Der Euroraum ringt ums Überleben. Das ist deutlich an den inzwischen weit weniger selbstbewussten, weit weniger apodiktischen Verlautbarungen führender Vertreter aus Politik und Wirtschaft abzulesen. Auf dem Gipfel in Los Cabos hat José Manuel Barroso sogar die Contenance verloren! „Der Euro sei nicht in Gefahr!“ Wie oft hat Innenminister Schäuble, wie oft haben die Gurus aus Politik, Wirtschaft und Finanz mit diesen Worten unerschütterliche Gewissheit vorgetäuscht. Doch pure Angst hat sich mittlerweile bis in die Europäische Kommission und ins Parlament durchgefressen. Wenn der Euro zerfällt, wird nicht nur die Europäische Idee beschädigt – der babylonische Turm der Brüsseler Eurokratie gerät ins Wanken und – nicht zu vergessen – mit ihm auch Tausende üppig dotierter Posten.
Die Wahl zwischen Teufel und Beelzebub
Aber es steht noch weit mehr auf dem Spiel. So teuer die Rettung des Euro kommt, so teuer ist auch der Abschied von ihm. In beiden Fällen wird Deutschland Zahlmeister sein, denn eine Rückkehr zur DM lässt deren Kurs so sehr in die Höhe schnellen, dass ein guter Teil der deutschen Exporte zunächst einmal unverkäuflich wird. So rächt sich nach Jahren der Euphorie ein elementarer ökonomischer Fehler. Mit der Einführung des Euro haben Deutschland und Frankreich eine Maßnahme gegen die wirtschaftliche Vernunft und Erfahrung gesetzt. Jetzt bekommt vor allem Deutschland die Rechnung präsentiert, die sich bei einem Austritt bis auf 1,5 Billionen Euro belaufen könnte – nahezu die Hälfte des deutschen BIP. Uns bleibt nur die Wahl zwischen Teufel und Beelzebub.
Auf dem Weg zum Europäischen Bundesstaat?
Das Pferd wurde vom Schwanz her aufgezäumt: Erst die gemeinsame Währung, dann ein gemeinsamer Staat – so die Idee, die Helmut Kohl auch ausdrücklich kritisierte. Denn leider hält die Geschichte eine eindeutige Lehre bereit: Diese Reihenfolge hat noch nie funktioniert. Allerdings ist Geschichte nur Lehrmeister, kein unwiderrufliches Schicksal. Theoretisch könnte das Projekt immer noch funktionieren, wenn man im Eiltempo den europäischen Flickenteppich zu einem gemeinsamen Bundesstaat transformiert. „Wir brauchen vor allen Dingen auch eine politische Union. Das heißt wir müssen Schritt für Schritt auch Kompetenzen an Europa abgeben“, ließ Angela Merkel vor kurzem verlauten.
Der Fiskalpakt, den vier Spitzenpolitiker der Union (Barroso, van Rompuy, Draghi und Juncker) jetzt planen, soll genau dies bewirken: die Verschmelzung souveräner Staaten zu einem durch gemeinsame politische Institutionen vereinten Bundesstaat. Sollte dieser Versuch tatsächlich gelingen, dann hätte man nachträglich auch die Voraussetzungen für eine gemeinsame Währung geschaffen. Denn eines bleibt ja unbestritten. Eine gemeinsame Währung stellt den ökonomisch logischen und sinnvollen Abschluss der politischen Vereinigung dar.
Der Fiskalpakt: wieder eine unausgegorene Idee aus Brüssel
Nach dem Entwurf der Brüsseler Vier sollen die Mitgliedsstaaten künftig nur noch über eigene Einnahmen frei verfügen. Neuverschuldung, also alles, was sie über die eigenen Einnahmen hinaus für ihren Haushalt anfordern, muss von einem Gremium aus Euro-Finanzministern bewilligt werden, und wird dann in Form von gemeinsamen Euro-Anleihen gewährt.
