Bis heute gibt es keine Instanz, die dazu berufen wäre, die Qualität von Qualitätsmedien eindeutig und ein für alle Mal zu definieren. Es existiert kein absoluter Kanon, der uns dafür die Richtlinien liefern könnte. Sehr wohl lassen sich aber Vergleiche unter existierenden Medien anstellen. Zu meinen reichlich spleenigen Angewohnheiten gehört der nahezu tägliche Konsum von Nachrichten und Talkshows, die für Chinesen und Russen bestimmt sind (CCTV-4 und Первый канал beide nur noch über das Internet zu empfangen, der Satellitenempfang wurde nach dem Überfall auf die Ukraine abgestellt). Während die englischsprachigen Sendungen in RT oder China News mit größter propagandistischer Sorgfalt auf westliche Hörer abgestimmt sind – da wird offensichtliches Lügen vermieden -, fehlt diese Scheu in den Sendungen für das heimische Publikum. Das gilt auch für das chinesische Fernsehen. Man ist dort nur in der Form etwas gewählter, weniger brutal als im russischen. Wer sich beispielsweise die für ein überwiegend bürgerliches, intellektuelles Publikum bestimmte Sendung Большая игра (Das große Spiel) anschaut, der muss sehr hart gesotten sein, um nicht von Ekel erfasst zu werden. Da findet sich eine Runde führender Intellektueller des Russischen Staats zusammen, um überwiegend in scherzendem Ton von dem Grauen des Kriegs und der unfassbaren Dummheit des Westens zu sprechen, der nicht verstehen will, dass die Russen moralisch und in jeder anderen Hinsicht im Recht sind. Irrsinnige Parolen wie die jüngst von Medwedew, dem ehemaligen Präsidenten und ärgsten Kriegstreiber, verbreitete, wonach es die dringende Aufgabe Russlands sei, (zunächst einmal?) bis an die Grenze Polens vorzustoßen, gehören in Kreisen der russischen „Elite“ zur gewohnten Hetze. Gegen diesen Wahnsinn wird kein Wort des Widerspruchs geduldet.
So gesehen sind selbst Deutschlands Bild- und Österreichs Kronenzeitung leuchtende Muster an objektiver Berichterstattung. All unseren China- und Russlandverstehern, die so gern die Rolle als moralisch überlegene Pazifisten einnehmen, sollte man Unterricht in Russisch und Chinesisch verordnen, damit sie endlich wissen, wovon sie reden, wenn sie ihre Sympathien für Russland und China bekunden und sich dabei freiwillig zu Instrumenten Xis und Putins machen. Denn genau darauf hoffen die beiden Autokraten. Sie unternehmen alles, um durch inneren Dissens das westliche Lager zu spalten. Dieser Dissens betrifft vor allem die Lieferung von Waffen an die Ukraine. Annalena Baerbock, die deutsche Außenministerin, hat den darauf begründeten Unterschied mit unüberbietbarer Klarheit benannt. Wenn die Russen, so sagte sie, die Waffen niederlegen, wird auf der Stelle Frieden herrschen. Weder die Ukraine noch der Westen denken in diesem Fall daran, den Krieg nach Russland zu tragen, indem sie die russische Grenze überschreiten. Legt hingegen die Ukraine die Waffen nieder oder wird sie vom Westen nicht länger mit ihnen beliefert, dann hört der Krieg zwar ebenfalls auf, aber den ukrainischen Staat wird es nicht länger geben, weil die Russen nur darauf warten, das ganze Land zu annektieren – mit zwanzig Prozent ukrainischen Territoriums ist ihnen das jetzt schon gelungen. Das Ziel der Einverleibung der gesamten Ukraine bis an die polnische Grenze wird nicht nur von Medwedew offen verkündet sondern ebenso in jeder Sendung von Bolschaya Igra. In vergleichsweise zivilisiertem Ton reden die Russen nur, wenn sie ihre Auftritte vor der Weltpresse inszenieren. Wladimir Putin war von Anfang an ein unüberbietbarer Meister solcher Duplizität, aber die Pressesprecher Maria Sacharowa und Dmitri Peskow verstehen sich inzwischen ebenso gut darauf, vor jedem Auftritt soviel Kreide zu fressen, dass ihre Äußerungen westlichen Ohren beinahe vernünftig erscheinen. Doch lassen sie keinen Zweifel daran, dass für die russische Seite Frieden nur denkbar sei, wenn die Ukraine kapituliert. In dieser Hinsicht ist der chinesische Friedensplan mit dem russischen abgestimmt – und wird von den Russen deswegen auch gut geheißen. Die Chinesen fordern ein Ende der Waffenlieferungen durch den Westen, gegenüber Russland werden keine vergleichbaren Forderungen erhoben. Die ganze Unredlichkeit der deutschen Pazifisten zeigt sich in ihrer weitgehend kritiklosen Übernahme der russischen und chinesischen Position. So machen sich selbst kluge Leute wie Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer der Ahnungslosigkeit schuldig. Ohne diese Unkenntnis der russischen Motive wäre es schwer zu erklären, warum diese Art von Pazifismus (und die Russlandversteher im allgemeinen) bei der extremen Linken ebenso zuhause sind wie bei der AfD. Wundert sich denn niemand darüber, dass Extremisten aus beiden Lagern, also jene die sonst so gern zu Gewalt aufrufen, auf einmal als Friedensengel posieren?
