Es scheint ein Sieg der Solidarität über den egoistischen Nationalismus, der Gemäßigten über die Extremisten, der Großzügigkeit über das kleinliche Rechnen zu sein. Deutschland will nicht in die Rolle eines von der ganzen Welt als eigensüchtig gebrandmarkten Krämers geraten, der den eigenen Erfolg mit niemandem teilen mag.
Und es möchte auch nicht auf die Stimmen der Hetzer und Extremisten hören. Kommen die Rufe nach einer radikal anderen Politik nicht hauptsächlich von ganz links und ganz rechts, nicht zu reden von einem demagogisch entfesselten Boulevard? Müssen Besonnenheit und Augenmaß sich nicht vor allem davor hüten, sich an die Seite falscher Bundesgenossen zu stellen?
Eine nüchtern denkende Kanzlerin
Die deutsche Kanzlerin ist eine ausgebildete Physikerin. An nüchternes Denken und klares Rechnen ist sie gewohnt. Aber sie hat schon einmal erleben müssen, dass nüchternes Denken und klares Rechnen nicht unbedingt den Erfolg verbürgen. Fast hätte sie ihr mutiges Eintreten für eine – nicht einmal sonderlich durchgreifende – Steuerreform den Wahlsieg gekostet, weil ihre politischen Gegner alle Geschütze der Demagogie mobilisierten, um gegen sie und Paul Kirchhof Front zu machen. So auch dieses Mal. Am Brüsseler Gipfel vom 28. Juni war die Kanzlerin einem ungeheuren Druck ausgesetzt – nicht nur dem der südlichen Peripherie, sondern auch dem der übrigen Welt. Schon in Los Cabos hatte Mario Monti Präsident Obama für seine Idee gewonnen, dass der europäische Rettungsschirm die Anleihen verschuldeter Mitgliedsländer aufkaufen darf – ohne weitere Auflagen. Soviel Druck war zuviel für die Kanzlerin. Dem hat sie nicht standgehalten. Sie ist eingeknickt.
Der Dammbruch
Doch in Wahrheit ist Schlimmeres geschehen. Wenn das deutsche Verfassungsgericht nicht die Notbremse zieht, ist ein Damm gebrochen. Wer einmal in die Defensive gerät, zeigt Schwäche und setzt sich immer neuen Attacken aus. Haben nicht vor allem die Deutschen vom Euro profitiert, wie selbst der Vorsitzende des deutschen Sachverständigenrats behauptet? (1) Nun gut, dann sollen die Deutschen auch dafür zahlen! Doch letztlich zählt nicht einmal, ob und wie sehr hier mit halbwahren Zahlen und Argumenten hantiert wird. Denn eines ist sicher: Es nur eine Frage der Zeit – allenfalls weniger Monate – bis das Wolfsrudel der Märkte seine Beute von neuem umstellt. Die Deutschen werden dann wieder zögern. Sie werden zögern müssen, weil es schließlich das Geld ihrer Bürger ist, das hier aufs Spiel gesetzt wird. Doch kaum hat sich die Situation im Süden neuerlich zugespitzt, kaum gehen die Menschen dort auf die Barrikaden, wird Deutschland im Namen Europas erneut unter Druck gesetzt.
Der Phyrrussieg
Die Solidarität hat in Europa gesiegt, doch das ist nicht mehr als ein Phyrrussieg. Denn von welcher Art Solidarität ist hier die Rede? Die vorhandenen Zahlen geben eine unmissverständliche Antwort. Laut Eurostat belief sich 2011 die Neuverschuldung der Italiener und Portugiesen auf jeweils 4%. In Frankreich und den Niederlanden brachte man es auf 5, in Spanien auf 8,5%. Die Griechen machten neue Schulden in Höhe von 9%, während die Iren gar die Marke von 13% erreichten. Statt den bestehenden Schuldenberg abzubauen – wie es der deutsche Sachverständigenrat einem unwissenden Publikum auch jetzt noch in kunstvollen Modellen als realistische Möglichkeit für die Zukunft vorgaukelt – geschieht de facto das Gegenteil: Die Schulden werden höher und höher getürmt. Oder wird etwa das Geld, welches man für das sehnlich erhoffte Wachstum in den Ländern des Südens braucht, zur Abwechslung einmal vom Himmel regnen? Das ist kaum anzunehmen. Man wird weitere Schulden machen, nur das Deutschland dafür jetzt haften muss.
Die Kanzlerin hat sich erpressen lassen!
