Zusammen mit dem ermordeten Dissidenten und ehemaligen russischen Vizepremier Boris Nemzow und dem inzwischen vermutlich lebenslänglich weggesperrten Alexei Nawalny gehört Garri Kasparow, der frühere Schachweltmeister, zur ersten Riege des russischen Widerstands gegen Wladimir Putin.
Zwischen 2005 und 2015 war er vor allem in Russland tätig, kurz vor der Ermordung seines Freundes Nemzow Februar 2015 ist er ins Ausland gegangen und veröffentlichte dort sein Buch „Warum wir Putin stoppen müssen“. Ich kenne keine besser dokumentierte, besser argumentierte und überzeugendere Darstellung der Putin-Diktatur. Einschränkende Bemerkungen fallen mir nur mit Bezug auf seine Aussagen zu westlichen Demokratien ein. Wie die Welt zu ihrer Konsternation erleben musste, hätte der Präsident der führenden Demokratie Donald Trump sein Land fast beiläufig in eine Diktatur umgepolt. Der Kapitalismus war und ist immer in Gefahr in einen neuen Feudalismus (und damit in die Diktatur) umzukippen, wenn er das Prinzip „the winner takes it all“ zu seiner Maxime erhebt. Freiheit gibt es nur, wenn man sie auch gegen ihre Ausbeuter verteidigt. Als Kasparow sein Buch „Winter is coming“ (deutsch: „Warum wir Putin stoppen müssten“) im Jahre 2015 (!) veröffentlichte, war Donald Trump noch nicht an der Macht, und Putin hatte gerade erst die Krim annektiert. Es gibt wenige Bücher, die so prophetisch vorausgesehen haben, wer Putin ist und was er seinem Land und der Welt zumuten wird und es gibt noch weniger Bücher, die sich ihre Aktualität so sehr bewahren. Im Folgenden beschränke ich mich auf ausgewählte Zitate aus diesem bemerkenswerten Buch – Übersetzung und kursive Hervorhebungen von mir.
Kasparows Überzeugung
Der Kommunismus widerspricht der menschlichen Natur und kann nur durch totalitäre Unterdrückung aufrechterhalten werden. /Das ist vollkommen richtig für Staaten, aber nicht unbedingt auf der persönlichen Ebene von Familien, Freunden und kleinen religiösen Gemeinschaften. Wir ertragen materielle Ungleichheit nur, weil es Inseln der Hilfs- und Teilungsbereitschaft gibt, wo sie eben nicht geduldet wird/.
Putin
Was hat er aus Russland gemacht?
Im Jahr 2000, als Putin das Amt übernahm, gab es auf der Milliardärsliste der Zeitschrift Forbes keinen einzigen Russen. Im Jahr 2005 waren es sechsunddreißig. Im Jahr 2008 waren es siebenundachtzig, mehr als in Deutschland und Japan zusammen, und das in einem Land, in dem 13 Prozent der Bürger unter der nationalen Armutsgrenze von 150 Dollar pro Monat leben.
In weniger als sechs Monaten nach Putins Amtsantritt befanden sich zwei der einflussreichsten Oligarchen Russlands im Exil, die verfassungsmäßige Machtstruktur des Landes hatte sich dramatisch zugunsten Moskaus verschoben, und die freien Medien fielen wie Dominosteine. Sechs Monate!
Putin als Person
Seit dem Jahr 2000 ist Putin der ultimative internationale politische Performance-Künstler… Das Time-Magazin kürte Putin zur Person des Jahres 2007.
Genau das Gleiche hätte man 1938 über Adolf Hitler sagen können, als er ebenfalls zum Mann des Jahres gewählt worden ist.
Ja, er /Putin/… lügt unverhohlen über einige Dinge, wenn es gerade passt, aber bei den großen Themen wie der Zentralisierung der Macht und seiner Verachtung für Demokratie und Bürgerrechte spricht er Klartext und hat eine gute Erfolgsbilanz, wenn es darum geht, seine Aussagen zu untermauern.
Die Präsidentschaftswahlen vom 4. März 2012, die betrügerischsten in der russischen Geschichte, wurden von den staatlich kontrollierten Medien als „fair und sauber“ verkündet.
/Keine Bücherverbrennung/ Stattdessen beschlagnahmen sie /Putins Männer/ einfach die Bücher als „extremistisches Material“, wie es 2012 mit 250.000 Exemplaren des Buches des ehemaligen stellvertretenden Ministerpräsidenten Boris Nemzow geschah, in dem Putins Korruption detailliert beschrieben wurde.
