Kreisen der höheren Bourgeoisie und von der militaristisch orientierten preußischen Hofpartei. Die ersteren erhoben die jedermann bekannten Einwände von der praktischen Nutzlosigkeit der toten Sprachen und plädierten für die Verdrängung der klassischen Bildung durch eine sogenannte »realistische«, das heißt: für Annäherung an die Gewerbeschulen …
Den German Genius („german“ im kulturellen Sinne gefasst) hat Friedell im besten Sinne repräsentiert: mit seiner Weltoffenheit, seiner Sensibilität für das Erfassen auch des Fremdesten in seinem Reichtum und seiner Eigenart. Und deswegen hat er früher als andere, nämlich schon 1935, als die Nazis in den Augen vieler noch als Heilsbringer galten und ihr größtes Verbrechen noch ungeschehen war, unverblümt ausgesprochen, was vom Regime Hitlers zu halten sei:
Das Reich des Antichrist. Jede Regung von Noblesse, Frömmigkeit, Bildung, Vernunft wird von einer Rotte verkommener Hausknechte auf die gehässigste und ordinärste Weise verfolgt.
Wissenschaft straft Kulturgeschichten dieser Art freilich mit Nichtbeachtung, denn sie selbst befasst sich allein mit Fakten, nicht mit der Kunst, Tote zum Leben zu erwecken. Was den Umfang der Fakten betrifft, so erfassen die eineinhalbtausend Seiten des Friedellschen Werks natürlich nur einen Bruchteil des heute Gewussten, und das eine oder andere – nicht vieles – weiß man inzwischen besser. Aber darauf kommt es in Wahrheit ja am wenigsten an. Aus Friedells Buch ist das Wichtigste zu erlernen, nämlich die Liebe zur Geschichte, wie die abstrakte Faktenhuberei unserer Tage sie so gründlich abzutöten versteht. Anders gesagt, man lernt die Liebe zum Menschen in all seiner Vielfalt und mit all seinen Widersprüchen, Geschichte als menschliche Komödie.
Dieses Welttheater gekonnt darzustellen, war vielleicht niemand so berufen wie gerade Egon Friedell, der im Hauptberuf abwechselnd als Kabarettist, Schauspieler, Journalist und unter Max Reinhardt auch als Regisseur tätig war. Es macht ihn noch dazu besonders sympathisch, dass er die eigene Person nie so wichtig nahm wie manche selbstdeklarierten Geistesgrößen unserer Zeit. Peter Handke zum Beispiel traut dem Publikum wenig Urteil zu, deswegen serviert er ihm gleich das eigene, indem er sich selbst zu einem Goethe resurrectus ernennt. Von Robert Menasse war die Klage zu hören, wie verzagt und niedergeschlagen er lange Zeit gewesen sei, wenn er an große Schriftsteller von der Art Dostojewskis dachte; plötzlich sei er dann aber zu der beglückenden Einsicht gelangt, dass er selbst ja den großen Schriftsteller unserer Zeit repräsentiere, einen neuen Dostojewski sozusagen.
Friedell hatte solche Selbstbeweihräucherung nicht nötig. Seine Beschreibungen, Beobachtungen und Einsichten kommen mit tänzerischer Leichtfüßigkeit daher; ja, damit nur niemand auf die Idee verfällt, sie in Stein zu meißeln und auf den Podest zu stellen, bringt der Autor es sogar fertig, die schlimmste Sünde zu begehen, die einem Geistespedanten und Ideologen zustoßen kann: Er schreckt nicht davor zurück, sich hin und wieder zu widersprechen, weil eben auch das Wirkliche selten eindeutig ist.
Eine Kulturgeschichte, die sieben Jahrhunderte in drei Bänden beleuchtet, kann nicht mehr als eine Einführung sein – das gilt genauso auch von Watsons Buch über vier Jahrhunderte deutscher Geschichte. Aber während „The German Genius“ wirklich nicht mehr ist als dies: eine intelligente und sehr belesene Einführung, hat Egon Friedell, der Österreicher aus Wien, weit mehr geschaffen, nämlich ein Kunstwerk von unprätentiöser Weltoffenheit, sprachlicher Meisterschaft und höchstem psychologischen Einfühlungsvermögen. Wir alle wissen, dass Österreich und Deutschland nicht mehr sie selbst sein werden, sollten sie Mozart und Bach eines Tages nicht mehr hören und nicht mehr verstehen. Was für die Musik gilt, trifft aber auch auf die Sprache zu. Wenn Thomas Mann – ja, und auch Friedells „Kulturgeschichte der Neuzeit“ – nicht mehr gelesen und nicht mehr verstanden werden, auch dann werden beide Länder nicht länger sein, was sie einst waren.