(auch erschienen in: "scharf-links")
Ein Stellvertreterkrieg am Rande des Alten Kontinents – hätte das jemand vor zwei Jahren prophezeit, er wäre als böswilliger Phantast ausgelacht worden. Europa, das sich als Kontinent des Friedens versteht, als zukunftsweisendes Projekt der Völkerverständigung zwischen ehemals verschworenen Feinden, würde nie wieder zum Ausgangspunkt kriegerischer Auseinandersetzungen werden – das war doch die europäische Gründungsidee. Aber viele andere Ereignisse haben wir genauso wenig vorausgesehen, die Weltgeschichte spielt neuerdings im Prestissimo. So hat, außer ganz wenigen hellsichtigen Außenseitern, vor zwanzig Jahren niemand den Aufstieg Chinas vorausgeahnt, so gut wie niemand das rasante Schmelzen der Nordpolkappe, keiner hat von einer Immobilienkrise gesprochen, deren Hauptstoß zwar von Amerika ausgehen würde, aber die größten Verwüstungen auf dem Alten Kontinent hinterlässt. So gut wie niemand hat damals vorausgesehen, dass das selbstbewusste Europa, das noch im Jahre zweitausend die eigene Zukunft als weltgrößte Wirtschaftsmacht nach spätestens einer Dekade gekommen sah, zu diesem Zeitpunkt bereits ein Patient sein würde, dessen südlicher Teil sich gegen den Norden auflehnen wird. Hätte vor zwanzig Jahren etwa jemand vorauszusagen gewagt, dass man im Süden Europas eine deutsche Kanzlerin als pickelhaubenbewehrte Begründerin eines Vierten Reichs darstellen und schmähen würde?
In einer Weltgeschichte des Prestissimo werden wir uns noch auf manche Überraschung gefasst machen müssen – auf solche nämlich, die wir gegenwärtig noch nicht einmal ahnen. Der Niedergang Europas aber gehört zu einer Klasse besonderer Art – hier handelt es sich um ein angesagtes Unglück. Einen vielfach gespaltenen Kontinent zu einem vereinten zusammenzuschweißen, setzt nämlich Bedingungen voraus, die von vornherein nicht oder nur unvollständig vorhanden waren. An dieser Missachtung notwendiger Voraussetzungen droht Europa gegenwärtig zu scheitern.
In der Vergangenheit sind Staaten in der überwiegenden Mehrzahl aufgrund einer gewaltsamen Vereinigung kleinerer Bevölkerungsteile oder Regionen zusammengewachsen. Derartige Versuche sind in Europa nach der Antike dreimal gescheitert: unter Karl dem Großen, unter Napoleon und zuletzt unter Hitler. Umso revolutionärer, idealistischer und großartiger war daher das Projekt, eine solche Vereinigung disparater Staaten auf friedliche und freiwillige Art zu erreichen, und zwar zunächst als ökonomische Union. Die Bedingungen für ein mögliches Gelingen konnte man aus der Geschichte ablesen. Für die große Mehrheit der in einer solchen Union lebenden Menschen müssen die Vorteile einer Vereinigung deren Nachteile eindeutig überwiegen. Denn zweifellos ziehen viele es vor, Herren im eigenen Hause bleiben, statt ihre Souveränität und Freiheit an übergeordnete Instanzen abzutreten. Die ökonomische und politische Megalomanie kann man ja auch als eine Krankheit verstehen, so wie es überall auf der Welt zahlreiche separatistische Bewegungen tun. Bestrebungen in Richtung zu größeren ökonomisch-politischen Einheiten stehen von jeher Bewegungen gegenüber, deren Parole eher „small is beautiful“ lautet, also eine Rückkehr zu überschaubaren Einheiten, wo die Menschen unmittelbar verantwortlich für die eigenen Belange sind.
