Man sieht sie wieder mit dem Kapital in der Hand, in Tausenden von Basisgruppen erregt diskutierend über Mehrwert, Profitrate und die bösen Kapitalisten, die die Welt von neuem ins Unglück stürzen. Marx geht um: Seit die Finanzkrise die Weltwirtschaft aus der Bahn wirft, weilt der Prophet aus Trier wieder in unserer Mitte.
Er hat es verdient, weil er statt Habgier Gemeinschaftlichkeit, statt Egoismus Gemeinschaftssinn, statt Ausbeutung Gerechtigkeit verlangte. Doch während Marx als Idealist unsere Hochachtung verdient, haben seine praktischen Rezepte nur Verheerungen angerichtet. Gemeinschaftlichkeit hat er im Sinne eines Kommunismus verstanden, der nicht weniger Schaden als der feindliche Kapitalismus verursacht hat, den Gemeinschaftssinn in eine Zwangsinstitution verwan-delt und Gerechtigkeit als Expropriation derjenigen gefordert, die für das Übel gar nicht oder in nur in zweiter Instanz verantwortlich sind. Kurz, Marx hat sich in Analyse und Therapie geirrt, er hat das Beste gewollt und mit seinen Rezepten das Schlechteste bewirkt: eine bis heute anhaltende Verwirrung der Köpfe.
Die ist gerade jetzt wieder besonders gefährlich, weil alles was Marx an Übeln beschrieb, uns von neuem bedroht. Die Anzeichen mehren sich, dass die gegenwärtige Krise den Crash von 29 noch übertreffen könnte. Damals waren Ver-elendung der Massen durch Arbeitslosigkeit, eine Brutalisierung der Menschen und der schrecklichste Krieg die Folge, den die Welt bis dahin gesehen hatte. Wer wissen möchte, was uns heute bevorsteht, greift zu den überkommenen Erklärungsmustern. Karl Marx, der große Enthüller, Ankläger und Sozialprophet bietet sich an. Doch seltsam. Der Mechanismus, mit dem Marx im Kapital die Krisen des Kapitalismus beschrieb, traf schon auf die Vorgänge von 1929 nicht zu und trägt nichts zum Verständnis unserer heutigen Lage bei. So zahlreiche Ungleichgewichte und Ungerechtigkeiten die deutsche Realwirtschaft auch aufweisen mag – jedem fallen auf Anhieb die exorbitanten Vorstandsgehälter und die üppigen Abfindungen ein, die selbst bei Misserfolg ausbezahlt werden – diese Mängel haben mit der gegenwärtigen Krise nicht das Geringste zu tun. Die deutsche Realwirtschaft ist im Kern völlig gesund, sie trägt keine Schuld an der Entwicklung. Von einer Akkumulation des (Sach-)Kapitals, die laut Marx notwendig ihren Zusammenbruch herbeiführen müsste, ist in ihr nichts zu bemerken. Im Gegenteil, es wurde und wird kräftig ausgelagert, das Sachkapital wurde deakkumuliert. Dennoch wird sie jetzt in den Strudel hineingerissen. Im schlimmsten Fall wird daraus derselbe Trümmerhaufen wie nach der Weltwirtschaftskrise von 29.
Die Attacke kommt auch diesmal nicht aus der Realwirtschaft sondern von einer ganz anderen Seite, die Marx konsequent übersah. Sie kommt vom Finanzsystem, d. h. vom Geld und seinen privilegierten Besitzern. Nicht weil die Eigentümer von Sachkapital, die so genannten Kapitalisten, das System bis aufs Blut ausgesaugt haben, droht der Geldfluss der westlichen Welt zu versiegen, sondern weil die Eigentümer von Geldkapital in Panik gerieten. Die großen Vermögensbesitzer – ein exklusiver Kreis von weniger als zehn Prozent der Bevölkerung, der annähernd über die Hälfte des gesamten Volksvermögens verfügt – werden von Angst gepeinigt, dass die Realwirtschaft, in die sie während des vergangenen halben Jahrhunderts stetig wachsende Mengen von Geld für Investitionen pumpten, um dann Jahr um Jahr einen um Zinsen und Dividenden vermehrten Betrag von ihr zurückzuerhalten, diese Leistungen nicht mehr zu erbringen vermag. Deswegen ziehen sie ihr Geld schlagartig zurück und bringen die Realwirtschaft dadurch ins Wanken.