Putin ist kein Meisterstratege /Dieses Urteil von 2014 hat sich inzwischen bewahrheitet. Im Februar 2022 glaubte Putin fälschlicherweise, dass die Ukraine innerhalb von drei Tagen fallen würde/. Er ist ein aggressiver Pokerspieler, der sich der schwachen Opposition einer westlichen Welt gegenübersieht, die so risikoscheu geworden ist, dass sie lieber aussteigt als einen Zug zu wagen, egal wie gut ihre Karten sind.
Im Jahr 2000 wusste Putin noch nicht, dass er ein Diktator sein wollte. (Anders als Hitler und Stalin, deren frühe Schriften und Äußerungen ihre Träume nur allzu deutlich machten).
Was die Popularität Putins angeht, so höre ich davon immer aufs Neue. Sind Sie sicher? Warum hat er dann so viel Zeit und Mühe darauf verwendet, die Medien zu beherrschen, Konkurrenten auszuschalten und ein kompliziertes System zur Manipulation von großen und kleinen Wahlen einzurichten? Wenn Putin so beliebt ist, warum gibt es dann keine freien und fairen Wahlen und freie Medien?
Wie ist sein Erfolg zu erklären?
Die Unterwerfung der russischen Presse durch den Kreml war neben dem Anstieg der Ölpreise um über 700 Prozent der Hauptgrund für den vermeintlichen Erfolg von Putins Regime. Die Oligarchen der 1990er Jahre mögen Russland blindlings ausgeraubt haben, aber zumindest konnten wir in den Nachrichten davon erfahren.
Während Putins Amtszeit /von 2000 bis 2014/ stieg der Ölpreis von 10 Dollar pro Barrel auf über 100 Dollar.
Russland ist der größte Ölproduzent der Welt, obwohl die sowjetische Infrastruktur nur minimal modernisiert worden ist. Diese Flut von Ölreichtum hat Russland in einen diktatorischen Petro-Staat verwandelt und es Putin ermöglicht, im Inland die Illusion von Stabilität zu schaffen und im Ausland seine Kritiker zu kaufen oder zu bedrohen.
Unabhängig davon, wie sie wirklich über Putin und ihr Leben denken, sehen die Russen ihn derzeit als unbesiegbar und nicht aus dem Amt zu beseitigen. Sie sehen, wie er sich in der Ukraine durchsetzt, Gebiete erobert und Krieg führt. Sie sehen, wie er große Töne spuckt und Deals mit Merkel und Hollande macht. Sie sehen seine Feinde tot auf den Straßen von Moskau.
Seine Methoden
Die Putin-Regierung ging nicht gegen die Korruption vor, sie heiligte sie. Es war eine einzigartige Methode, die Stadt zu säubern, indem man eine Gruppe von „Unternehmern“ vertrat und eine andere dämonisierte.
Die Korruption der Oligarchen wurde in die Mauern des Kremls verlegt, wo sie ein erschütterndes Ausmaß erreicht hat. Die Medien, die Jelzin /noch/ frei kritisieren konnten, stehen /heute/ ganz im Dienste der Putin-Regierung.
Putins Botschaft… war die eines Mafiabosses. Entweder man schwor dem Capo Loyalität, um innerhalb seines Systems zu stehlen, oder die eigene Freiheit und das eigene Vermögen konnten über Nacht verschwinden.
Dies wurde zu Putins mafiöser Visitenkarte: Wenn Sie die Machtvertikale in Frage stellten, hatte er es nicht nur auf Sie und Ihr Vermögen abgesehen, sondern auch auf Ihre Mitarbeiter, Freunde, Familie und jeden, der es wagte, Sie zu verteidigen.
Wie ein roter Faden zog sich durch seine Innen- und Außenpolitik das Bemühen, mit der Angst zu handeln – mit der Angst der Russen, dass ihr Land von feindlichen externen Kräften (Tschetschenen, NATO oder freien Marktteilnehmern; in der Regel alles zusammen) angegriffen würde.
Das ist es, was Putin geschaffen hat, um sich an der Macht zu halten: eine Kultur des Todes und der Angst, die sich über alle elf russischen Zeitzonen erstreckt und nun auch in die Ostukraine exportiert wird.
