Seit Beginn seiner Geschichte hat sich der Mensch an zwei Arten des Wissens orientiert. Das eine lehrte ihn, sich in der Natur zurechtzufinden. Immer tiefer in deren Regelmäßigkeiten eindringend, fasste er dieses Wissen unter dem Namen der „Naturgesetze“ zusammen. Das Gesetzeswissen hat in den Naturwissenschaften und der auf ihnen beruhenden Technik seit Mitte des 18. Jahrhunderts einen Aufschwung genommen, der zu einer grundlegenden Umgestaltung der menschlichen Umwelt führte. Zum ersten Mal in seiner Geschichte lebt der Mensch in einer weitgehend von ihm selbst nach eigenen Bedürfnissen geschaffenen Welt. Diese historisch einmalige Einwirkung auf die äußere Natur wäre ohne die Kenntnis der in ihr herrschenden Gesetzmäßigkeiten nicht denkbar.
Dennoch, obwohl das Gesetzeswissen seinen beispiellosen Siegeszug initiierte, kommt einer zweiten Art Wissen, das man im Vergleich eher als archaisch bezeichnen könnte, weil es sich in Umfang und Art seit den frühesten Kulturen kaum verändert hat, eine viel größere Bedeutung sowohl für den einzelnen wie für ganze Gesellschaften zu. Das ist das Wertewissen. In welcher Sphäre wir uns auch bewegen, der privaten oder der sozialen, unser Leben wird auf Tritt und Schritt von Werten beherrscht: Werten moralischer Art, die in der Familie, in Partnerschaften und unter Freunden und Bekannten gelten, oder Werten, die als Ge- und Verbote des Rechtssystems den Großteil aller öffentlichen und privaten Transaktionen lenken. An Werten und ihrem Gegenteil, den Unwerten einer Gesellschaft, entzünden sich unsere Leidenschaften, Gefühle, Aversionen bis hin zu den Auswüchsen des Fanatismus. Werte bilden den Humus, auf dem Glück und Unglück gedeihen.
Im Gesetzeswissen wird Freiheit negiert, allenfalls räumt man ihr in Gestalt eines wert- und sinnlosen Zufalls eine unbeachtete Nische ein. Dagegen hat unser Wertewissen Freiheit zu seinem Urgrund und seiner Voraussetzung. Denn dieses Wissen beruht auf der Fähigkeit lebender Wesen und vor allem des Menschen, durch die eigene Tat in den Ring der Geschehnisse einzugreifen und diese nach Gutdünken zu formen (1). Als umso überraschender muss es jedem unvoreingenommenen Betrachter erscheinen, dass Freiheit eine Vokabel ist, die in der Geschichte des Denkens eine eher stiefmütterliche Rolle spielt. Freiheit wurde immer wieder geleugnet, sie wurde hinwegdisputiert, relativiert, eskamotiert. Denn die Freiheit des Menschen befindet sich ja in gefährlicher Nähe zur Willkür. Diese aber war immer mit dem Odium des Schädlichen und Gefährlichen behaftet. So kommt es, dass der Freiheit, welche Essenz und Wesen des Wertewissens ausmacht, von jeher die Flucht aus der Freiheit entgegenstand.
Freiheit und Religion
Diese Flucht aus der Freiheit reicht vermutlich weit hinter den Beginn der dokumentierten Geschichte zurück. Denn Göttern und Geistern fiel seit frühesten Zeiten die Aufgabe zu, den Menschen bestimmte Gesetze per Dekret zu verordnen. Das taten sie nicht erst, als Moses eine steinerne Tafel vom Berg Sinai brachte, sondern sie taten es schon in China und Indien und noch in den kleinsten Stammesgesellschaften, über die wir Zeugnisse besitzen. Die Menschen hatten kraft ihrer Freiheit eine eigene Form des Zusammenlebens gefunden und sie in ihre je eigenen konkreten Gesetze gegossen. Doch leugneten sie ihre Freiheit, indem sie deren Ursprung aus dem eigenen Wollen in das Wollen von Göttern und Geistern verlegten: Nicht sie selbst hatten sich ihre Ordnung gegeben, sondern diese war ihnen von oben geschenkt oder auferlegt worden.