Noam Chomsky hat die großen Vermögensbesitzer, die in den Vereinigten Staaten die Schalthebel der Macht so gut kontrollieren, dass keiner ohne ihre Wahlspenden Präsident werden kann, als Plutokraten bezeichnet. Für diese Plutokratie ist die Realwirtschaft mitsamt den in ihr beschäftigten Massen nichts anderes als eine Milchkuh, die man rücksichtslos melken darf – auch dann noch wenn sie dabei zugrunde zu geht.
In einer Phase des Aufschwungs, wie sie in Europa nach dem Kriege und heute in China herrscht, ist die Realwirtschaft den Ansprüche des Geldkapitals allerdings noch durchaus gewachsen. Mag dieses seine fünf Prozent Realverzinsung verlangen, solange die Wirtschaft um zehn Prozent wächst, wird daraus kein Problem und von Sozialneid kann keine Rede sein. Im Gegenteil, man bewundert die erfolgreichen Millionäre, solange es einem selbst Jahr um Jahr besser geht. Doch dieser glückliche Zustand kann in keiner Wirtschaft von Dauer sein. Keine kann auf längere Zeit um 10% wachsen. Beginnt ein Land wie China, das noch vor wenigen Jahrzehnten ein Agrarstaat war, mit seiner Industrialisierung, dann reichen ein paar Dutzend neu gegründete Firmen aus, um auf Anhieb auf zehn oder mehr Prozent Wachstum zu kommen, in einem hochentwickelten Industriestaat wie Deutschland, müsste man Zehntausende neuer Firmen aus dem Boden stampfen und die letzten noch grünen Flächen verbauen, um die schon gigantische Menge an vorhandenen Fabriken um weitere 10% aufzustocken. Mit anderen Worten, jedes Wachstum (gleichgültig ob quanti- oder qualitativ) geht mit fortschreitender Entwicklung notwendig zurück und tendiert bei Ressourcenknappheit am Ende sogar gegen Null. Die Ansprüche des Finanzkapitals an die reale Wirtschaft werden daher im selben Augenblick zu einem ganz heißen Problem, wo sie prozentuell über der Wachstumsrate liegen.
Wie sollen Renditeansprüche von zwanzig Prozent und mehr oder auch nur Zinsen und Dividenden von realen drei Prozent noch befriedigt werden, wenn die Wirtschaft um weniger als reale zwei Prozent wächst? Der von Marx zum An-gelpunkt der Kritik erhobene Mehrwert, den die Unternehmer in ihre Tasche stecken, spielt dabei überhaupt keine Rolle. So ungerechtfertigt und manchmal geradezu skandalös die Bezüge der Vorstände eines börsennotierten Konzerns oder die der klassischen Eigentümer von Mittelstandsunternehmen im Einzelnen auch sind – verteilt auf die gesamte Bevölkerung, ist ihr Ausmaß unerheblich. Deutsche und selbst Amerikaner wären nach einer solchen Verteilung nicht spürbar reicher. Dagegen hat das Guthaben der oberen zehn Prozent, die in Deutschland über nahezu fünfzig Prozent der Vermögen verfügen, inzwischen eine astronomische Höhe erreicht: Es beträgt mehr als dreimal das Bruttosozialprodukt der Deutschen (7900 Milliarden Euro im Jahr 2007). Über das Bankensystem (weniger über die Börsen) werden diese gewaltigen Guthaben permanent in die Realwirtschaft eingeschleust, wo sie dann in gleicher Höhe als Schulden aufscheinen. Dabei steigen mit der Größe dieser Guthaben=Schulden zwangsläufig auch die zu ihrer Bedienung auf-zubringenden Zinsen und Dividende. Mit anderen Worten, je reicher die ohnehin schon superreiche Minderheit ist, umso größer werden ihre Forderungen an die Gemeinschaft.