Wenn das Projekt Europa gelingen sollte, mussten die Vorteile dieses Zusammenschlusses sich daher als so evident erweisen, dass sie jede Kritik zum Verstummen bringen. Eine Zeitlang war dies durchaus der Fall. Den Mitgliedsländern garantierte die Union einen Schutz nach außen – in erster Linie für die eigene Agrarproduktion. Dieses Vorgehen sollte sich als Magnet für Beitrittskandidaten erweisen, weil diese mit den Mitteln der Gemeinschaft großzügig gefördert wurden und ihre Produktion auf den neuesten Stand bringen konnten. Der Schutz nach außen als bewusste Förderung der eigenen Mitgliedsstaaten gegenüber ausländischer Konkurrenz war bis gegen Ende des vergangenen Jahrhunderts der eigentliche Trumpf der Union, sozusagen ihre Geschäftsgrundlage. Hätte Europa diese Karte nicht ausspielen können, wäre es nie zu einer deutsch-französischen Annäherung gekommen. Dass Europa den eigenen Schutz nebenbei dazu missbrauchte, mit seinen hoch subventionierten Agrarprodukten afrikanische Staaten zu Tode zu konkurrenzieren, wie Jean Ziegler in seinen Büchern immer wieder anklagend zur Sprache bringt, steht auf einem anderen Blatt. Der eigene Schutz nach außen hat an sich nichts mit der ökonomischen Übervorteilung anderer zu tun.
Der Schutz nach außen und der darauf begründete Vorteil für alle Mitgliedsländer der Union hat nicht nur Europa während der ersten Nachkriegsjahrzehnte zusammengeschweißt, er war auch der Kitt, der die amerikanischen Bundesstaaten nach 1776 zusammenhielt, als sie sich gegen den gemeinsamen Feind Großbritannien zu behaupten hatten. Gerade am Beispiel der Vereinigten Staaten lässt sich aber auch zeigen, dass eine Union wieder zerbrechen kann, wenn der äußere Schutz nicht länger benötigt wird. Das war nach etwas mehr als einem halben Jahrhundert der Fall. Die Großmacht England konfrontierte die amerikanische Union zwar nicht länger mit einer politisch-militärischen Gefahr, sehr wohl aber mit einer subtileren, wenn auch keineswegs weniger wirksamen ökonomischen Bedrohung. Denn die Südstaaten erblickten einen Vorteil darin, ihre Baumwolle nach England zu exportieren und im Gegenzug Industrieprodukte in besserer Qualität und billiger von dort einzuführen als aus dem Norden der Union, wo sich die industrielle Entwicklung verglichen mit England ja noch in den Kinderschuhen befand. Im Bürgerkrieg von 1861-1865 ging es um diesen elementaren Gegensatz ökonomischer Interessen. Die Befreiung der Schwarzen, um deren Schicksal sich in Wahrheit noch ein ganzes Jahrhundert niemand ernsthaft bekümmerte, spielte nur in der Propaganda eine herausragende Rolle. Es wäre doch gar zu erbärmlich gewesen, wenn es bei der größten und blutigsten Massenschlächterei des 19. Jahrhunderts allein um den schnöden Mammon gegangen wäre! Dennoch entsprach genau dies der tristen Wahrheit: Der Norden sah seinen industriellen Aufstieg durch die Politik der Südstaaten existenziell bedroht.
Trotz aller Unterschiede birgt das Beispiel des Sezessionskrieges beunruhigende Parallelen zum europäischen Niedergang, denn auch dieser ist wesentlich ökonomisch bedingt. So wie die Nordstaaten dem Süden ihre industrielle Vormacht aufzwingen wollten, so geschieht es heute auch in Europa, freilich mit einer entscheidenden Differenz. Der sich schnell industrialisierende amerikanische Norden forderte damals einen bundesweiten Protektionismus und bekämpfte den agrarischen Süden genau deshalb, weil dieser den Protektionismus des Nordens nicht akzeptieren wollte. Nach dem Sieg des Nordens betrieb die Union dann insgesamt eine protektionistische Politik – wie wir wissen mit weltgeschichtlichem Erfolg. Denn unter dem Schutz gegenüber der industriell erdrückenden Vormacht Englands reiften die Vereinigten Staaten nun ihrerseits zur größten Industrienation der Erde heran. Sie wurden durch Protektionismus groß, genauso wie später Japan und China in der Phase ihres eigenen Aufstiegs.
In Europa ist die Entwicklung genau umgekehrt verlaufen: Sie begann mit einer anfänglichen ökonomischen Schutzpolitik, um mit deren fortschreitender Aufhebung zu enden. Die Wirkung lässt keinen Zweifel zu: Der Süden war genau so lange an den Norden zu binden, wie Europa insgesamt einen ausgeprägten Protektionismus betrieb: einen agrarischen Protektionismus, da mit Ausnahme des hoch industrialisierten italienischen Nordens die südlichen Länder weitgehend von der Landwirtschaft abhängig sind. Unter dieser Voraussetzung funktionierte die Europäische Union. Auch für den Süden überwogen die ökonomischen Vorteile und verhinderten damit alle Bestrebungen, die Einheit wieder rückgängig zu machen.