/Überall auf der Welt/ sind die Autokraten eifrige Schüler ihrer Vorgänger. Sie studieren sorgfältig, wie man schrittweise Rechte abbaut, ohne eine Rebellion zu riskieren, wie man Dissens unterdrückt und Scheinwahlen abhält… und wie man von Frieden spricht, während man Krieg führt.
Die Terroristen und ihre Lehrer sowie die Diktatoren und ihre Erfüllungsgehilfen sind schnell dabei, auf jede Heuchelei, jede Doppelmoral hinzuweisen.
Totalitäre Regime in aller Welt erzählen ihren Bürgern gern, dass die Amerikaner und Westeuropäer trotz ihres erklärten Interesses an Demokratie und Menschenrechten genauso korrupt sind wie ihre eigenen Führer.
Diktaturen verspüren das perverse Bedürfnis, den Schein zu wahren, Wahlen und Prozesse abzuhalten, auch wenn die Ergebnisse von vornherein feststehen.
„Ein Land, das die Rechte seiner eigenen Bevölkerung nicht respektiert, wird auch die Rechte seiner Nachbarn nicht respektieren.“ Putins Russland ist ein perfektes Beispiel für diese Wahrheit.
Putin und der Mafia-Faschismus
Nicht aus Unwissenheit oder um zu schockieren, vergleiche ich die Feigheit und die Beschwichtigung, die die Führer der freien Welt heute gegenüber Putin an den Tag legen, mit der verzweifelten, vergeblichen und letztlich ruinösen Beschwichtigungspolitik der 1930er Jahre gegenüber Hitler.
Wie ich bereits in der Einleitung sagte, war Hitler 1936 noch nicht Hitler. Zwar wurde er von vielen innerhalb und außerhalb Deutschlands bereits mit Misstrauen betrachtet, aber er stand strahlend im Berliner Olympiastadion und wurde von den führenden Politikern der Welt bejubelt und von den Athleten der Welt mit steifem Arm gegrüßt. Es besteht kein Zweifel, dass dieser Triumph auf der Weltbühne die Nazis ermutigte und ihre Ambitionen stärkte.
Sicherlich erinnern Putins Arroganz und seine Sprache mehr und mehr an Hitler, ebenso wie die Belohnungen, die er daraus gezogen hat. Dafür kann er sich bei dem Überangebot an Chamberlains in den Hallen der Macht bedanken – und es ist kein Churchill in Sicht. Krieg entsteht aus Schwäche, nicht aus Stärke.
/Wenn Sie die beste Beschreibung dessen finden wollen, was Putin wirklich ist/ Gehen Sie direkt in die Abteilung für Belletristik und nehmen Sie alles mit, was Sie von Mario Puzo finden können. Die Paten-Trilogie ist ein guter Anfang, aber lassen Sie auch Der letzte Don, Omerta und Der Sizilianer nicht aus.
Ein Puzo-Fan sieht die Putin-Regierung genauer: eine strenge Hierarchie, Erpressung, Einschüchterung, ein knallhartes Image, eine lange Reihe von günstigen Todesfällen unter führenden Kritikern, die Beseitigung von Verrätern, der Kodex der Geheimhaltung und Loyalität und vor allem der Auftrag, die Einnahmen am Laufen zu halten. Mit anderen Worten: eine Mafia.
Die Lakaien und Oligarchen sind Putin gegenüber loyal, weil er der capo di tutti capi ist und ihnen Schutz bietet. Sie können in Russland tun und lassen, was sie wollen, und solange sie loyal bleiben, können sie reich werden und ihr Geld nach Amerika, London oder sonst wohin bringen.
Boris Nemzow, mein langjähriger Freund und Kollege in der russischen Opposition, wurde am 27. Februar 2015 mitten in Moskau kaltblütig ermordet.
Danach schickte Putin dreist eine Beileidsbekundung an Nemzows Mutter, die ihren furchtlosen Sohn oft davor gewarnt hatte, dass er in Putins Russland für seine Taten getötet werden könnte. Stunden nach Boris‘ Tod wurde berichtet, dass die Polizei eine Razzia in seiner Wohnung durchführte und Papiere und Computer beschlagnahmte.
Putins Feinde sind oft Opfer und seine Opfer sind immer Verdächtige. Boris war ein leidenschaftlicher Kritiker von Putins Krieg in der Ukraine und stand kurz vor der Fertigstellung eines Berichts über die Präsenz russischer Soldaten im Donbass, eine Angelegenheit, die der Kreml mit allen Mitteln zu vertuschen versucht.