Im Vergleich zu den neuen Plutokraten ist der klassische (Sach-)Kapitalist nach Marx eine geradezu harmlose Erscheinung. Während der letztere nur einen volkswirtschaftlich unerheblichen (wenn auch oft in seinem Ausmaß in-akzeptablen) Mehrwert kassiert, saugen jene die Realwirtschaft immer mehr aus. Während der klassische Kapitalist marxscher Prägung als Besitzer oder Manager des Produktionskapitals immerhin noch mit beiden Füßen in der Realwirtschaft steht, sind die Empfänger der Zinsen und Dividende mit der Realwirtschaft meist nur noch durch den Geldfluss verbunden, den ihre Guthabenkonten aufweisen. Im Übrigen stehen sie den Unternehmen so fern wie der adlige Großgrundbesitzer am Hofe Ludwigs des XIV. den ihm gehörenden Ländereien, die er möglicherweise niemals gesehen hat. Damals waren Verwalter damit betraut, aus den Bauern so viel Rendite wie irgend möglich herauszuquetschen. Heute erfüllen Bankmanager, Analysten und alle möglichen Fonds dieselbe Aufgabe, indem sie die astronomischen Guthaben von zehn Prozent großer Vermögensbesitzer in renditeträchtige Schulden für die übrigen 90% arbeitender Menschen umwandeln.
Denn diese Schulden werden mit den Zinsen in den Preisen der von den Unternehmen und Dienstleistern angebotenen Konsumgüter bedient. Die Last dieser täglichen Forderungen an das Portemonnaie der arbeitenden Menschen ist inzwischen so groß, dass jeder Deutsche den dritten Teil des ihm zur Verfügung stehenden Einkommens für Zinsen ausgeben muss. Dieser Mehrwert – man könnte ihn als parasitären Unwert bezeichnen, da er einer privilegierten Minderheit leistungslose Einkommen verschafft – wird von den Einnahmen der Unternehmen abgezogen und als Anlegerrendite (Shareholdervalue) zu deren eigentlichem Zweck deklariert. Er ist ein permanent an die Gläubiger strömender Sturzbach: Geld, das sich aus den Portemonnaies des Durchschnittsbürgers auf dem Weg über die Unternehmen in die Taschen der Plutokratie ergießt. In Deutschland hat dieser Strom von unten nach oben mittlerweile das Ausmaß der staatlichen Lohnsteuer erreicht (Jenner: Pyramidenspiel, S. 51), in angelsächsischen Ländern dürfte die Belastung noch größer sein. Würde man diesen Betrag auf alle arbeitenden Menschen verteilen, so hätte das allerdings eine gewaltige Wirkung: Die arbeitenden 90% müssten ihre Lohnsteuer nicht wie heute gleich zwei Mal zahlen, einmal an den Staat und das zweite Mal an die reichsten zehn Prozent ihrer Mitbürger. Bürger, Gemeinden und Staat hätten auf Anhieb wesentlich mehr in der Tasche, die meisten Probleme, mit denen wir heute zu kämpfen haben, wären schlagartig beseitigt.
Obwohl die Realwirtschaft die Last des Finanzkapitals kaum noch zu tragen vermag, gibt dieses sich mit dem Status Quo nie zufrieden. Wie schon in den Jahren vor der Krise von `29 sucht das Finanzkapital überall nach weiteren Anlagemöglichkeiten, d. h. nach Schuldnern, die seine Guthaben vermehren. Das im Überfluss vorhandene Geld wurde allen, die nur irgendwie kreditwürdig erschienen, von den Banken aufgeschwatzt und manchmal geradezu nachgeworfen. Damals, vor 1929, überschwemmte man den Markt mit Konsumentendarlehen, nach 2000 sowohl mit diesen wie – speziell in Amerika – mit Unmengen an Hypothekenkrediten. Irgendwann ist dann freilich des Schlechten zuviel getan. Droht die Realwirtschaft unter der Last der Abgaben an die plutokratische Minderheit ohnehin zu er-sticken, dann reicht schon ein geringfügiger Anlass, um das System zu erschüttern.