Bravo. Die politischen Vertreter der Nation haben Solidarität bewiesen, auch wenn eine Bevölkerungsmehrheit sich dagegen stemmt! Nach außen wurde ein guter Eindruck erzielt. Die USA haben das Verhalten der Kanzlerin schon mit huldvollem Lob bedacht. Schade, dass die Märkte sich von Moral so wenig beeindrucken lassen! Für Moral sind Märkte sogar absolut taub. Dagegen wissen sie die ökonomische Situation mit illusionsloser Klarheit einzuschätzen. Und diese Einschätzung besagt, dass auch Deutschland bald als unsicherer Hafen für ihre Anlagen gelten wird. Immerhin sind Deutschlands Schulden in kurzer Zeit von 60 auf 80% in die Höhe geschnellt. Die neuen Verpflichtungen für den EMS werden ein Übriges tun, um diesen Trend wesentlich zu verstärken. Kurzfristig hat die Kanzlerin Europa einen Dienst erwiesen, langfristig hat sie sich von Hollande und Monti dazu erpressen lassen, den Niedergang ihres eigenen Staates in Kauf zu nehmen. Vor allem hat sie gegen die Interessen der Mehrheit der Steuerzahler für die Interessen des großen Kapitals gehandelt. Eine Klausel sieht ausdrücklich vor, dass die Forderungen privater Investoren (sprich von Großinvestoren) bei der Rettung spanischer Banken Vorrang vor denen der Staaten (sprich der kleinen Steuerzahler) genießen.
Das Bellen wird nicht verstummen!
Es wird mehr Europa geben – gewiss – aber ein Europa, das man auf falschen ökonomischen Prämissen und damit auf Treibsand erbaut. Mit dem Fiskalpakt, der keine verfassungsmäßig garantierte Mitsprache der Geberländer bei der Verwendung der von ihnen gewährten Mittel vorsieht, sondern diese in die Verfügung der Brüsseler Kommission und damit der Mehrheit von Schuldnerländern stellt, wurde ein Prinzip solider Finanzgebarung geopfert. Auf diesem Weg ist die Kanzlerin nun einen Schritt weiter gegangen. Wenn der europäische Rettungsschirm künftig Staatsschulden aufkauft, wird der IWF nicht länger als Kontrollinstanz auftreten dürfen. Zwar erscheint es wünschenswert, dass Europa seine schmutzige Wäsche alleine wäscht, doch hätte man sich zuvor gegen den nahe liegenden Missbrauch absichern müssen. Das ist nicht geschehen. Die Sperrminorität, die den Deutschen innerhalb des Rettungsschirms bleibt, ist nicht genug. Macht der Norden davon Gebrauch, ohne eine wirksame Kontrolle ausüben zu können, trägt ihm das nur das Odium der ewigen Verhinderer ein.
Der vom deutschen Bundestag am 2. Juli abgesegnete Fiskalpakt ist allerdings bereits Makulatur, weil die der Kanzlerin abgerungenen Zugeständnisse bedeutend weiter gehen. Werden die staatstragenden Parteien, in deren Kreis auch die Grünen so gerne aufrücken möchten, der gierigen Meute nun auch noch den Brocken zuwerfen, den die Kanzlerin zu verantworten hat? Und was wird damit gewonnen? Für ein paar Wochen wird diese Droge reichen, aber gewiss nicht länger. Denn es gehört wenig akustischer Feinsinn dazu, um ihr Bellen jetzt schon aus der Ferne zu hören. An dem eigentlichen Grund der Misere – der exorbitanten Verschuldung – hat sich ja nichts geändert. Im Gegenteil, die Schulden wachsen weiter. Spätestens in einem halben Jahr werden alle das Kläffen von neuem hören. Und es wird dann noch viel lauter und furchterregender sein, da es nicht mehr den Süden allein betrifft. Die Kanzlerin und ein folgsamer Bundestag haben dann endlich auch Deutschland der Meute preisgegeben.
Warum wird nichts gegen das wirkliche Übel getan?
Warum musste es dazu kommen, obwohl die deutsche Kanzlerin nüchtern und klar zu denken versteht und es genug gut unterrichtete Leute auch im deutschen Bundestag gibt? Immerhin hat selbst der Bundeskanzler eines kleineren europäischen Staates, der Österreicher Werner Faymann, in einem Moment der Offenheit die wirkliche Situation bemerkenswert klar eingeschätzt. (2) Es ist daher davon auszugehen, dass die großen Spieler Europas hinter vorgehaltener Hand sehr wohl um die echten Probleme wissen. Sie wissen, dass es sowohl mathematisch wie sozial völlig unmöglich ist, den bestehenden Schuldenberg abzutragen. (3) Daher wissen sie auch, dass die gerade beschlossenen Maßnahmen nichts gegen die Schulden ausrichten können. Allen Anstrengungen zum Trotz werden sich diese weiter erhöhen und jetzt auch den Wohlstand des Nordens bedrohen. Warum tun die führenden Akteure nichts gegen das absehbare Unheil, obwohl die Klügeren unter ihnen sehr wohl davon wissen?
Die Feigheit der Etablierten
Weil die Besonnenen, die Maßvollen, die Kräfte der Mitte oder jene, die zur Mitte gehören wollen, nichts so sehr fürchten wie einschneidende und schmerzhafte Maßnahmen. Wie die großen Konzerne auf das nächste Quartal, halten sie den Blick fest auf die nächste Wahl gerichtet. Was danach kommt wird allenfalls in hohlen Proklamationen beschworen. Der bloße Gedanke, das bestehende soziale Gefüge anzutasten, um der Reichtumskonzentration an der Spitze (für das die Banken im Wesentlichen nur Transformationsriemen sind) ein Ende zu setzen, ist für sie eine Horrorvorstellung, denn das würde Kampf bedeuten – einen Kampf, den sie zwar im Namen und Auftrag der Mehrheit führen, aber gegen eine überaus mächtige, wortstarke und wenn es sein muss, auch skrupellos vorgehende Minderheit.