Aber im Westen geht es doch ganz genauso zu!
/Denken Sie nur an die digitale Überwachung! Aber:/ Die Bürger hinter dem Eisernen Vorhang hatten keine Angst vor den Geheimdiensten wegen der Datensammlung. Wir lebten in Angst, weil wir wussten, was mit uns geschehen würde, wenn wir auch nur den Anschein von Widerspruch gegen das Regime äußerten.
Brutaler Totalitarismus beginnt nicht mit der Überwachung durch einen liberalen demokratischen Staat. Er beginnt mit Terror, er beginnt mit Gewalt, und er beginnt mit dem Wissen, dass deine Gedanken und Worte deine Karriere oder dein Leben beenden können.
Russische Aggression unter Putin
… Russischen und von Russland unterstützten Kräften in der abtrünnigen georgischen Region Südossetien gelang es schließlich, einen Krieg mit Georgien zu provozieren /8.8.2008/. Nachdem sie sich monatelang auf diesen Moment vorbereitet hatten, blockierten russische Schiffe georgische Häfen und russische Streitkräfte drangen in Georgien ein und besetzten mehrere Städte.
… 17. Juli 2014, als der Flug MH17 der Malaysia Airlines über der Ostukraine von einer Boden-Luft-Rakete abgeschossen wurde, wobei alle 298 Menschen an Bord ums Leben kamen. Die örtliche Separatistenführung brüstete sich sofort damit, ein ukrainisches Militärflugzeug abgeschossen zu haben, und widerrief ihre Aussagen und löschte ihre Beiträge erst, als sich herausstellte, dass es sich um ein ziviles Flugzeug handelte.
Ende Februar 2014 befahl Wladimir Putin zum zweiten Mal innerhalb von sechs Jahren /nach dem Überfall auf Georgien/ russischen Truppen, eine international anerkannte Grenze zu überschreiten und ein Gebiet zu besetzen.
Dieser Akt machte Putin zum Mitglied eines exklusiven Clubs, zusammen mit Saddam Hussein und Slobodan Milošević, als einer der sehr wenigen Führer, die im Atomzeitalter in einen Nachbarstaat einmarschierten. Einige Wochen später übertraf Putin Milošević, indem er die Krim formell annektierte, wie es Hussein mit Kuwait tat.
Putins Taktik lässt sich ohne Weiteres und zu Recht mit dem „Anschluss“ Österreichs und der Besetzung und Annexion des Sudetenlandes in der Tschechoslowakei durch die Nazis im Jahr 1938 vergleichen. Es gab die gleiche Rhetorik über den Schutz einer bedrohten Bevölkerung, die gleiche Propaganda voller Lügen, Rechtfertigungen und Anschuldigungen.
Einige Wochen später wurde die Krim gezwungen, ein Scheinreferendum über den Beitritt zu Russland abzuhalten, eine Abstimmung, die zu den vom Kreml bevorzugten Bedingungen stattfand, mit vorgehaltener Waffe und mit einem Ergebnis, das nie in Frage stand.
Das Verhandeln mit dem Territorium eines anderen Landes als Pfand hat eine lange Geschichte. Das offensichtlichste Beispiel stammt aus dem Jahr 1938, als Hitler gnädigerweise anbot, nicht die gesamte Tschechoslowakei einzunehmen, um im Gegenzug das Sudetenland zu erhalten, ohne dass Großbritannien und Frankreich sich beschwerten.
Putin als Gefahr für die Welt
Hätte Milošević das Friedensabkommen von Rambouillet /vom Februar 1999/ Monate früher akzeptiert, hätte er die Entstehung von über einer Million Flüchtlingen, den Tod Tausender unschuldiger Zivilisten und die Zerstörung Serbiens verhindern können. Präsident Milošević torpedierte dieses Abkommen mit der offenen Unterstützung Russlands, das die Präsenz einer internationalen Polizeitruppe im Kosovo kategorisch ablehnte.
Moskau ist zu einem Verbündeten von Unruhestiftern und antidemokratischen Herrschern in der ganzen Welt geworden. Nukleare Hilfe für den Iran, Raketentechnologie für Nordkorea, militärische Ausrüstung für den Sudan, Myanmar und Venezuela, Freundschaft mit der Hamas – so hat Putin es dem Westen heimgezahlt, dass er acht Jahre lang zu den Menschenrechten in Russland geschwiegen hat.