Selbst ein Laie kann einen solchen Vorschlag nur mit Kopfschütteln quittieren, denn seine Folgen sind auf den ersten Blick absehbar. Die Majorität der wirtschaftlich schwachen Staaten wird die Minorität der starken im Gremium überstimmen. Das wäre natürlich auch dann der Fall, wenn nicht Finanzminister, sondern das Europäische Parlament auf demokratische Art zu entscheiden hätte. Denn natürlich werden die Staaten des Südens nicht gegen ihre eigenen Interessen votieren. Zu zahlen hat dafür der stimmenmäßig schwächere Norden, da er die Anleihen garantiert. Dagegen ist nichts einzuwenden, sofern die wirtschaftliche Vernunft auf Seiten der Mehrheit wäre. Doch gerade das war in der Vergangenheit nicht der Fall und wird es in Zukunft ebenso wenig sein. Wird dieser Vorschlag durchgeboxt, so hat man ein wirksames Instrument geschaffen, um jeden Anreiz für ein ausgeglichenes Budget ein für alle Mal zu beseitigen. Im Süden würde ein Mezzogiorno entstehen, der von Griechenland bis nach Portugal reicht und sehr bald auch die gesunde Wirtschaft des Nordens zerfrisst. Den Süden macht ein solcher Pakt langfristig nicht stärker, während er den Norden zerstörten könnte.
Warum lernt Brüssel nicht aus der Geschichte?
Warum blickt man nicht auf gelungene Beispiele einer zugleich politischen wie ökonomischen Vereinigung? Sowohl die Schweiz wie auch Nordamerika haben sich nie zu Haftungsgemeinschaften für die sie konstituierenden Bundesstaaten gemacht. Nach dem Unabhängigkeitskrieg haben die wirtschaftlich starken US-amerikanischen Bundesländer auf Initiative des damaligen Finanzministers Hamilton (1755 – 1804) in einem einmaligen Akt die Schuldenlast der schwachen Mitglieder übernommen. Danach musste jeder Bundesstaat in eigener Verantwortung für einen ausgeglichenen Haushalt sorgen. Geht man von diesen beiden historischen Vorbildern aus, dann stellt sich der vorgeschlagene Fiskalpakt als ein unausgegorenes Gedankenprodukt Brüsseler Bürokraten dar – was er auch dann noch bleibt, wenn man seine Version light, die Eurobill-Variante, ins Auge fasst. Eine erfolgreiche politische Vereinigung Europas kann nicht in bloßen Transfers bestehen, denen langfristig kein absehbarer Nutzen entspricht.
Transfers nur bei verfassungsmäßig garantiertem Mitspracherecht!
Natürlich kann es sinnvoll und manchmal sogar notwendig sein, dass Mitgliedsstaaten sich verschulden. Doch in diesem Fall müssen die Geber ein in der Verfassung festgeschriebenes Mitsprache- und Vetorecht bei der Verwendung der von ihnen gewährten Mittel erhalten, andernfalls wird nur die bisherige Praxis fortgesetzt, dass ein Großteil der Schulden in Wahlgeschenken versickert. Wer Geld bereitstellt, muss auch kontrollieren können, was damit geschieht. Bloßes Verschenken ist in Notsituationen geboten, sonst aber schädlich, weil man damit keine Hilfe zur Selbsthilfe bietet, sondern finanziell verantwortungsloses Gebaren honoriert (moral hazard).
Warum soll der Süden sich überhaupt bei den Ländern des Nordens verschulden?
Mitsprache- und Vetorechte implizieren Kontrolle. Damit aber kommen wir zu einem zentralen Problem der Europäischen Union in Zeiten der Globalisierung. Warum sollen sich Spanier oder Griechen, falls die Not sie noch ärmer macht, überhaupt bei Ländern der Europäischen Union verschulden? Warum nicht z.B. bei China, wenn diesem im Gegenzug die Gründung von Hafenanlagen und Niederlassungen gestattet wird, womit es einen noch besseren Zugang zum europäischen Markt erhält? In diesem Sinne nutzt China schon jetzt die Schwäche und den Zerfall Europas für eigene Zwecke. Eine weitere Frage drängt sich deshalb auf:
Warum soll der Süden gerade von den Ländern des Nordens seine Produkte beziehen?
Das ist alles andere als eine bloß rhetorische Frage. In den Vereinigten Staaten stand sie während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Vordergrund. Die Südstaaten hatten sich damals ökonomisch immer mehr aus der Union ausgeklinkt. An den ursprünglich gemeinsamen Feind England verkauften sie Baumwolle und bezogen statt der im Norden produzierten Industrieprodukte die entsprechenden Güter aus England. Diese Spaltung bedeutete einen ökonomischen Aderlass für den Norden, der sie aus diesem Grund auch nicht hinnehmen wollte. Die Aufkündigung der Solidarität durch den Süden führte zum blutigsten Krieg des 19. Jahrhunderts, zum amerikanischen Sezessionskrieg (1861 – 1865). Das edle Motiv der Befreiung der schwarzen Bevölkerung wurde nur deswegen in den Vordergrund gerückt, weil handfeste ökonomische Motive weniger Idealismus erwecken.