Deutschland als einer der größten industriellen Exporteure, dessen Ausfuhren sich insgesamt auf mehr als 50% seines Bruttosozialprodukts belaufen, befand sich allerdings von vornherein in einer deutlich anderen Lage. Auf den Schutz seiner Landwirtschaft kann es weitgehend verzichten, ja muss es sogar verzichten, denn seine Industrieprodukte kann es nur dann absetzen, wenn es im Gegenzug andere Produkte importiert – wie im Falle Englands auf dem Höhepunkt seiner industriellen Entwicklung sind das vor allem Agrarprodukte. Der Schutz nach außen ist für Deutschland aber auch im Hinblick auf die eigene Industrieproduktion entbehrlich, sofern es seine Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt durch Innovation und niedrige Preise aufrecht erhält. Mit anderen Worten, der Schutz nach außen, der eigentliche Grund für die Mitgliedschaft des südlichen Europa in der Union, ist für Deutschland (und für die erfolgreicheren Industrieländer des Nordens) nur eine Last: In diesem ökonomischen Gegensatz liegt der eigentliche Grund für den beginnenden Zerfall Europas.
Aus diesem Zwiespalt ergibt sich aber auch die unterschiedliche Bewertung der gegenwärtigen Politik je nachdem, ob man sie aus dem Blickwinkel des Europäischen Südens oder des Nordens betrachtet. Leider ist die Diskussion hier ideologisch mittlerweile so stark vergiftet, dass es kaum noch möglich erscheint, sine ira et studio der Argumentation beider Seiten gerecht zu werden. Der nordische Standpunkt ist im Sinne einer globalisierten Wirtschaft durchaus konsequent und sichert Deutschland kurzfristig wohl auch größeren Wohlstand als jede andere Alternative. Weil Deutschland den Sozialstaat mit der Agenda 2010 deutlich zusammenstutzte, wurde es vom kranken Mann Europas wieder zu einer weltweit wettbewerbsfähigen Exportmaschine. Um diese Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten, wird es die Sozialleistungen in Zukunft wohl noch weiter zusammenstreichen. Der unbestreitbare Erfolg dieser heimischen Austeritätspolitik hat Deutschland allerdings dazu verleitet, dieselben Maßnahmen auch von seinen südlichen Nachbarn zu fordern. Diese aber ähneln den Südstaaten Amerikas vor dem Bürgerkrieg darin, dass sie überwiegend landwirtschaftlich strukturiert sind. Wenn dies noch eines Beweises bedürfte, die Patentstatistiken liefern ihn auf zwingende Art: Auf industriellem Gebiet gibt es zwischen Griechenland bis Portugal (sieht man von Norditalien einmal ab) praktisch keine Innovation. Für diese Länder kann Wettbewerbsfähigkeit daher nur heißen, dass sie ihren ganzen Stolz als große Kulturnationen vergessen und sich als Maquiladoras, sprich als ausgelagerte Produktionskasernen, zu Billiglöhnen den Konzernen des Nordens anbieten. Tschechien und die Slowakei haben diese Strategie übernommen und damit einen gewissen Erfolg gehabt, aber anders als die Länder der südlichen Peripherie blicken beide Nationen auf eine alte Industriekultur zurück.
Hier liegt die Bruchstelle des nur scheinbar geeinten Europa. Deutschland hat die Einigung des Kontinents nach dem verlorenen Krieg wie keine andere Nation unter großen Opfern betrieben*1* – das wird in der gegenwärtig so vergifteten Diskussion meist vergessen, aber Deutschland ist jetzt ohne bewusstes Verschulden in eine ethisch sehr zweifelhafte Situation geschlittert, welche das tragende Fundament Europas beschädigen muss: Für alle unübersehbar profitiert es von der Schwäche seiner europäischen Nachbarn. Denn es ist diese Schwäche, welche im Ausland Zweifel an der Überlebensfähigkeit des Euro erweckt und daher dessen Kurs zunehmend drückt. Und es ist der schwache Euro, der Deutschlands Industrien weltweit einen gewaltigen Vorteil verschafft. Eine Aufgabe des Euro würde den Kurs einer wiedereingeführten DM (oder eines Nordeuro) stark in die Höhe treiben, so stark, dass der deutsche Export zunächst einmal zusammenbräche.