Es geht auch ganz anders. Siehe Russland im Vergleich zur Tschechoslowakei
Der Dramatiker Havel – der Künstler, der Träumer – lebte zwei Drittel seines Lebens unter einem kommunistischen Regime und wusste, dass die Freiheit mit allen Mitteln an allen Fronten erkämpft werden musste.
Havel leitete den Zusammenbruch der Tschechoslowakei, ohne dass ein Tropfen Blut vergossen wurde, als sich Jugoslawien mitten in einem schrecklichen Bürgerkrieg befand. Er schuf die Grundlagen für ein demokratisches Establishment, das frei von Verbindungen zur kommunistischen und KGB-Vergangenheit war, während Boris Jelzin es nicht schaffte, die fest verwurzelte Bürokratie, die Nomenklatura, auszumerzen, und seinem Land stattdessen einen KGB-Nachfolger hinterließ.
Prinzipien sind wichtig, Ergebnisse sind wichtig, und Havel hatte Erfolg wie nur wenige andere.
Ukraine
Er /Putin/ leugnete ein Jahr lang, dass es jemals russische Truppen auf der Krim gegeben habe, und beschrieb dann in einem russischen Dokumentarfilm, der am 16. März 2015 ausgestrahlt wurde, selbstbewusst die Entsendung Tausender russischer Spezialkräfte auf die ukrainische Halbinsel.
In einem Artikel in der französischen Zeitung Le Monde vom 24. Februar 2014 warnte ich, dass „Putin, wenn er nicht die ganze Ukraine vereinnahmen kann, auf ihre Teilung dringen wird“.
Die Ukraine… hat eine niedrigere Rate an antisemitischen Vorfällen als fast jedes andere Land in Europa, in dem Statistiken geführt werden, einschließlich Frankreich und Deutschland.
Putin wird erst dann nachgeben oder aus der Ukraine vertrieben werden, wenn glaubwürdige Drohungen gegen seine Macht zu einer Spaltung seiner Eliten und Berater führen. Im Moment haben sie keinen Anreiz, gegen ihn zu wetten.
Wenn sich die NATO-Staaten weiterhin weigern, der Ukraine die entsprechenden Waffen zu liefern, wird dies ein weiteres grünes Licht für Putin sein.
Putins Einmarsch in die Ukraine /2014! auf der Krim/ ist nicht mehr zu rechtfertigen, wenn man glaubt, dass er sich durch die NATO-Erweiterung bedroht fühlt, als wenn man nicht glaubt, dass er sich bedroht fühlt. Den Ukrainern zu sagen, sie hätten Putin provoziert, indem sie ihn zurückwiesen und sich auf Europa zubewegten, ist so, als würde man einer belästigten Frau sagen, sie solle längere Röcke tragen.
Der Westen und Russland
Warum war der Westen am Ende der 90 kein Vorbild mehr?
August 1991, als Boris Jelzin die Regierung übernahm, war die Mehrheit der Russen zu einer Partnerschaft mit der zivilisierten Welt bereit. Diese Stimmung war bis 1999 fast verschwunden, ein Opfer der anhaltenden nationalistischen Kampagnen der russischen Politiker.
Jelzins Reformteam, angeführt von Jegor Gaidar und Tschubais, begann mit einem rasanten Ausverkauf zu absurd niedrigen Bewertungen. Michail Chodorkowski und Boris Beresowski, ohnehin schon zwei der reichsten und einflussreichsten Oligarchen, erwarben ihre riesigen Energieunternehmen, Yukos und Sibneft, für weniger als 10 Prozent ihres tatsächlichen Wertes.
Wenn ich gefragt werde, ob Putin unvermeidlich war, sage ich deshalb, dass man zehn Jahre, bevor jemand seinen Namen kannte, anfangen muss. Als Jelzin Putin zum Thronfolger machte, verlangten die Russen nach Stabilität und suchten nach einem starken Mann, der den Kriminellen und den westlichen Einflüssen, von denen man ihnen sagte, sie würden dem Land und ihren Renten schaden, die Stirn bietet.
Die Russen sahen keinen Nutzen in den vermeintlichen Segnungen von Wahlen und freiem Markt.
/Aber:/ Bis zum Jahr 2000 hatten wir noch weitgehend freie Medien, mit Sendungen, die unsere Politiker und ihre Ideen offen kritisierten. Die brillante satirische Puppenshow Kukly hatte Jelzin jahrelang auf NTV karikiert. Die Regierung war nicht die heilige Kuh, die sie bald werden sollte.