Deutschlands Absatz innerhalb der EU ist keinesfalls gesichert
Wer kann verhindern, dass eine zunehmend verschuldete und verarmte südliche Peripherie einen ähnlichen Weg beschreitet und statt deutscher Industrieprodukte solche aus dem fernen Osten bezieht, die qualitativ immer weniger Unterschiede aufweisen, aber teilweise wesentlich billiger sind? Die vorherrschende neoliberale Wirtschaftsdoktrin würde dazu begeistert Beifall klatschen, wie sie auch damals das Vorgehen der Südstaaten als wirtschaftlich rational billigen musste. Sie geht von dem Dogma aus, dass der private Käufer in jedem Fall König ist, auch wenn er dem eigenen Land – in diesem Fall der Union – dabei schadet.
Die Vereinigten Staaten haben diese für ihren Bestand zerstörerische Freiheit nicht akzeptiert und das Problem durch den Krieg entschieden. Gewalt – das uralte historische Instrument, um Staaten zu größeren Einheiten zu verschweißen – wurde zum gleichen Zweck auch von Napoleon und Hitler angewendet. Wie wir wissen mit Hekatomben nutzlos geopferter Toter. Eine solche Politik der Gewalt kommt im heutigen Europa nicht länger in Frage.
Die Alternative: ein elementares Interesse
Doch wenn Europa den amerikanischen Weg der Gewalt nicht gehen kann, wie können wir dann verhindern, dass ein in die Not getriebener und vom Norden im Stich gelassener Süden die deutsche Wirtschaft schlicht boykottiert, in Asien einkauft und mehr als die Hälfte des deutschen Exports in der Union keinen Absatz mehr findet? Man glaube nicht, dass eine solche Drohung rein theoretisch sei. Sie ergibt sich vielmehr aus der Logik der neoliberalen Wirtschaftspolitik. Vor kurzem hat man sie auch ausdrücklich aus dem Mund eines Franzosen gehört. (1)
Ich sehe nur eine einzige Alternative, um dieses Szenarium abzuwenden. Die Staaten der EU – alle Mitgliedsländer – müssen ein elementares Interesse daran besitzen, dass es nicht dazu kommt. Den Staaten des Südens muss der Handel mit dem Norden so großen Vorteil verschaffen, dass sie jede andere Lösung verschmähen!
Mehr symbolische Kompetenz für Brüssel?
Ein erster Schritt auf diesem Weg scheint eine Steuer zu sein, welche die Brüsseler Zentrale entsprechend der Wirtschaftsleistung der einzelnen Mitgliedsstaaten erhebt und über die sie frei verfügen darf. Da eine Brüsseler Bundesregierung vom Europäischen Parlament eingesetzt und das Parlament von der Gesamtheit der Bürger Europas gewählt werden würde – ich nehme hier einmal die künftige Entwicklung vorweg – wird sie diese Mittel so verwenden, dass sie nicht einseitig bestimmte Bevölkerungsschichten oder geographische Teile der Union vor anderen bevorzugt.
Doch eine solche Steuerhoheit hätte, selbst wenn sie zehn oder mehr Prozent aller Steuereinnahmen umfasst, nur symbolischen Charakter. Gegen den ökonomischen (und damit auch politischen) Zerfall der Union bliebe sie wirkungslos. Diese Maßnahme allein schafft kein elementares Interesse der ärmeren Mitgliedsstaaten an einer Fortsetzung des Handels mit dem Norden. Sie schafft kein elementares Interesse am Fortbestand der Union. Im Gegenteil könnte sie sogar dazu führen, den Unmut noch weiter zu schüren, da sich die zentrale Bürokratie noch stärker aufblähen würde und noch mehr Gelder in dunklen Kanälen verschwinden.