Aber was haben westliche Qualitätsmedien wie der österreichische Falter und der deutsche Spiegel damit zu tun, dass die Wahrheit in russischen und chinesischen Medien mit Füßen getreten wird? Müssen wir uns nicht darüber freuen, dass die Qualität ihrer Berichterstattung die entsprechenden Organe diktatorischer Regime weit übertrifft? Kein informierter Beobachter kann das bestreiten. Und dennoch besteht Anlass zur Sorge, und zwar ein durchaus konkreter. Er betrifft die Sprengung von Nord Stream 2. Im österreichischen Falter nimmt die Journalistin Tessa Szyszkowitz regelmäßig Stellung zu aktuellen Ereignissen, so auch zu diesem Anschlag, und zwar unter dem Titel Die Amis waren es! Oder doch nicht? (Falter 8/23). Die Autorin gelangt dabei zu dem Schluss, dass die Untersuchungen von Seymour Hersh, die den amerikanischen Präsidenten persönlich für den Anschlag verantwortlich machen, unter die Rubrik Verschwörungstheorie fallen.
Die Autorin des Falter macht sich die Sache nicht nur zu leicht, sie gefährdet die Qualität einer Zeitschrift, der ihr Chefredakteur, der bekannte Investigativjournalist Florian Klenk, bis dahin großes Ansehen unter der kritischen Intelligenz in Österreich verschaffte. Worum handelt es sich? Ich werfe einen kurzen Blick zurück. Die Gaslieferungen durch Nordstream 1 waren von russischer Seite bereits vor Kriegsbeginn eingestellt worden, aber Juli vergangenen Jahres hatte Wladimir Putin ihre Wiederaufnahme durch Nordstream 2 in Aussicht gestellt. „Wir haben noch eine fertige Trasse – das ist Nord Stream 2.“ Diese Ankündigung entsprach dem Interesse der deutschen Industrie und einer wachsenden Zahl deutscher Politiker. Es ist wichtig, diese Tatsache festzuhalten. Aus amerikanischer Sicht war keineswegs auszuschließen, dass es nur eine Frage der Zeit sein würde, bis neuerlich russische Gaslieferungen nach Deutschland kommen – in diesem Fall eben über Nord Stream 2. Bekanntlich erfolgte deren Zerstörung dann zwei Monate später, Ende September. Seitdem rätselt die Welt, wer diesen Akt in Auftrag gab.