Trotz der Herausforderungen lebten die Russen im Jahr 2000 in der gleichen Dimension wie der Rest der zivilisierten Welt, und wir maßen Erfolg und Misserfolg in unserem Leben mit den gleichen Maßstäben.
Es herrschte Chaos, aber Jelzin griff nie in die individuellen Freiheiten ein.
Wie Putins Russland seine Trümpfe ausspielt
Leider hatte und hat Putin, wie auch andere moderne Autokraten, einen Vorteil, von dem die sowjetische Führung nicht zu träumen gewagt hätte: ein tiefes wirtschaftliches und politisches Engagement mit der freien Welt.
Selbst nachdem westliche Firmen wiederholt von ihren russischen Partnern betrogen, bedroht und aus Partnerschaften oder dem Land geworfen wurden, kamen sie zurück und suchten weiter nach einem neuen Partner, wie geschlagene Hunde zu einem sie misshandelnden Herrn.
Putin wurde als vollwertiges Mitglied der G7 begrüßt, die die großen industriellen Demokratien vertreten soll. Diejenigen, die die Einladung mit der Größe und dem Einfluss Russlands begründen, sollten bedenken, dass China kein Mitglied ist.
Die heutigen Diktaturen haben das, wovon die Sowjets nicht einmal träumen konnten: leichten Zugang zu den Weltmärkten, um die Unterdrückung im eigenen Land zu finanzieren.
Hilfe für Russland
Bei den… bizarren Versuchen, einen alten Feind /die ehemalige Sowjetunion/ zu stützen, ging es um mehr als Rhetorik. Milliarden von Dollar an westlicher Hilfe und Kreditgarantien wurden bereitgestellt, um die UdSSR am Leben zu erhalten. Allein Deutschland gewährte ein 8-Milliarden-Dollar-Hilfspaket, das Teil des Vertrags über die deutsche Einheit war. Deutschlands finanzielle Verpflichtungen gegenüber Russland sollten sich bis 1992 auf 45 Milliarden Dollar belaufen und beinhalteten Gelder für die Heimkehr russischer Truppen und sogar den Bau von Wohnungen für sie in Russland.
Die Weltbank vergab ihr bisher größtes Projektdarlehen in Höhe von 610 Millionen Dollar, um den Wiederaufbau der russischen Ölindustrie zu unterstützen. Die Geschichte besagt, dass Russland vom Westen gedemütigt wurde, als die UdSSR zusammenbrach, was zu Ressentiments und Misstrauen führte. Es heißt, die Sieger des Kalten Krieges hätten Russland „verloren“, indem sie zunächst nicht genug Hilfe leisteten und dann die NATO zu aggressiv ausbauten.
Russlands vermeintliche Opferrolle
In Anatomy of Fascism beschrieb Robert Paxton in seiner knappen Definition „die Überzeugung, dass die eigene Gruppe ein Opfer sei, als ein Gefühl, das jede Aktion ohne rechtliche oder moralische Grenzen gegen ihre inneren und äußeren Feinde rechtfertige“. Der Mythos von der Demütigung Russlands durch westliche, insbesondere amerikanische, Kräfte passt perfekt in das Modell der Opferrolle.
Clinton behandelte Jelzin durchweg in gutem Glauben, versorgte Russland mit Geheimdienstinformationen über den Iran, begann mit der massiven Entmilitarisierung Europas und half sogar bei der Entwaffnung anderer ehemaliger Sowjetstaaten, um die russische Vormachtstellung zu sichern.
Die Ukraine gab unter starkem Druck Russlands und der Vereinigten Staaten das drittgrößte Atomwaffenarsenal der Welt auf.
Russische Rohstoffe: Waffe und Abhängigkeit
Europa kauft /2014/ vier Fünftel der russischen Energieexporte und verfügt damit über ein enormes wirtschaftliches Druckmittel gegenüber Putin, der die russische Wirtschaft vollständig von Öl und Gas abhängig gemacht hat. Doch anstatt offensiv alternative Versorgungswege zu entwickeln, um dieses Druckmittel gegen Russland einsetzen zu können, zaudert Europa und schimpft, wenn Putin Osteuropa mit der Gasversorgung erpresst, während der Winter naht.
/Bereits/ Januar 2009 hat Russland die Erdgaslieferungen an Hunderttausende von Menschen in der Hälfte der europäischen Länder unterbrochen.
