Für einen seriösen Denker empfiehlt es sich nicht, über „die Natur“ des Menschen zu reflektieren, denn solche Aussagen pflegen sich fast immer als spekulativ zu erweisen, meist sagen sie nur etwas über die Natur des jeweiligen Autors. Dennoch werde ich mit zwei Sätzen beginnen, die genau dies bezwecken: etwas über Grundtendenzen unserer conditio humana zu sagen. Ich verbinde damit die Erwartung, dass die weiteren Ausführungen meine These belegen.
1) Es gehört zur Natur des Menschen, dass er gerne gelobt, beachtet und gewürdigt wird.
2) es gehört zur Natur des Menschen, dass er es nicht gerne sieht und oft als kränkend empfindet, wenn nur andere gelobt, beachtet und gewürdigt werden – nicht aber er selbst.
Angenommen, dass beide Sätze allgemeine Gültigkeit besitzen, dann ist damit ein Grundproblem aufgezeigt, welches besagt, dass das Ideal der Gerechtigkeit nie ein für alle Mal realisiert werden kann, denn beide Sätze stehen in offenkundigem Widerspruch zueinander. Je mehr eine Gesellschaft der ersten Forderung nachgibt, umso stärkere Abstriche muss sie von der zweiten machen – und umgekehrt. Wir haben es mit einer Abwandlung des Widerspruchs von Freiheit und Gleichheit zu tun.
Wenn von Lob, Beachtung und Würdigung die Rede ist,
dann können diese natürlich auf ganz unterschiedliche Art und Weise erfolgen. Eine Würdigung kann aus einem bewundernden Blick, einem Händedruck, einem Bündel von Geldscheinen, einem ehrfurchtgebietenden Titel, einem hohen Einkommen, einer Medaille oder der Eintragung in das Buch der Rekorde bestehen. Gesellschaften haben Tausende unterschiedlicher Arten erfunden, um ihre Mitglieder einerseits zu bestrafen und sie andererseits zu belohnen. Robert Knox, im 17. Jahrhundert der Gefangene des Königs Rajasingha von Kandy (Ceylon), schreibt, dass unter den Adligen am Hof nichts so begehrt war wie ein hochtrabender Titel – je länger und blumiger, umso größer die Nähe zum König. Dabei wusste jeder, dass sein Leben umso stärker gefährdet war, je näher er der Majestät rückte. Der höchste Titel war eine Garantie, auf Geheiß des bösartigen Herrschers für irgendein, oft ganz fiktives Vergehen von Elefanten zertrampelt zu werden. Das geschah regelmäßig, und alle wussten es – und trotzdem strebten alle Adligen nach Titeln: je bombastischer umso besser, und alle wollten dem König so nah wie möglich kommen. Es war wie die Faszination der Motten durch das Licht.
An dem Bedürfnis, sich vor anderen ins Licht zu stellen,
hat sich bis heute nichts geändert. Es liegt allem Wettbewerb zugrunde. Andererseits ist das Bedürfnis, von anderen als gleichwertig geschätzt, nicht missachtet und als minderwertig gekränkt zu werden, mindestens ebenso stark in uns verankert. Es liegt der Kooperation zugrunde, welche nur möglich ist, wenn der einzelne sich in seiner Rolle – wie auch immer diese beschaffen ist – von anderen gewürdigt sieht. Zwischen den beiden Extremen eines die Menschen in fortwährendem Kampf gegeneinanderhetzenden (aggressiven) Wettbewerbs und einer Kooperation, welche wie in einem Ameisenstaat jedem eine bestimmte Aufgabe zuerteilt, pendeln Gesellschaften hin und her.
Die Befreiung des einzelnen durch die Industrielle Revolution
seit dem 18. Jahrhundert hat einer immer größeren Zahl an Menschen die Möglichkeit verschafft, aufgrund von eigener Leistung, eigenem Können, eigener Intelligenz und Zielstrebigkeit anerkannt und gewürdigt zu werden – in der Regel unmittelbar durch höheren Gelderwerb. Was anfangs Befreiung war, hat aber schnell zu wachsender Ungleichheit geführt, weil die Tüchtigsten (und nicht selten die Rücksichtslosesten) immer mehr vom gemeinsamen Kuchen für sich zu beanspruchen vermochten. Geld, Anerkennung und Macht konzentrierten sich in immer weniger Händen und machten die anfängliche Befreiung wieder zunichte – man nennt das Refeudalisierung. Anders gesagt, wurden dem einzelnen durch den Wettbewerb zunächst größere Freiheit verschafft, die er aber danach immer mehr einbüßte, weil die Übermacht einer kleinen Zahl ihn zu einer Ohnmacht verdammt, die er als zunehmende Kränkung seines Selbstwertgefühls erfährt (These 2). Die USA, wo sich Einkommen und Vermögen auf das oberste ein Prozent konzentrieren, sind auf diesem Wege besonders weit fortgeschritten.