Wenn die Stärke der einen auf der Schwäche der anderen beruht, wird eine Union ohne Gewaltanwendung – und die ist heute glücklicherweise auszuschließen – von den Schwächeren über kurz oder lang gesprengt. Denn eine industrielle Aufrüstung des ganzen Kontinents, so dass auch die Griechen und Italiener schließlich zu innovativen Deutschen werden, ist für die nähere Zukunft nicht zu erwarten und wohl auch kaum wünschenswert – wohin sollte ein vervielfachter Export denn gehen, nachdem schon Asien für seine Überproduktion keine ausreichenden Absatzgebiete mehr findet? Andererseits ist der Norden aber sicher nicht reich genug, um dem Süden ein vergleichbares Wohlstandsniveau mithilfe von Transferzahlungen zu ermöglichen. Das eine oder das andere müsste jedoch geschehen, um die zentrifugalen Kräfte zusammenzuhalten.
Ich glaube, wir können daraus nur ein einziges Fazit ableiten: Das neoliberale Modell mag für Deutschland kurzfristig die beste Alternative sein, ein geeintes Europa aber hat auf dieser Grundlage keine Zukunft.
Es gibt jedoch eine weitere Alternative, und genau diese wurde in den Vereinigten Staaten praktiziert und schweißte die Union nach dem Bürgerkrieg auf Dauer zusammen. Der Schutz nach außen ließ die Vereinigten Staaten in schnellen Schritten zur Weltmacht aufsteigen.
Bis in die neunziger Jahre galt diese Alternative auch für Europa und Deutschland. Sie fühlten sich einer solchen Politik des Schutzes verpflichtet. Bis zum Ende des vergangenen Jahrhunderts zweifelte daher auch niemand an der Zukunft der Union. Dies sollte sich erst mit dem sogenannten „Washington Consensus“ ändern – auch für die Vereinigten Staaten selbst war dies ein historischer Einschnitt, der Beginn ihrer Demontage als industrielle Großmacht. Aufgrund dieses Consensus wurde zunächst einmal der Schutz der amerikanischen Industrien aufgehoben, genauer gesagt der Schutz der kleinen Industriearbeiter gegenüber der billigeren asiatischen Konkurrenz. Die Gewinnmargen der Konzerne wurden allerdings größer, so dass deren Bosse und ihre Geldgeber von der Auslagerung profitierten.
Außerhalb der Vereinigten Staaten war die Wirkung des Washington Consensus noch unheilvoller: Mit seiner Hilfe gelang es den USA, die „Deutschland AG“ aufzubrechen, denn natürlich waren nun auch deutsche Industrieprodukte auf dem Weltmarkt nur dann überlebensfähig, wenn sie dieser Strategie folgten und ihre Preise durch Auslagerung drückten.
Die neunziger Jahre waren der unsichtbare Wendepunkt für das europäische Vereinigungsprojekt, denn damals musste sich Deutschland ökonomisch zwischen dem Weltmarkt und Europa entscheiden. Nahezu drei Viertel seiner Exporte entfielen zu jener Zeit noch auf den europäischen Markt. Die Entscheidung für Europa hätte ein Viertel des gesamten Exports gekostet, aber den Fortbestand Europas als haltbare Union hätte man auf diese Weise gesichert. Die deutsche Politik hat damals ihre Entscheidung im Sinne des Washington Consensus getroffen: gegen Europa und – wie ich meine – letztlich auch gegen die eigene Zukunft.
Die Entscheidung für Europa hätte Schutz nach außen bedeutet und damit eine weit größere innere Freiheit. Das gewaltige Brüsseler Regelwerk (das sogenannte „acquis communautaire »), das laut Enzensberger das Gewicht eines mittleren Nashorns auf die Waage bringt und jedem Beitragskandidaten die bürokratischen Daumenschrauben aufsetzt, wäre unnötig gewesen, denn ein wirksamer Schutz nach außen ersetzt die innere Uniformierung (wie die Schweiz und die Vereinigten Staaten der Welt vor Augen führen). Staaten haben einander immer nachgeahmt und in diesem Prozess freiwilliger Angleichung die größten Fortschritte gemacht. Es war ein Grundfehler der europäischen Konstruktion, den wirksamen äußeren Schutz durch erzwungene bürokratische Gleichmacherei im Inneren zu ersetzen.