Westliche Beschwichtigungs- und Vogel-Strauß-Politik
Die Doppelmoral, schwache Diktaturen zu verurteilen und gleichzeitig starke Diktaturen zu unterstützen, zerstört die Glaubwürdigkeit der USA und Europas und untergräbt jeden Versuch einer globalen Führungsrolle.
Putin ist immer schnell dabei, jede Gelegenheit zu nutzen, um sein autoritäres Vorgehen zu rechtfertigen, aber in vielen Fällen sind es die westlichen Politiker und die Presse, die versuchen, Putin zu entschuldigen und zu vermeiden, ihn als Diktator zu bezeichnen. Dies ist eine angeborene Stärke und Schwäche der freien Welt, der Wunsch, „fair und ausgewogen“ zu sein und „beide Seiten der Medaille“ zu zeigen, selbst wenn dies bedeutet, jemandem den Vorzug zu geben, der ihn schon seit über einem Jahrzehnt nicht mehr verdient.
Die westlichen Staats- und Regierungschefs haben bei jeder Gelegenheit gegen die potenziellen Kosten eines Eingreifens in der Ukraine protestiert, nur um dann mit der wohlbekannten historischen Tatsache konfrontiert zu werden, dass die Kosten der Untätigkeit immer weit höher sind /Richtig! Das ist, was wir seit Februar 2022 sehen/.
Westliche Verlogenheit: Krieg gegen Schwache, Zurückweichen vor den Starken
Das Eingreifen des Westens in den libyschen Bürgerkrieg hatte Lehren für andere Schurkenregime… Für den Iran hieß es: „Beeilt euch!“ Gaddafi hatte seine nuklearen Ambitionen schon vor Jahren unter großem Beifall der Weltöffentlichkeit aufgegeben.
In der Zwischenzeit konnte Kim Jong-il Tausende töten und tun, was er wollte, aber er war unantastbar, weil die Nordkoreaner alle „Inakzeptabel!“-Rufe der übrigen Welt ignoriert und ein paar Eimer nuklearen Dreck gezündet hatten.
Drei Jahre lang lief Präsident Obamas /Beschwichtigungs-)Politik gegenüber Russland darauf hinaus: „Wir geben, Russland bekommt.“
Die Ohnmacht der UNO
Die strikte Befolgung der UN-Resolutionen durch Präsident Bush im Jahr 1991 hat Saddam letztlich geschont – und /dadurch/ die Golfkrise auf unbestimmte Zeit verlängert /weil Vetos konzertierte Aktionen meist unmöglich machen/
Russische Opposition
In Russland versucht die Opposition nicht, Wahlen zu gewinnen; wir versuchen, /faire/ Wahlen /überhaupt/ abzuhalten.
Dissidenten im Westen
Jede Gesellschaft hat ihre Dissidenten, nicht nur Diktaturen. Sie sprechen für die Entrechteten, die Ignorierten und die Verfolgten. Hört ihnen jetzt zu, denn sie sprechen von dem, was kommen wird. /Das ist leider nicht immer wahr, siehe den beigefügten Artikel Stefan Nold – der unehrliche Dissident/
Dritter Weltkrieg?
Das Argument, wonach die einzige Alternative zur Kapitulation vor Putin der Dritte Weltkrieg sei, ist etwas für Einfältige. Es gab und gibt immer eine Reihe möglicher Reaktionen.
/Im Jahr 2014/ sagte Putin, er sei bereit gewesen, Russlands Atomwaffenarsenal wegen der Krim auf höchste Alarmstufe zu setzen. Er sagt so etwas, weil er weiß, welche Auswirkungen das im Westen haben wird.
… die Lieferung von defensiven militärischen Waffen hätte die derzeitige Invasion /der Ukraine im April und Mai 2014/ verhindert oder zumindest ihren Preis erheblich erhöht und damit die russische Öffentlichkeit viel früher zu einem Faktor im Entscheidungsprozess des Kremls gemacht. Diejenigen, die wie ich damals eine solche Hilfe forderten, wurden als Kriegstreiber bezeichnet, und die politischen Entscheidungsträger suchten erneut den Dialog mit Putin. Doch der Krieg kam trotzdem, wie immer, wenn sich Schwäche bemerkbar macht.
Was ist zu tun?