Die Konzentration von Macht, Vermögen und Anerkennung
in wenigen Händen hat nie einen stabilen sozialen Zustand ermöglicht – schon gar nicht in einer Zeit wie der unsrigen, die sich aufgrund ihrer außerordentlichen organisatorischen und technologischen Komplexität so leicht durch Sabotage destabilisieren lässt. Daher übt die Vorstellung einer Gesellschaft so große Anziehungskraft, in der niemand Kränkung erleiden muss, weil alle den gleichen Zugang zu Anerkennung und sozialer Würdigung genießen.
Der christliche Urkommunismus
und viele Sekten der verschiedensten Religionen haben Gleichheit in geistiger und materieller Hinsicht als Ideal gepredigt und in kleineren Gemeinschaften auch durchzusetzen vermocht. Marx und neuerdings Thomas Piketty haben sie für alle Gesellschaften, ganz gleich welcher Größe, gefordert. Mao blieb es vorbehalten, das Ideal mit den Mitteln nicht nur der ideologischen Propaganda sondern der physischen Macht durchzusetzen. Wie bekannt wurden dem Experiment Millionen von Toten geopfert. Dieses verlief deshalb so besonders blutig, weil es dem unter These 1 genannten Bedürfnis widersprach, einem Bedürfnis, das seinerseits auf dem Faktum gründet, dass die Menschen verschieden sind und es daher als unzumutbar empfinden, wenn man ihnen geistig wie materiell denselben Lebensstil aufzwingen will.
Das Bedürfnis nach Selbstverwirklichung
erklärt die Explosion kreativer Fähigkeiten kaum dass Deng Xiao Ping den Chinesen in den 80er Jahren erlaubte, die maoistische Zwangsjacke abzuwerfen. Jeder sah sich auf einmal aufgefordert, sein Wissen, sein Können, seine Durchsetzungskraft zu entfalten (solange er damit nicht in Widerspruch zu den Zielen des Staates geriet). Nicht anders als in Europa zu Beginn der Industriellen Revolution war dies ein Akt der Befreiung, der die Welt augenblicklich und machtvoll veränderte.
Aber auch in China
(nicht nur in den USA und in Europa) ist die Zahl der Milliardäre in kurzer Zeit sprunghaft angestiegen. Auch dort droht die anfängliche Befreiung eine Kaste von Superreichen hervorzubringen, die den Aufstieg ihrer Mitmenschen durch ein Übergewicht an Macht, Einfluss und Finanzkraft immer stärker behindern. Diese Kaste ist bereits auf dem Weg, denselben Pfad der Refeudalisierung einzuschlagen, den das obere ein Prozent in den USA schon sehr weit gegangen ist.
Warum ist es so ungeheuer schwierig, in der Mitte haltzumachen und beide Bedürfnisse miteinander in Einklang zu bringen: das Bedürfnis nach Kooperation und das Bedürfnis nach Wettbewerb? Warum dieses ewige Hin und Her zwischen extremer Ballung von Reichtum, denen dann blutige soziale Revolutionen folgen, die für eine Neuverteilung sorgen?