Noch viel wichtiger als der Verzicht auf die Brüsseler Uniformierungsmaschine wäre aber der doppelte äußere Schutz gewesen, den die Entscheidung für Europa (und gegen den Washington Consensus) nach sich gezogen hätte: Schutz für die Agrarerzeugnisse der südlichen Länder und Schutz für die Industrieproduktion der nördlichen Länder. Die Südländer hätten angemessene Preise für ihre landwirtschaftlichen Erzeugnisse im Gegenzug dafür fordern können, dass sie ihre Industriegüter aus dem Norden beziehen.*2* Und der Norden hätte seinerseits die außereuropäische Billigkonkurrenz nicht zu fürchten brauchen. Allerdings hätte das so geschützte europäische Projekt zu Spannungen mit den Vereinigten Staaten geführt, denn auf amerikanische Güter hätte die Union Zölle erheben müssen, zumindest wenn sie Billigkomponenten enthalten (die Vereinigten Staaten selbst hatten sich nach dem Bürgerkrieg mit hohen Zöllen gegenüber der befreundeten Weltmacht England geschützt). Diesen Mut hat Deutschland nicht aufgebracht. Stattdessen stellt es durch die progressive Aufhebung allen äußeren Schutzes den Süden vor die Alternative „friss oder stirb “ – und nimmt dafür den Zerfall Europas in Kauf.
Um es noch einmal zu betonen: In historischer Perspektive wurde eine Union immer nur mit der Peitsche erzwungen oder mit Karotten schmackhaft gemacht. Die Peitsche kommt im Europa des 21. Jahrhunderts nicht länger in Frage (allerdings könnte man die dem Süden aufgezwungene Austeritätspolitik sehr wohl als eine Form von Gewalt bezeichnen), Karotten aber kann die Union Mitgliedsstaaten, in denen fünfzig Prozent der Jugendlichen arbeitslos sind, offensichtlich nicht länger bieten.
Der ökonomische Herrschaftswille des amerikanischen Nordens hat 1861 den größten Krieg des 19. Jahrhunderts ausgelöst, da erscheint es wenig verwunderlich, dass die ökonomischen Interessen, die der europäische Norden dem Süden der Union aufzwingt, zu immer heftigeren Reaktionen führen. Und nicht nur innerhalb Europas. Inzwischen liegen die Interessen von Nord und Süd so weit auseinander, dass die Schwäche Europas potentielle Nutznießer von außen herbeilockt. Drastischer formuliert, ist es der beginnende Kadavergeruch, der die Geier über Europa kreisen lässt. Russland ist gerade im Begriff, den Zeiger der Zeit zurückzudrehen, indem es Staaten wie Griechenland, Serbien oder Bulgarien wieder auf die eigene Seite zu ziehen und gegen den Rest Europas in Stellung zu bringen sucht; die Chinesen locken mit geöffneter Börse und steigen mit Sonderverträgen ein. Die USA aber lassen routinemäßig moralinsaure Krokodilstränen über den traurigen Abstieg Europas fließen.
Die Hauptverantwortung an diesem Desaster trifft Deutschland. Man wollte und will mit einer Zukunft als global player glänzen. In positiver Sicht nennt man das Weltoffenheit. Negativ betrachtet, ist es die Stärke, welche den Schwachen erdrückt. Deutschland hat nicht bedacht, dass es das europäische Haus zerstört, wenn es dieses schutzlos den globalen Märkten preisgibt. Und Deutschland hat ebenso wenig bedacht, dass es obendrein auch noch die eigene Zukunft verspielt, wenn dieses Haus in sich zusammenfällt.
1 „Wenn man sich die europäische Integration als ein einvernehmliches System von Kriegsreparationen vorstellt, so entsprechen die Leistungen Deutschlands etwa denen, die ihm nach dem ersten Weltkrieg mit dem Versailler Vertrag aufgebürdet wurden. Berücksichtigt man nur die Nettobeiträge zum Budget des gemeinschaftlichen Europas, so zahlte Deutschland zwischen 1958 und 1992 mehr als 163 Milliarden DM an den Rest Europas. Dazu kamen 379,8 Milliarden D-Mark an „Transferzahlungen ohne Gegenleistungen…“ (so der Harvard-Wirtschaftsökonom Niall Ferguson). Man darf den Deutschen also gewiss nicht den Vorwurf machen, sie hätten sich zu wenig für Europa eingesetzt.
2 Womit natürlich nicht gesagt sein soll, dass dem Norden auf Dauer die industrielle Vorherrschaft zufallen müsste.