Unser Zeitalter ist bekanntlich eines der Wissenschaften. Vom Handy über die Stromversorgung bis zur Antibabypille – alles Dinge, die wir der Forschung verdanken – werden Gesellschaft und Alltagsleben von Wissenschaft beherrscht und geprägt. Nur die Wissenschaft der Ökonomie bildet dazu einen seltsamen Kontrast. Warum wissen die Ökonomen so wenig von der Wirtschaft, die doch ihr Forschungsgegenstand ist? Der damals renommierteste Ökonom der Vereinigten Staaten, Irving Fisher, war ein falscher Prophet, noch September 1929, kurz vor dem einen Monat später erfolgenden Börsencrash, hat er wörtlich behauptet, die Aktienkurse würden sich von nun an dauerhaft auf hohem Niveau bewegen (stock prices had reached a permanently high plateau). Kurz vor der Asienkrise von 1997 hat der IWF der Weltwirtschaft eine robuste Verfassung bescheinigt, und noch vor wenigen Wochen waren sich mindestens 95% der Wirtschaftswissenschaftler darin einig, dass das Weltfinanzsystem einschließlich des Bankensektors grundsätzlich in guter Verfassung sei. Ökonomen sind in ihrer überwältigenden Mehrheit falsche Propheten. Natürlich begreifen wir, warum Notenbankchefs und Politiker stets Optimismus verbreiten; andernfalls bestände die Gefahr, dass sie mit ihren Worten Angst und dadurch gerade jene Krise erzeugen, die sie doch kraft ihres Amtes verhindern sollen. Aber Wissenschaftler sind durch ihr Ethos auf Wahrheit verpflichtet, die in ihrem Fall ein ganz besonderes Gewicht besitzt. Unterlaufen einem Ingenieur Fehler bei der Produktentwicklung, so betrifft das vielleicht ein paar tausend Autos oder einige Menschen, die bei Verkehrsunfällen ums Leben kommen. Aber die Fehler der Ökonomen stoßen ganze Volkswirtschaften ins Unglück, lassen unter Umständen Millionen von Menschen verelenden. Sie können den Anlass fur Völkermorde und schlimmste Kriege bilden. Nach Ansicht von Eric Hobsbawm wäre ohne die Weltwirtschaftskrise von 29 das größte Grauen des 20. Jahrhunderts nicht möglich gewesen. Hitler, bis 29 eine Kabarettfigur, dessen Gefolgschaft am Schwinden war, wurde erst durch die furchtbare und plötzlich über Deutschland hereinbrechende Not zum Führer.
Ich glaube niemand wird ernsthaft bestreiten, dass die wichtigste Aufgabe der Wirtschaftswissenschaften, die einzige, womit sie ihre soziale Bedeutung rechtfertigen könnten, die Fähigkeit wäre, solchen Entwicklungen vorzubeugen. Sie müssten imstande sein, die Bedingungen sichtbar zu machen, die solches Unglück ermöglichen oder erzwingen. Umgekehrt müssten sie natürlich auch in der Lage sein, jene Bedingungen aufzuzeigen, die derartige Katastrophen verhindern. Die strengen (Natur-)Wissenschaften haben seit wenigstens 6000 Jahren genau dadurch, nämlich durch zutreffende Prognosen, ihren Ruf begründet. Sonnen- und Mondfinsternisse haben Babylonier ebenso wie Ägypter, Inkas und Mayas voraussagen können und dadurch Prestige gewonnen. Der Erfolg der modernen Naturwissenschaften beruht, wie kein Geringerer als Ludwig Boltzmann betonte, auf ihren für jedermann sichtbaren Errungenschaften. Sie haben ihre Voraussagen derart verfeinern können, dass wir heute genau berechnen konnen, wann und wo eine Sonde am Mars aufsetzt oder welche chemische Zusammensetzung ein mehrere Lichtjahrzehnte von uns entfernter Stern besitzt. Dagegen wissen und wussten 95 Prozent der Okonomen nichts über Krisen zu sagen, die möglicherweise nur wenige Monate oder Wochen zeitlich von ihnen entfernt die Welt erschüttern und Millionen von Menschen in den Abgrund der Armut reisen.
Angesichts dieser auffallenden Wirklichkeitsblindheit der Ökonomen, die in stärkstem Kontrast zu den Erfolgen der Naturwissenschaft steht, scheint die Frage durchaus berechtigt, ob und in wie weit Ökonomie eine Wissenschaft ist? Von einem Versagen einzelner lässt sich schwer sprechen, wenn 95 Prozent sich als blind fur kommende Entwicklungen erweisen. Liegt es vielleicht am Gegenstand selbst, der sich der Erkenntnis weitgehend oder vielleicht auch völlig entzieht? Oder kommen hier noch ganz andere Gründe ins Spiel?
In einer bahnbrechenden Arbeit (The Structure of Scientific Revolutions) hat Thomas S. Kuhn den Blick auf ein bis dahin gern verschwiegenes Phänomen gelenkt. Er stellte fest, dass Wissenschaftler genauso wie andere Menschen dem Gruppendruck unterliegen. Bestimmte Lehrmeinungen pflegen unter ihnen den Status der Orthodoxie zu genießen; dies hat regelmäßig zur Folge, dass sie von den Leithirschen der Zunft gegen Abweichler energisch verteidigt und durchgesetzt werden. Der aufstrebende wissenschaftliche Nachwuchs hat solche „Paradigmen“ bei Gefahr der Exkommunikation als gültige Wahrheiten zu akzeptieren. Aber selbst gleichrangige Kollegen riskieren ihr Ansehen als seriöse Wissenschaftler, sobald sie sich zu weit vom Mainstream entfernen.