Das Motiv für diese uralte und weltweit verbreitete Flucht aus der Freiheit liegt auf der Hand. Die einmal gewählte Ordnung sollte von niemandem angefochten und in Frage gestellt werden können. Eine die Generationen umspannende Dauer der einmal gewählten sozialen Verfassung schien nur dann garantiert, wenn man die Regeln des menschlichen Zusammenlebens dem Zugriff der Einzelnen entzog. Denn der Wille einzelner Menschen war und blieb wandelbar – nur was die Götter wollten, entzog sich allem menschlichen Einspruch. Die Gesellschaft schützte ihre eigenen Regeln, indem sie ihnen einen gottgewollten Status verlieh.
Für diese Flucht aus der Freiheit, die den Göttern zuschrieb, was in Wahrheit bloßes Menschenwerk war, musste allerdings ein hoher Preis bezahlt werden. Denn die Götter wurden dadurch zu gegenseitigen Feinden. Seit den ältesten uns bekannten Zeiten haben sie einander gehasst und bekämpft: Ihre jeweiligen Anhänger in verschiedenen Ländern, Zeiten und Kulturen hatten sie ja zu Garanten grundverschiedener Menschenordnungen gemacht. Was eine Gottheit verdammte und unter Strafe stellte, war der anderen recht oder heilig. So sanken die Götter der jeweils anderen zu Götzen, Dämonen oder Teufeln herab oder man erklärte sie schlicht zu Hirngespinsten. Im Himmel herrschte derselbe Kampf wie auf Erden.
So lange Religionen das Denken mit eiserner Faust umschlossen, war dies der Königsweg, den sich die Flucht aus der Freiheit wählte. Menschliche Ordnungen waren kein Menschen-, sondern sie sollten Gotteswerk sein. Zwar stand dem Menschen die Möglichkeit offen, eine andere als die von Gott sanktionierte Ordnung zu wählen. Er konnte sich dem göttlichen Gesetz als Individuum entziehen oder auch als sozialer Verband. Doch dann beschritt er den Weg der Verdammten und Bösen. Seine Freiheit führte ihn direkt in die Hölle. Aus theologischer Sicht war Freiheit daher eigentlich gar nichts wert. Sie konnte den Menschen nur in Versuchung führen. Denn der einzig richtige Weg war ja von vornherein vom Himmel eindeutig vorgezeichnet.
Zumindest in der heutigen westlichen Welt hat diese Art zu denken ihre ursprüngliche Bedeutung weitgehend eingebüßt. Nur wenige Menschen sind immer noch überzeugt, dass übermenschliche Wesen statt ihres eigenen (demokratischen) Wollens für ihre jeweilige soziale Ordnung zuständig seien. Auch wenn sie in solchen Wesen den Urgrund ihrer Existenz erblicken, sind sie sich gleichwohl bewusst, dass diese ihnen offenbar eine vollkommene Freiheit gewähren – Freiheit, die sie zum eigenen und zum Wohl ihrer Mitmenschen oder zu deren Nachteil oder Verderben einsetzen können. Wir sind fähig, uns zur eigenen Verantwortung zu bekennen, statt diese an Gott abzutreten.
Freiheit und Wissenschaft
Doch ist die Flucht aus der Freiheit damit an ein natürliches Ende gelangt? Ist mit der europäischen Aufklärung auch das Zeitalter der Freiheit angebrochen? Keineswegs. Eher trifft das Gegenteil zu. Denn was die Religionen begonnen haben, hat die Wissenschaft fortgesetzt, und zwar in einem weit stärkeren Maße und auf eine Weise, die den meisten Menschen viel undurchschaubarer erscheint. Freiheit wird von neuem geleugnet. Diesmal indem man menschengestaltete Ordnungen nicht im Himmel, sondern in der Natur und ihren Zwängen verankert. Man schreibt ihnen den Status von Gesetzen zu.