Warum wird da überhaupt gerätselt? Kurz vor Kriegsbeginn hatte Präsident Biden auf einer gemeinsamen Pressekonferenz mit dem deutschen Kanzler, also einem der engsten Verbündeten der Vereinigten Staaten, eine unverhüllte, in ihrer Direktheit erstaunlich undiplomatische Drohung vor aller Öffentlichkeit ausgesprochen. „If Russia invades Ukraine“, sagte Biden, „then there will be no longer a Nord Stream 2. We will bring an end to it.“ Als ein Reporter nachfragte, wie das zu verstehen sei, da das Projekt doch unter deutscher Kontrolle stehe, fügte Biden hinzu. „I promise you, we’ll be able to do it.“ Nach diplomatischer Etikette hätte die Drohung nicht deutlicher ausfallen können – und sie war direkt an den neben ihm stehenden deutschen Kanzler gerichtet. In seiner Titelgeschichte (22/40) hat DER SPIEGEL die Worte Bidens wörtlich zitiert. Das immerhin! Doch geschah das eher beiläufig am Ende eines langen Artikels, wo den Worten Bidens gleichzeitig alle Bedeutung aberkannt wurde. Wörtlich wurde das Zitat als Auszug aus einem „älteren Videoschnipsel“ bezeichnet. Nun zum Falter. Frau Szyszkowitz übertrifft das Vorbild des Spiegels noch, weil sie das öffentliche Statement des amerikanischen Präsidenten nicht einmal erwähnt, vielleicht nicht einmal kennt. Oder nimmt sie Worte aus dem Munde eines Präsidenten der führenden Weltmacht nicht ernst?
Beides wäre ein Verstoß gegen die elementare journalistische Sorgfaltspflicht. Florian Klenk, der Chefredakteur und promovierte Jurist, wird jedenfalls zustimmen, dass ein Dieb auch dann noch überführt werden kann, wenn die physische Evidenz für seine Tat fehlt oder unzureichend ist. Es genügt ein unbestreitbares Indiz wie zum Beispiel die Ankündigung genau dieser Tat auf seinem Handy. Warum werden die überaus konkreten Drohungen eines amerikanischen Präsidenten nicht als Indiz gewertet, nicht einmal dann, wenn sie durch Nachforschungen eines bekannten Investigativ-Journalisten wie Seymour Hersh zusätzlich erhärtet werden?
Wir kennen den Grund. Der Anschlag auf Nordstream 2 ist gefundenes Fressen nicht nur für die russische und chinesische Propaganda, die sie schon seit Tagen an die ganz große Glocke hängen. Auch Teile der kriegsmüden und inflationsgeplagten westlichen Öffentlichkeit warten nur auf einen halbwegs einleuchtenden Grund, um jede weitere Hilfe für die Ukraine zu diskreditieren. Russland und China hoffen darüberhinaus, dass Bidens Ansehen unheilbar geschwächt wird, falls man ihm den Anschlag unwiderleglich nachweisen kann. Dann könnte der in Europa extrem-links ebenso wie extrem-rechts verbreitete Antiamerikanismus starken Auftrieb erhalten. Europa könnte, wie Seymour Hersh es auch unverhohlen propagiert, aus dem westlichen Lager und der NATO ausscheren. Diese Befürchtung dürfte der eigentliche Grund dafür sein, warum kein europäischer Staat, am wenigsten Deutschland, an der Aufklärung des Anschlags Interesse hat. Und hier ist natürlich auch der Grund dafür zu suchen, warum die Journalistin Tessa Szyszkowitz ihren Artikel im Falter veröffentlichen durfte, ohne dass der Chefredakteur und Jurist Florian Klenk dagegen Einspruch erhob. Ebenso begreifen wir, warum die Redakteure des Spiegels die Worte des amerikanischen Präsidenten ungerügt als bedeutungslos abtun konnten.
Für die Qualität der Qualitätsmedien liegt in diesem Vorgehen eine elementare Gefahr, deren man sich allerdings weder beim SPIEGEL noch beim FALTER bewusst zu sein scheint. Mit solcher Berichterstattung wird eine Schwelle überschritten, die geradewegs in Richtung zensurierter Medien führt. Da hilft es auch nicht, wenn Eliot Higgins, der geachtete Gründer von Bellingcat, auf Anfrage des Falters die Theorie von Hersh als einen „mit fragwürdigen Quellen belegten Mist“ bezeichnet. Hat auch Higgins nichts von der Ankündigung Bidens gehört? Oder fällt auch der amerikanische Präsident für ihn unter die fragwürdigen Quellen?