Natürlich ist Wissenschaft deshalb keine Glaubenssache. Über das Verhalten von Atomen im Laufe einer chemischen Reaktion kann man nicht beliebig viele unterschiedliche Meinungen aufstellen: Sorgfältige Beobachtung sondert die meisten von ihnen sehr schnell als unhaltbar aus. Doch in der Ökonomie verhält es sich anders. Sie hat es nicht mit Atomen sondern mit Menschen zu tun, deren Verhalten weitgehend davon bestimmt wird, in welche Richtung es von Leuten mit Macht und Einfluss gelenkt wird. Genau hier liegen Schwäche und Verführbarkeit der ökonomischen Wissenschaft.
Wer heute die Leute mit Macht und Einfluss sind, ist für niemanden ein Geheimnis. Es sind die führenden Gremien von Weltbank, IWF und WTO, die ihrerseits die Interessen der großen Konzerne vertreten und die Politik der G8 in ihr Schlepptau genommen haben. Der Pferdefuß der real existierenden ökonomischen Wissenschaft ist wesentlich darin zu sehen, dass Ökonomen nur dann zu öffentlichem Ansehen und oft auch nur dann zu Forschungsgeldern gelangen, wenn sie sich in Ansichten und Lehre der jeweils herrschenden ökonomischen Politik unterwerfen. Sie unterliegen damit einem starken Druck zum Konformismus – wie wir aus der Vergangenheit wissen, ist das der stärkste Druck überhaupt. Nicht mangelnde Erkenntnisfähigkeit sondern mangelnder Erkenntniswillen ist letztlich der Grund dafür, warum immer nur ein verschwindender Bruchteil von ihnen – nicht selten belächelte oder verfemte Außenseiter – kommendes Unheil erkennen.
Der Druck zum Konformismus pflegt so übermächtig zu sein, dass selbst Wissenschaftler mit einem kritischen Blick auf die Wirklichkeit eine nahende Katastrophe erst dann in ihrer ganzen Tragweite erkennen, wenn sie sich beim besten Willen nicht mehr hinwegleugnen lässt. Marriner Eccles, den Notenbankchef unter Roosevelt, habe ich schon erwähnt. Eine so einfache Erkenntnis wie die, dass eine Gesellschaft mit Massenproduktion einen Massenkonsum zur Bedingung hat, weil es der Mehrheit andernfalls an der Kaufkraft fehlt, um die angebotenen Dinge auch zu erwerben, hätte Ökonomen längst vor 1929 zu der Einsicht bringen können, dass die USA unausweichlich auf eine Krise zusteuern. Keiner hätte so gut wie sie Informationen über die sinkende Kaufkraft der Mehrheit sammeln und davor warnen können, dass diese sich mehr und mehr in den Taschen einer superreichen Minderheit konzentriert. Diese Minderheit investierte zwar in immer neue Fabrikanlagen, aber die darin produzierten Güter konnten zuletzt nur noch unter der Bedingung abgesetzt werden, dass man das Land mit Konsumentenkrediten regelrecht überschwemmte -wodurch der Kollaps dann aber schon vorprogrammiert war. Denn aufgrund fehlender Kaufkraft mussten sich diese Kredite irgendwann als unbezahlbar erweisen: als faul – zugleich damit begann aber auch ein immer größerer Teil der realen Wirtschaft zu faulen: Er produzierte, was am Ende niemand mehr kaufen konnte. Jetzt ist schon abzusehen, dass der Verlauf der gegenwärtigen Krise sich eng diesem Vorbild anschließen wird (Jenner: Das Pyramidenspiel: S. 109ff und Energiewende S. 29ff).
Im Nachhinein hat der Banker Marriner Eccles den zugrunde liegenden Mechanismus in aller Schärfe erkannt; dasselbe Verdienst gebührt aber auch dem schon erwähnten Starökonomen seiner Zeit, Irving Fisher. Dieser musste allerdings erst ein bedeutendes persönliches Vermögen (von geschätzten 6 bis 10 Millionen Dollar) verlieren sowie eine von ihm geleitete Bank mitsamt den ihm anvertrauten Einlagen der Investoren, bevor sich seine Erkenntnisfähigkeit nicht mehr durch persönlich bedingten Erkenntnisunwillen aufhalten ließ. Erst in seiner „Debt-Deflation Theory of Great Depressions (1933)“ redete er Klartext, dann aber auch auf überzeugende Weise. Er machte billiges Geld und Überschuldung als die letztlich entscheidenden Ursachen großer Krisen aus. Der Herdentrieb der Anleger lässt gewaltige Blasen entstehen, die genau in dem Augenblick platzen, wenn dieselbe Herdenmentalität – jetzt von Angst motiviert – sie dazu verleitet, diese Anlagen in Panik abzustoßen. Überschuldung oder, was dasselbe besagt, jene ungeheure Konzentration von Vermögen, welche neoliberale Ideologen und ihre beflissene Gefolgschaft der Welt unisono als Erfolgsrezept unserer Zeit verkauften, wurde schon damals als eigentliche Quelle des Übels erkannt. Warum lassen sich Ökonomen – ähnlich wie Fisher in seiner vorangehenden Laufbahn – eher von ihren Interessen als von der Wahrheit leiten? Warum braucht es immer Elend und oft persönliche Niederlagen, um die Erkenntnis zu schärfen?