Wir müssen aufrichtig sein und eine überzeugende Haltung vertreten. Aber das bedeutet nicht, dass wir gewalttätige Extremisten oder diejenigen, die sie hervorbringen, im In- oder Ausland verhätscheln oder tolerieren. Eine offene Gesellschaft, die ihre Bürger nicht verteidigen kann, wird nicht lange offen bleiben. Eine Gesellschaft, die nicht für die Freiheit kämpft, wird sie verlieren, eine Wahrheit, die durch Reagans Aussage verewigt wurde, dass die Freiheit „nie mehr als eine Generation vom Aussterben entfernt ist“ /wie Donald Trump ja beinahe bewiesen hätte/.
Wenn sie /die westlichen Mächte/ meinen furchtlosen Freund /Boris Nemzow/ wirklich ehren wollen, sollten sie in aller Deutlichkeit erklären, dass sie Russland als das kriminelle Schurkenregime behandeln, das es tatsächlich ist, solange Putin an der Macht bleibt. Brechen Sie die Scheinverhandlungen ab. Verkaufen Sie Waffen an die Ukraine, damit sie Putins Aggression einen unerträglichen politischen Preis auferlegen /heute genauso gültig wie 2014/. Sagen Sie allen russischen Oligarchen, dass ihr Geld im Westen nirgendwo sicher ist, solange sie Putin dienen.
Die Ukraine sollte so verteidigt werden, als hätte sie eine gemeinsame Grenze mit jeder freien Nation der Welt. Das bedeutet, ihr Waffen zu liefern, mit denen sie ihre Grenzen verteidigen kann, und finanzielle Hilfe, um die Wirtschaft zu stabilisieren, die Putin mit aller Kraft zu zerstören sucht.
Als größte Volkswirtschaft, Militärmacht und Energieverbraucher der Welt ziehen die Vereinigten Staaten großen Nutzen aus der globalen Stabilität. (Während große Exporteure fossiler Brennstoffe wie Russland von der Instabilität profitieren, die den Ölpreis tendenziell in die Höhe treibt).
/Vergleich damit: Stefan Nold – der unehrliche Dissident/
Kommentar von Herrn Ing. Karl Ernst Ehwald
Lieber Gero Jenner,
leider kann ich mich mit den Auslassungen von Garri Kasparow nicht anfreunden. Gasparow ist ein genialer Schachspieler, aber sein Gesichtsfeld ist durch Hass getrübt und seine politischen Ansichten sind die einer auf westliche Freiheitsversprechen fixierten Gemeinschaft oppositioneller russischer Intellektueller, die sich gegenseitig in ihren Ansichten bestärken und vor den politischen brutalen Realitäten dieser Welt auf beiden Seiten des Konfliktes zum Teil die Augen verschließen…
Mit freundlichem Gruß
Karl Ernst Ehwald, Frankfurt (Oder)
Meine Replik:
Lieber Herr Ehwald,
von Hass habe ich in seinem Buch nichts bemerken können. Im Gegenteil, selbst gegenüber Putin bleibt er im Ton immer maßvoll, obwohl er die Verbrechen auflistet, die dieser Mann inzwischen verübt hat. Wenn das Ihrer Meinung nach bereits ein Zeichen von Hass ist, dann wären freilich nicht nur russische Oppositionelle grundsätzlich Hasser. Stellen Sie sich vor, man könnte der deutschen Regierung politische Morde nachweisen, wie würden Sie dann reagieren? Wäre ihr Aufschrei dann ein Zeichen von Hass?
Und, ja, freiheitsfixiert ist Kasparow auf jeden Fall, aber meiner Auffassung nach drückt sich genau darin eine demokratische Gesinnung aus. Im Übrigen haben Sie leider völlig recht damit – dass sich Feinde zunehmend ähnlicher werden – ich selbst habe das immer wieder betont. Anders gesagt, geschehen Verbrechen auf beiden Seiten. Aber es wird gefährlich, wenn man daraus eine Art von Gleichsetzung konstruiert.
Diese ist meiner Meinung nach nur in einem Punkt gerechtfertigt. Beide Supermächte – und inzwischen auch China – sind an dem historischen Endpunkt angelangt, wo es für jede von ihnen darum geht, entweder selbst eine globale Herrschaft zu begründen oder von ihren Rivalen an die Wand gedrückt zu werden. Diesen Endkampf erleben wir gerade – und natürlich sind dabei die unselige Ukraine – bald vielleicht auch ganz Europa – nur noch die Bauern auf einem Schachbrett.
Alles Gute
Gero Jenner