Falter und Spiegel hätten zu dem Thema schweigen können, das hätte ihre Glaubwürdigkeit nicht beschädigt. Doch wenn sie Stellung beziehen, dann wird diese durch jede Abweichung von der Evidenz in Frage gestellt. Denn eines sollte man immer vor Augen haben. Nicht Lügen sind wirklich gefährlich sondern die Wahrheit. Nach dem Überfall auf die Ukraine wurde der russische Sender RT nicht wegen seiner offenkundigen Verdrehung der Wahrheit verboten – die propagandistischen Lügen waren relativ leicht zu durchschauen. RT war deshalb zu fürchten, weil die Russen eben hin und wieder auch durchaus die Wahrheit sagen, manchmal auch recht peinliche und schmerzhafte Wahrheiten. Auch die westliche Politik verbreitet Lügen.
Nicht offenkundige Lügen sondern Halbwahrheiten sind die gefährlichsten Waffen der Propaganda. Es genügt, dass Russen oder Chinesen sich in einigen Punkten unstreitig an die erwiesenen oder wahrscheinlichen Fakten halten, und schon sind viele Menschen im Westen bereit, an der moralischen Überlegenheit des eigenen Standpunkts zu zweifeln. In Deutschland gehören Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer zu den russophilen Galionsfiguren der Halbwahrheit. Das ist bekannt. Wenn aber Medien wie Der Falter und Der Spiegel aus Opportunismus (oder selbstverordneter Zensur?) ihrerseits die Evidenz vertuschen, dann büßen sie ihren Rang als Qualitätsmedien ein. Dann machen sie sich, wenn auch aus gegenteiligen Motiven, derselben Einseitigkeit schuldig wie Wagenknecht oder Schwarzer.
Vielleicht wird der Leser an diesem Punkt ungeduldig. Er stellt mir die Frage, ob ich nun meinerseits der russischen und chinesischen Propaganda hörig geworden sei? Diese bezichtigt den Präsidenten der Vereinigten Staaten nicht nur einer terroristischen Absicht – durchaus zu Recht, wie wir sahen, denn diese Absicht hat er unmissverständlich in eigenen Worten bekundet -, sondern legt ihm auch deren Ausführung zur Last. Oder schließe ich mich, so werden andere Leser fragen, der Position von Leuten wie Noam Chomsky, Jeffrey Sachs, Seymour Hersh, Ray McGovern etc. an – unversöhnliche Kritiker ihres eigenen Landes, das sie wieder und wieder als Schurkenstaat deklarieren? Meine Antwort ist ein entschiedenes Nein. Anders als diese Kritiker und die russische Propaganda glaube ich, dass Joe Biden zwingende Gründe für seine Drohung und deren Umsetzung hatte.
Um dies zu verstehen, bedarf es allerdings der Fähigkeit, sich in das Denken der anderen Partei zu versetzen – eine Fähigkeit, nach der man bei den Verbreitern von Halbwahrheiten in der Regel vergebens sucht. Nehmen wir einmal an, dass der amerikanische Präsident genau das meinte, was er in Gegenwart des deutschen Kanzlers in Aussicht stellte, und dass er seine Vorhersage nach dem russischen Überfall auch persönlich in Auftrag gab. Wäre ich ein Amerikaner, dann würde mir das Motiv zu dieser Handlung als evident erscheinen. Die USA sehen nicht ein, dass sie nun schon fast ein dreiviertel Jahrhundert Europa gegen Russland verteidigen – erst gegen Stalins totalitäres Russland und heute erneut gegen das Russland Putins, der nach eigenem Bekenntnis den Zusammenbruch der Sowjetunion für die größte Katastrophe des vergangenen Jahrhunderts hält und eine offen revisionistische Politik betreibt. Zu dieser Verteidigung trägt Europa vergleichsweise kaum etwas bei, während die Vereinigten Staaten die militärische Hauptlast tragen. Heute sind das Milliarden von Dollar für die Unterstützung der Ukraine. Die Europäer waren und sind nach wie vor nur allzu glücklich, dass sie ihre eigenen Verteidigungsausgaben auf ein Minimum reduzieren und stattdessen ihren Wohlstand auf Kosten der Amerikaner unter diesem Schutzschild vermehren. Statt Dankbarkeit zu bekunden, konnte auf dieser Basis auch noch ein hartnäckiger europäischer Antiamerikanismus gedeihen. Die Europäer bildeten sich ein, dass sie aufgrund moralischer Überlegenheit mit Venus flirten, während die Vereinigten Staaten mit dem kriegerischen Mars im Bunde stehen (Paul Kagan). Das wollten die Amerikaner nicht länger akzeptieren, wie ich durchaus verstehe, wenn ich mich in ihre Lage versetze. Aus amerikanischer Sicht musste die von Putin genährte und von Kreisen der deutschen Industrie und Politik mit Zustimmung aufgenommene Bereitschaft, Nord Stream 2 mit Gas zu füllen, das Fass ihres Ärgers zum Überlaufen bringen. Während die USA Europa mit Milliarden Dollar unterstützen und dadurch gegen die russische Aggression verteidigen, würde die EU durch ihre russischen Energieimporte zur gleichen Zeit die Kriegsmaschinerie dieses Landes mit noch mehr Milliarden Dollar am Laufen halten (Österreich tut das übrigens auch heute noch).