- Der Handelspakt
Wieder sollten wir einen Blick auf den Einigungsprozess der Vereinigten Staaten werfen. Das elementare Interesse der Länder Europas an dem Fortbestand der Union wird erst dadurch geweckt und aufrecht erhalten, dass die innerhalb Europas produzierten Waren den Vorrang gegenüber allen ausländischen Waren besitzen – genau das hat der amerikanische Bürgerkrieg damals gewaltsam erzwungen. Wenn griechische, italienische, spanische und portugiesische Produkte nur gegeneinander aber nicht gegen Produkte vom Rest der Welt konkurrieren, erzielen sie schlagartig bessere Preise im europäischen Norden. Die Staatseinkünfte südlicher Länder werden dadurch vermehrt. Es steht Geld für die Förderung der Industrien, des Bildungswesens etc. zur Verfügung. Der Norden bezahlt zwar höhere Preise, aber er kann sich seinerseits darauf verlassen, dass die eigenen Produkte, also in erster Linie seine industriellen Güter, den gleichen Vorrang genießen. Damit ist nicht weniger als zwei Dritteln des deutschen Exports – das entspricht der deutschen Ausfuhr in die Staaten der Union – ein sicherer Absatz garantiert.
Außerdem kommt es durch einen solchen Handelspakt zu einer Angleichung des Lebensstandards innerhalb der Union. War dies nicht das Versprechen, womit man die Union und ihre Erweiterung stets begründet hatte? Und droht die Union nicht darum zu scheitern, weil dieses Versprechen auf eklatante Weise gebrochen wird? Was die Länder des Südens heute erleben, ist das genaue Gegenteil. Sie durchlaufen einen Prozess fortschreitender Verarmung.
Deutschlands Interesse liegen in Europa, nicht in Asien
Ein Handelspakt wäre der erste und wichtigste Schritt auf dem Weg zu einer politischen Vereinigung, so wie die amerikanische sie vorgezeichnet hat. Seine Vorteile sind auch für die Länder des Nordens nicht von der Hand zu weisen, denn im „Race to the bottom“ mit den asiatischen Billiganbietern ist es mit einer einzigen Agenda 2010 ja nicht getan. Weitere Agenden werden folgen, um die Produktionskosten des Standorts Deutschlands auch dann noch konkurrenzfähig zu halten, wenn die Asiaten auf noch mehr Sektoren technologisch aufgeholt haben. Dieses Spiel mit den Billiganbietern ist von Deutschland nicht dauerhaft durchzuhalten, geschweige denn zu gewinnen. Deutschland sollte sich rechtzeitig darauf besinnen, dass seine eigentlichen und dauerhaften Interessen nicht in Asien liegen. Sie liegen in Europa.
Der von der Kommission vorgeschlagene Fiskalpakt trägt nichts zur politischen Vereinigung bei. Im Gegenteil, er schafft so große Ungleichgewichte, dass er zerstörerisch wirkt. Es ist ein Pakt mit dem Teufel. Ein Handelspakt, der alle Mitgliedsländer verpflichtet, ihre Einfuhren vorrangig in Europa zu decken, stellt dagegen ein elementares Interesse her und schafft damit eine tragfähige Basis für die Union.
Die europäischen Söldner der Rating-Agenturen
Ein solcher Pakt, der von einem gemeinsamen europäischen Handelsministerium überwacht werden müsste, ist für sich allein jedoch ungenügend. Solange in Europa erwirtschaftetes Geld sich außerhalb Europas nach Belieben jene Zielorte suchen darf, wo ihm die größten Renditen winken, ist dem Diktat der Finanzmärkte nicht zu entkommen. Rating-Agenturen entscheiden souverän über Wohl und Wehe der Mitgliedsstaaten. Erbarmungslos wird die Union von außen zerrissen, wenn das den finanziellen Interessen ihrer Akteure entspricht – und wäre es nur, weil diese darauf gewettet haben.
Diese Fremdmanipulation hält auch dann noch an, wenn das außereuropäische Ausland gar nicht länger betroffen ist, weil es die entsprechenden Schuldtitel längst nicht mehr besitzt. Die Staatsobligationen Griechenlands, Spaniens und Italiens sind zum weitaus größten Teil repatriiert. (2) Sie wurden von europäischen Banken mit billigem EZB-Geld erworben. Obwohl das Ausland also gar nicht mehr involviert ist, bleibt die Macht der Rating-Agenturen ungebrochen. Dieses Paradox ist einfach zu erklären. Die Agenturen können nämlich fest darauf rechnen, die europäischen Anleger am Nasenring mit sich zu führen. In der neoliberalen Wirtschaftsordnung sind Anleger transnational. Sie brauchen sich weder ihren Heimatländern noch der EU verpflichtet zu fühlen. In Wahrheit droht die EU nicht an den Verdikten der Rating-Agenturen zu scheitern, sondern an ihren eigenen Bürgern. Eine Minorität vermögender Anleger aus der EU bilden ihre Gefolgschaft.