Das Bestreben der Wissenschaften die Freiheit auszuschalten, ist allgegenwärtig. Man begegnet ihm ebenso in der Anthropologie, wie in der Psycho- oder Soziologie. Es ist gar nicht so lange her, da gehörte es zu den Allgemeinplätzen der Psychologie, dass Mann und Frau in ihren Fähigkeiten und Bestrebungen wesenhaft unterschieden seien; es gehörte zu den Gemeinplätzen der Anthropologie, dass der Mensch von Natur aus auf Konkurrenz angelegt und deshalb schon in den Zeiten der Jäger und Sammler das gegenseitige Morden endemisch gewesen sei; es gehörte zu den Gemeinplätzen der Soziologie, dass menschliche Ungleichheit eine Konstante sozialer Verfassung und jeder Versuch, dagegen anzugehen, deshalb zum Scheitern verurteilt sei.
Wie gesagt, das sind überkommene Positionen, die sich seit Bestehen der genannten Wissenschaftsdisziplinen bis gegen Ende des vergangenen Jahrhunderts verfolgen lassen. Inzwischen schlägt das Pendel der wissenschaftlichen Meinung jedoch in die entgegengesetzte Richtung aus. Jetzt ist von einer prinzipiellen Gleichheit der Geschlechter die Rede. Anthropologen betonen auf einmal die angeblich angeborene Neigung des Menschen zur Kooperation. Die Neurologen schließen sich ihrerseits diesem Standpunkt an, indem sie diese Neigung schon im Inneren des Gehirns verorten, wo Spiegelneuronen die biologische Grundlage für die Einfühlung in andere Menschen bilden (2). Und Jeremy Rifkin bietet in seinem jüngsten Buch „Die Empathische Zivilisation“ geradezu ein „Who is who?“ sämtlicher Wissenschaftler, die ebenso wie er selbst daran glauben, dass der Mensch seinem wahren Wesen nach gut, einfühlend, kooperativ und gerecht sei und wir kurz vor dem Anbruch eines Zeitalters stehen, wo er all diese Eigenschaften entfalten werde (3).
Wissenschaft als Magd sich wandelnder Bedürfnisse
Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass die menschenbezogene Wissenschaft sich gar zu bereitwillig zur Magd der jeweiligen sozialen Bedürfnisse macht. Es ist noch nicht lange her, da galt als wichtigste Eigenschaft eines Konzern- und Bankenchefs die Bereitschaft zu aggressivem Verhalten, und der gleiche Imperativ kam auch auf ganze Gesellschaften zu: Mit aller Kraft und Rücksichtslosigkeit sollten sie sich gegen ihre ebenso brutalen Konkurrenten auf den globalen Märkten durchsetzen. Welche Erleichterung für ihr Gewissen musste es da bedeuten, wenn die Wissenschaft den Nachweis erbrachte, dass Aggression bereits in den Genen angelegt oder in der Geschichte des Menschen überhaupt der Normalfall sei! Der Einzelne hat dann, so die kaum verschlüsselte Botschaft, gar keine andere Wahl. Er tut nur, was er ohnehin machen muss und alle anderen ebenso tun wie er! Um Freiheit braucht er sich nicht zu kümmern.
Inzwischen haben wir die giftigen Früchte dieser Botschaft reichlich geerntet, und deshalb ist jetzt eine genau entgegengesetzte Lehre zu hören. Gewiss, die uns zur Empathie befähigenden Spiegelneuronen sind eine der großen Entdeckungen der jüngeren Wissenschaftsgeschichte. Aber schon die Horden Dschingis Khans und die Nazischergen waren zweifellos mit ihnen ausgestattet. Man gewinnt den Eindruck – und soll ihn wohl auch gewinnen – als würden solche Entdeckungen den Menschen verändern. Damals, als es darum ging, das Gewissen des aggressiven Managers und der gesamten auf Aggression verpflichteten Wirtschaft zu erleichtern, hätte man am liebsten ein Aggressions-Gen entdeckt, um den Menschen von seiner persönlichen Verantwortung zu entlasten. Heute würde man umgekehrt am liebsten ein Gen für Friedfertigkeit ausfindig machen – und zwar aus demselben Grund.