Meines Erachtens hätte es Joe Biden im eigenen Land kaum geschadet dagegen der Wahrheit einen gewaltigen Dienst erwiesen, wäre er mutig genug gewesen, sich offen zur Ausführung seiner Drohung zu bekennen. Dadurch dass er sie leugnete, hat er nicht nur Russland und China einen gewaltigen Propagandavorteil verschafft und Russlandverstehern wie Wagenknecht und Schwarzer eine willkommene Vorlage, zur gleichen Zeit hat er auch die westliche Presse – seriöse Medien wie SPIEGEL und FALTER zur Verschleierung der Wahrheit genötigt – durch ihr Verschweigen oder – schlimmer – durch ihre Verdrehung.
Welchen Schluss die Russlandversteher (die so selten auch Russlandkenner sind) aus dieser Kapitulation vor der Wahrheit ziehen, war ja vorauszusehen. Seit dem unseligen Überfall auf den Irak unter George W. Bush, der von Außenminister Colin Paul fälschlich mit der Entwicklung von Massenvernichtungswaffen durch Saddam Hussein begründet wurde, posaunen sie in die Welt, dass es zwischen den USA und Russland keinen wirklichen Unterschied gebe, in der Verfolgung ihrer jeweiligen Ziele schrecken beide Supermächte vor keinem Verbrechen zurück. Ja, die Russlandversteher (deren Verstehen sich, wie schon gesagt, mit sträflicher Unwissenheit durchaus verträgt) gehen meist noch einen Schritt weiter. Gerade weil sie die hohen Ansprüche der westlichen Führungsmacht kennen, werden deren Verfehlungen mit besonderer Heftigkeit kritisiert, während man sie bei den Russen herunterspielt. Das Hauptargument dieser bewussten Gleichsetzung beider Lager läuft dann darauf hinaus, dass Kriege wie der in der Ukraine die dortige Bevölkerung letztlich zu Opfern und Marionetten von Großmachtinteressen degradieren, vor allem den Interessen der Amerikaner.
An diesem Argument ist so viel richtig, dass für ganz Europa einschließlich der Ukraine eine wirkliche Unabhängigkeit nicht länger besteht. Entweder sind wir die weisungsgebundenen Gefolgsleute der USA oder die Vasallen Russlands. Nachdem Europas Staaten jahrhundertelang um Vorherrschaft rangen und sich im dreißigjährigen Krieg des vergangenen Jahrhunderts gegenseitig zerfleischten, hat dieses Ringen dank eines technischen Fortschritts, der in Minutenschnelle Raketen an jeden Ort des Globus befördert und damit alle Staaten der Erde mit Vernichtung bedroht, den Planeten nun insgesamt erfasst. Europa ist militärisch neben den USA, Russland und China so unbedeutend, dass es nur noch eine Statistenrolle spielt. In diesem Ringen läuft jedes Zurückweichen, jede Schwächung der einen Supermacht auf eine Stärkung der anderen hinaus. Seit dem letzten großen Krieg, der Europa von der Weltbühne katapultierte, hat es nicht länger die Wahl, einfach abseits zu stehen (es hat sie so wenig wie die Staaten der dritten Welt, die im Kalten Krieg zu Opfern von Stellvertreterkriegen wurden). Aufgrund seiner militärischen Ohnmacht ist der alte Kontinent de facto gezwungen, sich unter den Schutz der einen oder der anderen Supermacht zu begeben, andernfalls wird es wie die Ukraine zwischen beiden aufgerieben. Da hilft es auch keinesfalls, dass dieses Land 1994 nach pazifistischem Rezept von den Amerikanern unter Clinton gezwungen wurde, das eigene Atomarsenal (das damals drittgrößte der Welt) aufzugeben. Die Russen hätten niemals gewagt, eine Atommacht zu überfallen.