Sie kleben am Status Quo
Nicht weniger schrecken sie vor einem zweiten Eingriff zurück, weil auch dieser ökonomisch mächtige Kreise verstört. Die Vorstellung, dass Weltmächte sich gegen Aufsteiger schützen müssen, wenn diese mit Billigangeboten die Regeln des fairen Wettbewerbs annullieren, ist ihnen Anathema. Lieber lassen sie, wie im Millenniumsjahr geschehen, Brüssel großmundig verkünden, dass Europa nun auch die USA bald in den Schatten stellt. Die staatstragenden Parteien der Mitte und mit ihnen die Grünen, die nichts so sehr ersehnen, wie dass sie endlich zur Mitte aufrücken, sind die Verteidiger des Status Quo. Genauer gesagt, sind sie – ob wissentlich oder nicht – die Verteidiger des Privilegs, weil der Status Quo seit Jahren genau darin besteht, eine Minderheit Jahr um Jahr reicher und reicher zu machen. Da das bei mangelndem Wachstum zwangsläufig auf Kosten der Mehrheit geht, muss man diese immer stärker zur Ader lassen – erst für notleidende Banken, dann für notleidende Regierungen und schließlich noch für einen notleidenden Süden. Kann es da noch überraschen, dass sich die Mehrheit ihre Retter nicht mehr bei den Besonnenen und Maßvollen sucht, sondern unter extremistischen Parteien?
Wir kennen das aus der Vergangenheit
Die scheinbar Besonnenen, die zur Unzeit Maßvollen, die auf den Augenblickserfolg fixierten, kurz die allzu feigen politischen Akteure sind stets die unfreiwilligen Steigbügelhalter der Maßlosen, der Unbesonnenen, der Hetzer und Extremisten gewesen. Die deutsche Kanzlerin, die es im Grunde besser weiß, hat im entscheidenden Augenblick versagt. Sie hat die Weichen in eine falsche Richtung gestellt. Zwar weiß sie es besser, aber sie wagt es nicht besser. Die große Krise – im Wesentlichen ein Déja Vu, eine Wiederholung der Krise von 1929 – hätte von den Parteien der Mitte den Mut zu einschneidenden Maßnahmen statt einer bloßen Fortsetzung der bisherigen Politik aus Beschwichtigung und scheinbarer Beruhigung verlangt. Europa hätte einen Franklin D. Roosevelt gebraucht, einen besonnenen, maßvollen Mann, der aber die Kraft für die großen einschneidenden und schmerzhaften Maßnahmen des New Deal aufbrachte.
Mit großer Wahrscheinlichkeit wird die Wahrheit jetzt wiederum – wie schon einmal in den dreißiger Jahren – in die falschen Hände geraten. Die Unbesonnenen, die Maßlosen und die Hetzer stehen jedenfalls in den Startlöchern bereit. In Österreich ist das jetzt schon eine absehbare Entwicklung.
1 Diese Meinung wird von Nouriel Roubini vertreten und wurde in Deutschland vom derzeitigen Vorsitzenden des Deutschen Sachverständigenrats, Peter Bofinger, übernommen. Joseph Joffe (I come to praise Ms Merkel not to bury her. FTD vom 20.6.2012) macht dagegen geltend, dass der Euro bei seiner Entstehung nur 0,85 Dollar kostete, während sein Wert im letzten Jahr bis auf 1,49 USD stieg. Das entspricht fast einer Verdoppelung. Die Agenda 2010, also die Verbilligung der deutschen „Standortkosten“, nicht die Einführung des Euro, hat daher Deutschlands Waren auf dem Weltmarkt nach einer Zeit des Kränkelns wieder wettbewerbsfähig gemacht. Im Gegensatz zu Werner Sinn versucht Peter Bofinger diese Tatsache kleinzureden, obwohl die Zahlen eindeutig gegen ihn sprechen. Während die deutschen Lohnstückkosten während des Euroregimes nur um 7% zunahmen, sind sie in Italien um 30, in Spanien um 35 und in Griechenland gar um 42% in die Höhe geschnellt.
2 In einem Interview mit dem Wiener Stadtmagazin Falter (vom 5. 8. 2009) sagte Faymann: „Die europäische Verschuldung, bei der wir immer im Mittelfeld liegen, wird in zwei, drei Jahren um ein paar Prozent höher sein. Ich glaube nicht daran, dass irgendein Staat das zurückbezahlt.“
3 Siehe meinen Artikel Wirtschaft ohne Wachstum – warum das gegenwärtige Wirtschaftssystem eine Entwicklung zur Nachhaltigkeit ausschließt.