Dabei ist die Realwirtschaft – man muss es nochmals betonen – an sich völlig gesund. Die Betriebe funktionieren wie immer, auch wenn die Menschen aufgrund der ihnen aufgebürdeten Last mit jedem Jahr hektischer, gestresster und prekärer als zuvor arbeiten müssen. Die Realwirtschaft ächzt zwar, aber sie steht. Es sind diejenigen, die den parasitären Unwert – das leistungslose Einkommen der Anlegerrenditen – kassieren, diejenigen also, welche die Kuh rücksichtslos melken, die ihr nun auch den Todesstoß geben. Ihre Guthaben sind in der Realwirtschaft eingefroren, es genügt, dass irgendwo ein paar faule Kredite auftauchen – nur etwa zehn Prozent der amerikanischen Hypothekenkredite sind faul – um in ihnen den durchaus begründeten Verdacht zu erwecken, dass die Realwirtschaft ihre Forderungen nicht länger erfüllen kann. Sobald sich dieser Verdacht bei ihnen zur Gewissheit erhärtet, ziehen sie – von Panik erfasst – alles Geld, das sie noch retten können, von Banken und Börsen ab, bzw. lassen kein neues Geld nachströmen. Stattdessen wandeln sie es in dauerhafte Realwerte um (Gold, Öl, Getreide etc.) oder lassen es wie 1929 in Tresoren verschwinden.
Das ist der GAU. Mit dem Kreislauf des Geldes bricht auch der Kreislauf der Güter zusammen. Wenn Staat und Notenbank jetzt untätig bleiben, kommt es zur Deflation: Das Geld wird aus dem Kreislauf gesogen wie in den USA nach 1929 und in Japan in den neunziger Jahren. Greift der Staat aber als letzter Nothelfer ein, um sich der Angst der Plutokraten vor dem Vermögensverlust entgegenzustemmen, so kann er damit zwar vorübergehend neue Kursfeuerwerke entfachen, auf längere Sicht trägt er aber seinerseits zur Vermehrung des Schadens bei, weil der parasitäre Unwert – der Geldtransfer von unten nach oben – jetzt mit Steuergeldern noch zusätzlich aufrechterhalten und die Last auf der Realwirtschaft weiter vermehrt wird. Und natürlich bleibt der Schaden genauso groß, wenn nicht die Steuerzahler bezahlen, sondern die Notenpresse zu rotieren beginnt. Dann werden alle enteignet: kleine wie große Einkommensbezieher und Sparer, aber die kleinen ungleich mehr als die großen: Die Hälfte eines großen Vermögens oder Einkommens durch Inflation zu verlieren, lässt sich verschmerzen. Wer dagegen ein Subsistenzeinkommen besitzt, der geht an einer solchen Entwertung zugrunde.
Marx hat die Verstaatlichung der Produktionsmittel gefordert, aber selbst wenn der Staat nicht nur die Banken sondern auch sämtliche Unternehmen verstaatlichen würde, gäbe es in einem System, das auf dem parasitären Unwert aufbaut und ihm sogar die höchste Priorität zuerkennt, keinen Ausweg. Die Krise lässt nur eine einzige Lösung zu: den Reset. Die übermäßigen Guthaben=Schulden müssen verbrannt und vernichtet werden. Genau dieses Szenario spielt sich gegenwärtig vor unseren Augen ab. Das Drama könnte uns gleichgültig sein, wenn dabei nur die großen Vermögen ein tragisches Ende nähmen, aber nebenbei wird dabei auch die Realwirtschaft in den Abgrund gerissen und mit ihr jene arbeitende Mehrheit, die an diesem Unglück zwar völlig unschuldig ist aber immer zum eigentlichen Opfer jeder Finanzkrise wird.
Für das Problem der großen Krisen des 20. Jahrhunderts bietet Marx keine Lösung, weil er ihr Wesen überhaupt nicht verstanden hat. Er hat nicht gesehen, dass der Sachkapitalist – die Realwirtschaft – gegenüber dem Geldkapitalisten – dem Finanz- und Geldsystem – zur Ohnmacht verurteilt ist. So wichtig Marx als Macht- und Ideologiekritiker aber auch als Fürsprecher der Armen und Entrechteten ist, so wenig taugt seine Therapie für die Überwindung und seine Diagnose für die Erklärung der großen Wirtschaftskrisen. Marx übersah, dass diese aus der Finanzwirtschaft stammen, d. h. vom Geldsystem, aber eben nicht von der Realwirtschaft. Umso schlimmer, dass Marx immer noch als Gespenst in den Köpfen umgeht, wo er gerade in diesen Tagen wieder für große Verwirrung sorgt.