Seymour Hersh glaubt zu wissen, dass einige Staaten der Europäischen Union aus der NATO austreten werden, sobald er sie davon überzeugt, dass die Regierung Biden die Sprengung von Nord Stream 2 veranlasste. Das ist sicher falsch, denn Olaf Scholz, Emmanuel Macron und Giorgia Meloni ahnen längst, wer die Verantwortung trägt. Aus wohlverstandener Vorsicht hüten sie sich allerdings, die unbequeme Wahrheit nach Art von Hersh in die Welt zu posaunen. Stattdessen geben sie sich alle Mühe, es bei rhetorischen Ankündigungen von bevorstehenden Untersuchungen zu belassen, aber konkret alle diesbezüglichen Maßnahmen zu vermeiden. Und genau deswegen lehnen ja nicht nur die Vereinigten Staaten sondern auch England und Frankreich eine unabhängige Untersuchung durch die Vereinten Nationen ab. Die Staatshäupter Europas wissen, sie müssen sich für die USA gegen Russland oder für Russland gegen die USA entscheiden. Es gibt für Europa keine andere Wahl.
Das ist alles andere als neu. Was die Vorherrschaft der einen oder der anderen Supermacht für sie bedeutet, das haben die Staaten Europas bereits zur Genüge gelernt. Die des Ostens haben es bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion von 1989 bitter erleiden müssen, während Westeuropa vergleichsweise ohne Groll unter amerikanischer Herrschaft lebte. Vor diese Alternative gestellt, wissen die Europäer sehr gut, welche Dominanz sie akzeptieren und vor welcher sie sich zu fürchten haben. Trotz der Sprengung von Nord Stream 2 durch die Amerikaner ist einer Mehrheit bewusst, das Putins Russland – nicht das seiner großartigen Dichter, Komponisten und seiner von der „Elite“ missbrauchten Bürger – an menschenverachtender Brutalität die USA weit übertrifft (hier können allenfalls wir selbst mithalten, zum Beispiel mit gewissen Episoden unserer Geschichte im 17. und 20. Jahrhundert). Vorläufig können wir nur hoffen, dass das Ringen um eine vereinte Menschheit am Ende doch noch friedlich entschieden wird. In Europa war das erst nach einem blutigen Bürgerkrieg im vergangenen Jahrhundert der Fall. Wird das ohne ein ähnlich blutiges Zwischenspiel auch im Ringen der Supermächte gelingen? Das ist die große ungelöste Frage dieses 21. Jahrhunderts. Leider machen die selbst ernannten Pazifisten um Schwarzer und Wagenknecht sich und uns etwas vor, wenn sie sich von einem sofortigen Stop der Waffenlieferungen durch den Westen die Lösung der drohenden Gefahr erhoffen. Natürlich würden alle friedliebenden Menschen umgehend zu Pazifisten werden, wenn die Geschichte uns den Beweis liefern könnte, dass man mit Nachgiebigkeit gegenüber der Aggression die erwünschten Folgen erzielt. Gerade das aber ist eben nicht der Fall. Meist bewirkt sie das Gegenteil, indem sie den Aggressor in seinen Absichten bestärkt. Eine Politik der Beschwichtigung wird die Welt vor einem dritten großen Krieg nicht bewahren sondern Putin im Gegenteil zu neuen Überfällen reizen. Oder wurde Hitler von dem zweiten großen Krieg dadurch abgehalten, dass man ihn zu beschwichtigen suchte?
Fortsetzung zu meinem vier Monate früher verfassten Essay zu diesem Thema: Sabotage, amerikanische Staatsräson und der einfache Bürger