Die Transaktionssteuer vermag die Gefahr nicht abzuwehren
Daran ändert auch eine Finanztransaktionssteuer nichts, die von einigen ihrer Befürworter seit Jahren als Wunderwaffe gepriesen wird. Die destabilisierenden Kräfte der Finanzmärkte vermag sie – so wünschenswert sie auch ist – nur leicht zu mäßigen, aber keineswegs einzudämmen. Eine Transaktionssteuer schüttet etwas Sand ins Getriebe, aber sie ebnet weder die großen Renditegefälle ein, noch kann und soll sie verhindern, dass große Fonds ihr Geld langfristig außer Landes bringen. Wer sich von dieser Steuer einen Weg aus der Krise erhofft, reiht sich in den Kreis der Fantasten ein.
- Der Kapitalpakt
Wer Europa erhalten will, der braucht Kapitalverkehrskontrollen, wie sie nach dem Kriege bestanden, damit das im Übermaß vorhandene Geld seiner reichsten Bürger dem europäischen Inland zugute kommt. Neben einem Handels- braucht die Union einen Kapitalpakt und damit ein gemeinsames Finanzministerium, das darüber wacht, dass die reichsten Bürger der Union ihr Geld nicht ausschließlich zum eigenen Wohl, sondern zugleich auch zum Wohl der Gemeinschaft verwenden. Dadurch wird abermals ein elementares Interesse angesprochen: diesmal eines der Mehrheit im Gegensatz zu dem einer Minderheit.
Sind Handels- und Kapitalpakt unrealisierbar?
Wem diese Vorschläge für eine Grundlegung der politischen Union fantastisch erscheinen, obwohl sie immerhin historische Vorbilder haben, der sollte sich bewusst sein, dass der von der Kommission vorgeschlagene Fiskalpakt noch viel fantastischer ist, denn er spricht das Hauptproblem nicht einmal an: die schon bestehenden Schulden. Nach ausdrücklicher Meinung der Kommission soll jedes Mitgliedsland in eigener Verantwortung dafür sorgen, dass es seinen Schuldenberg reduziert. Wie das geschehen soll, bleibt entweder im Dunkeln oder man schlägt Rezepte vor, deren Wirkung auf bloßes Totsparen hinausläuft. (3) Tatsache ist, dass die bestehenden Schulden nur mit Wachstumsraten abgebaut werden können, die denen in Indien, China oder Brasilien entsprechen. (4) Oder aber die Zinsen zur Bedienung der Schulden müssen in ganz Europa gegen Null absinken, wie derzeit in Deutschland der Fall. Für beides besteht unter den gegebenen Umständen nicht die geringste Aussicht.
Der Fiskalpakt ändert nichts an dem grundlegenden Übel
Anders gesagt, der ganze Fiskalpakt ist nutzlos, da er an dem grundlegenden Übel einer erdrückenden Schuldenlast nichts ändert und nicht einmal ändern kann. Erst der Handels- und vor allem der Kapitalpakt würde die Voraussetzung für eine Überwindung des Schuldenproblems herstellen. In Europa wäre eine Kapitalschwemme die Folge – all das derzeit ins Ausland strömende Geld stände ja nun für Investitionen innerhalb der Union zur Verfügung. Die Zinsen würden gegen Null tendieren und jedes irgendwie auf Wachstum angelegte Projekt, auch in den Ländern der südlichen Peripherie, käme für Investitionen in Frage, zumal aufgrund des Handelspaktes die Produkte des Südens deutlich höhere Preise erzielen!
Umsonst wäre allerdings auch eine derartige Lösung nicht zu haben. Eine Reihe internationaler Verträge müsste Europa einseitig kündigen und sähe sich heftiger Kritik durch die Protagonisten des Neoliberalismus ausgesetzt. Mir scheint dies ein geringes Opfer im Vergleich zu all dem Unheil zu sein, welches dem alten Kontinent sonst noch bevorsteht.
1 „Der Teufel sitzt mit am Tisch“ Interview mit dem französischen Sozialwissenschaftler Emmanuel Todd in: DER SPIEGEL, 2012/20; S. 92.
2 Hierzu die Festrede von George Soros in Trient am 2. Juni 2012.
3 Hierzu Stephan Schulmeister, Fiskalpakt: Die große Selbstbeschädigung Europas.
4 Hierzu mein Essay Wirtschaft ohne Wachstum.