Die klassenlose Gesellschaft
Theoretisch ist das Problem ja erstaunlich leicht zu lösen. Schon Plato hatte vorgeschlagen, den Eltern die Kinder wegzunehmen, wie man dies ja in Sparta zu seiner Zeit praktizierte. Unter dieser Voraussetzung beginnt jede Generation von neuem. Denn jedes Kind soll genau jene Stellung einnehmen, die ihm aufgrund seiner Fähigkeiten gebührt. Erbschaften, die unfehlbar zum Entstehen von Klassen oder gar Kasten führen, dürfen nicht von den Eltern an die Kinder weitergegeben werden. Gewiss, Sparta war einer der schlimmsten Unrechtstaaten der Weltgeschichte, denn den Reichtum der oberen fünf Prozent frei geborener Spartaner mussten 95 Prozent rechtloser Heloten erwirtschaften. Aber das Prinzip der sozialen Bestimmung allein aufgrund individueller Fähigkeiten bleibt davon unberührt. Würden wir ein solches System auf die heutige Zeit übertragen, dann brauchten wir uns über Refeudalisierung und das eine allbeherrschende Prozent an der Spitze des Staats keine Sorgen zu machen. Marx, Piketty und Mao müssten keine klassenlose Gesellschaft fordern, weil diese dann von selbst auf ganz natürliche Weise zustande käme: Talent und Können sind in jeder Generation ja auf andere Köpfe verteilt. Und natürlich müssten wir nicht einmal Plato folgen und die Grausamkeit begehen, den Eltern die eigenen Kinder wegzunehmen. Es genügt, die Erbschaftssteuer auf hundert Prozent heraufzusetzen, um denselben Effekt zu erreichen: eine klassenlose Gesellschaft.
Doch auch dieses bescheidenere Ziel wurde niemals erreicht,
und zwar deswegen nicht, weil es wiederum zu einem menschlichen Bedürfnis in Widerspruch steht, das sich nicht unterdrücken lässt: der Fürsorge der Eltern für ihre Kinder. Jeder normale Mensch hält es für selbstverständlich, dass die Eltern die eigenen Kinder mit Liebe behandeln, wobei Liebe nicht nur in guten Worten sondern in allen möglichen Zuwendungen materieller Art besteht. Es wurde immer als widernatürlich und als extremer Mangel an Liebe gesehen, dass ein Vater seine Kinder enterbt.
Das ist das eine. Andererseits aber halten wir es für ungerecht, dass jemand nur deshalb, reich, angesehen, einflussreich ist, weil er die Voraussetzungen dazu als Erbe von seinen Eltern empfing. Hier haben wir es demnach erneut mit einem Widerspruch zu tun, der in der Natur des Menschen liegt. Und wiederum sehen wir Gesellschaften zwischen zwei Extremen pendeln. Einige ganz wenige – vor allem kleinere Gemeinschaften und Sekten – lehnen alle unverdienten Begünstigungen durch Erbschaften ab, dazu gehörte Sparta. Aber in bevölkerungsreichen Gesellschaften hat sich diese Strategie als undurchführbar erwiesen. Denn die Aussicht, nicht nur für das eigene Ego zu arbeiten sondern die ganze Familie, die eigenen Kinder und Enkel daran teilhaben zu lassen, scheint einer der mächtigsten Handlungsantriebe zu sein, während umgekehrt die sichere Aussicht, das alles mit dem eigenen Tod an den Staat oder an andere unbekannte Menschen zu verlieren, die eigene Initiative zu lähmen droht.
Wir dürfen uns daher nicht wundern, dass es auch in diesem Fall äußerst schwierig ist, das richtige Gleichgewicht zu finden. Ideale wurden bisher nur in Gesellschaften verwirklicht, die wir nachträglich als unmenschlich bewerten; das gilt für den Kommunismus in Sparta und unter Mao und für den neoliberalen Kapitalismus in den USA von heute. Jede Gesellschaft versucht aufs Neue, den richtigen Abstand zwischen den Extremen zu finden, aber keine hat bisher eine endgültige Lösung entwickelt. Das Problem der Gerechtigkeit begleitet den Menschen durch seine ganze Geschichte.
** Das Gebot der Gleichheit in Sparta hatte seinen offensichtlichen Grund. Eine herrschende Minderheit von etwa fünf Prozent kann eine versklavte Mehrheit von 95 Prozent nur dann dauerhaft unterjochen, wenn sie innerhalb der eigenen Reihen keinen Dissens aufkommen lässt. Gleichheit der freien Spartaner war daher das erste Gebot, um die Ungleichheit der anderen aufrechtzuerhalten. Wir fühlen uns an das Vorgehen von Staaten in Kriegszeiten erinnert. Wenn sie in ihren Bürgern die Bereitschaft wachrufen wollen, sich für das Vaterland zu opfern, sehen sich herrschende Kreise genötigt, ihnen mehr Rechte einzuräumen – eine Konzession, die in Friedenszeiten dann schnell wieder vergessen wird.
Knox, Robert (??): An Historical Relation of the Island Ceylon. (1681) Public Domain Book.