Hopis und Ilias
Doch eines ist so unsinnig wie das andere, denn beides ist eine Flucht aus der Freiheit. Die historisch und wissenschaftlich einzig haltbare Wahrheit besagt, dass wir immer schon und wohl auch in alle Zukunft zu beidem fähig sind: Wir haben das Zeug zur Heiligkeit und zu Verbrechern in uns. Genau diese Ambivalenz macht das Wesen menschlicher Freiheit aus. Es hat (vor allem kleinere) Gesellschaften wie die der Hopis gegeben, in denen das Aggressionspotential auf ein Minimum reduziert war. Die Menschen haben im Miteinander sozusagen ein soziales Selbsttraining in zwischenmenschlicher Friedfertigkeit absolviert (4). Es hat andere gegeben, wo die täglich geübte Aggression zum guten Ton gehörte. Man muss nicht einmal zu den Mongolenhorden, zu Timur dem Lahmen oder zu Mohammad Tughlak zu gehen (5), um sich davon zu überzeugen – es genügt ein Blick in eines der bedeutendsten Zeugnisse der Weltliteratur, in die homerische Ilias.
Die Wissenschaften vom Menschen erhellen unsere eigene Komplexität, indem sie uns nacheinander die verschiedenen Aspekte unserer Freiheit bewusst und begreiflich machen, diese Freiheit selbst aber schaffen sie nicht aus der Welt. Wir sind erst wirklich frei, wenn wir weder in Gott – wie das die längste Zeit der Geschichte der Fall war – noch wenn wir in der Natur – wie dies seit der Neuzeit in immer neuen Anläufen versucht worden ist – eine Rechtfertigung für die eigene Freiheit suchen.
Ein berechtigter Einwand
Doch haben die Wissenschaften nicht in einem zentralen Punkt Recht? Muss es nicht als eine unsinnige Annahme erscheinen, den Menschen, der doch Teil der Natur ist, aus dieser herauszulösen, so als gäbe es zwar in der letzteren „eherne“ und „unverbrüchliche“ Gesetzmäßigkeiten, doch ganz allein für ihn nicht? Wie kommt er dazu, aus der Natur und ihren Notwendigkeiten herauszutreten, indem er sich zu einem freien Wesen erklärt? Diesen Einwand erhob schon Voltaire: „Es wäre schon recht erstaunlich“, schrieb der französische Aufklärer, „wenn alle Sterne ewiger Gesetzhaftigkeit unterliegen, während nur ein unscheinbares Tier von fünf Fuß Größe sich nach Belieben ihnen widersetzen darf, gerade wie seine Launen es ihm gebieten.“
1 „Der Mensch… hat… das Vorrecht, in den Ring der Notwendigkeit… durch seinen Willen zu greifen und eine ganz frische Reihe von Erscheinungen in sich selbst anzufangen. Der Akt, durch den er dieses wirkt, heißt… eine Handlung, und diejenigen seiner Verrichtungen, die aus einer solchen Handlung herfließen,… seine Taten“ (Friedrich Schiller: Über Anmut und Würde, Schiller-SW Bd. 5, S. 454).
2 Es erfrischt, wie Prof. Joachim Bauer die in ihren Folgerungen einseitige Darwinsche Lehre kritisiert. Indem er dann allerdings jenen Seiten der menschlichen Physiologie eine besondere Stellung zuschreibt, die in Richtung von Kooperation und Einfühlung gehen, entsteht immer wieder der Eindruck, als habe da ein Wissenschaftler nun endlich die wahre und eigentliche Natur des Menschen entdeckt. Doch darin liegt eine neue Einseitigkeit. Wieder soll menschliches Wesen in der Natur verankert werden.
3 Die von Jeremy Rifkin beschriebene „Emphatische Zivilisation“ verhält sich zu unserer Wirklichkeit etwa so wie das Positiv zur Negativablichtung in der Photographie – eine streckenweise doch etwas arge Schönfärberei.
4 Siehe Uwe Wesel, Der Mythos vom Matriarchat. Suhrkamp 1999; s. 101ff.
5 In Gestalt des Mohammad Tughlak hat Elias Canetti hat in „Masse und Macht“ ein Schaudern erregendes Porträt des vollendet Bösen gegeben.