Ein Apfelbäumchen wollte Luther noch pflanzen, selbst wenn die Welt untergeht. Er hatte Recht damit. Jeder lebt ein nahes Leben, wo es Gärten und Freunde und blühende Bäume gibt. Er wäre krank, würde er sich dauernd darüber Gedanken machen würden, was mit der Welt als ganzer geschieht. Die Runde im pestverwüsteten Florenz, die Boccaccio im Decamerone beschrieb, feierte das nahe, das immer noch schöne Leben, als die Welt gerade – wieder einmal – dabei war, im Schrecken unterzugehen.
Doch das liefert gewiss keine Entschuldigung für die Feste der Plapperhälse. Plapperhälse, das sind jene, deren Blick sehr wohl auf das große Ganze gerichtet ist, die aber ihre Aufgabe darin sehen, die Gefahren zu verniedlichen, zu behübschen und es sich dann in rosa Scheinwelten biedermeierlich gemütlich zu machen. Eine solche Veranstaltung war kürzlich in Ö1 (Österreichischer Rundfunk) zu bestaunen, aber sie läuft in ähnlicher Art inzwischen tausendfach über den Äther. Da wurde ein bunter Haufen von alternativ Denkenden danach gefragt, wie sie sich die Welt von 2035 vorstellen.
Oh, es kam ein Bild von barocker Scheinwirklichkeit dabei heraus, lauter Gips, innen hohl und das ganze aus empfindsamer Seele geschöpft. 2035, so wurde uns weisgemacht, würden wir das ersehnte irdische Paradies endlich betreten. Die Unternehmer würden sich gegenseitig umarmen; jeder gönnt dem anderen den Gewinn oder vielmehr erscheint jedem schon das Streben danach als unanständig. Denn der Wettbewerb ist passé. Die Löwen dieser Welt haben ihre Krallen freiwillig eingezogen, und die Schafsherde, also das Volk, hat alle Furcht vor ihnen verloren. Sollte eine Raubkatze zwischendurch doch einmal brüllen, so streichelt Herr Felber, inzwischen ein Weiser mit wallendem Bart, ihr beschwichtigend über die Mähne.
Diese Sendung war das Werk empfindsamer Plapperer. So ins Niedliche wurde alles verkitscht, dass uns 2035 als Jahr der Freuden erscheint. Mit anderen Worten, die Behübscher haben sich von jenen missbrauchen lassen, die in Brüssel pro Tag 3 Millionen Euro (Harald Schumann) dafür bezahlen, dass die Welt in Rosa gemalt wird. Drei Millionen pro Tag geben die Lobbyisten von Industrie und Finanz dafür aus, dass die Brüsseler Institutionen positiv denken und am Privileg nicht gerüttelt wird. Ich nehme an, der ORF hat den alternativ Denkenden nichts bezahlt, die haben sich freiwillig korrumpieren lassen. Gratis haben sie sich in den Dienst des sogenannten positiven Denkens gestellt.
Ich sage nichts gegen diejenigen, die ihren Garten und die Blumen darin kultivieren. Zu dieser Weisheit hatte schon Candide gefunden, als er am Ende aller Schrecken zu der Einsicht gelangte: „Il faut cultiver son jardin.“ Es ist nicht wahr, dass wir beständig, mit den Leidenden in aller Welt zittern müssen. Denn es gibt sehr wohl ein wahres im falschen Leben. Das ist das Leben der Nähe, in das wir uns zurückziehen dürfen, wenn wir vergessen und den Augenblick einfach genießen wollen. Denn das ist das Urprinzip allen Lebens. Es ist dieselbe Kraft, die den Vogel Phönix nach allen tödlichen Feuern immer wieder unversehrt aus der Asche aufsteigen lässt.
Doch wenn wir die Augen auf die Welt um uns richten, dann müssen wir den Anblick auch aushalten können, und nicht vor lauter Angst wegplappern wollen, was wir da sehen. Andernfalls machen wir uns zu Betrügern an uns selbst und den anderen. In Prosperity without Growth zeigt Tim Jackson, dass die Wirtschaft im Jahr 2100 ganze zweihundert Male größer als noch vor fünfzig Jahren sein müsste, damit eine Menschheit von 9 Milliarden denselben Lebensstandard wie die Europäer genießt. Jedem dürfte klar sein, dass damit das Todesurteil für den Planeten gesprochen wäre. Doch genau auf diesen Tod streben wir hin, weil die „Internationale der Gläubiger“ ihr Geld nur dann zur Verfügung stellt, wenn es die erwünschte Rendite abwirft – und zu diesem Zweck muss entweder mehr produziert werden oder billiger. Im ersten Fall wird die Natur jeden Tag stärker belastet, weil das Ziel der Mehrproduktion einen galoppierenden Verschleiß an Rohstoffen nach sich zieht. Im zweiten Fall unterliegt sie aber derselben Attacke, weil zur Verbilligung der Produktion die Entlassung von Arbeitskräften gehört. Gegen diese aber gehen die Regierungen mit Wachstum an, also mit noch und noch größerem Naturverschleiß. Ja, so sieht die Realität im Jahr 2035 tatsächlich aus! Am Ende eines apokalyptischen Wettlaufs um Ressourcen, Wachstum und Märkte könnten wir uns alle im Abgrund wieder finden.
Was soll man angesichts dieser drohenden Apokalypse von der biedermeierlichen Runde empfindsamer Plapperhälse denken, die den Blick auf das Furchtbare nicht auszuhalten vermögen und Feste der Selbstbelügung aufführen?
Man verstehe mich recht. Ich sage nichts gegen die Maßnahmen, welche die Welt in unserer Nähe verbessern. Nichts gegen Komplementärwährungen. Die können das Gemeinschaftsgefühl vor Ort wesentlich fördern, nichts gegen die Naturschützer, die sich für Frösche und Reiher einsetzen oder gegen Protestmärsche der Vernünftigen, die einen unsinnigen Bahnhof verhindern. Wenn sie dabei etwas erreichen, haben sie – jeder für sich – einen wichtigen Sieg erfochten. Ich sage nur etwas gegen diejenigen, die uns weismachen wollen, dass wir auf diese Weise das Menetekel abwenden und 2035 uns unverhofft mit dem Mirakel einer veränderten Welt beglückt.
In Wahrheit geschieht doch etwas ganz anderes: Die Empfindsamen haben sich korrumpieren lassen. Sie üben sich in Vogel-Strauss-Manieren, indem sie die Augen vor der Wirklichkeit schließen. Denn die Wirklichkeit redet eine ganz andere Sprache. Alle Anzeichen, alle Indikatoren und nicht zuletzt die unausgestandenen Krisen deuten menetekelgleich darauf hin, dass wir in eine Epoche der Ressourcenkriege, der Hungersnöte und der ökonomisch-politischen Krisen schlittern.
Gewiss, auch im Jahr 2035 wird es ein Ende des Winters geben, und die Menschen wachen im Frühling auf, und irgendjemand wird wie im Hohen Lied die Schönheit der Lilien besingen. Das Glück der Nähe wird selbst dann noch so intensiv und so wahr sein, wie es schon der Sänger von Assisi erlebte, denn, vergessen wir nicht, auch schon damals war die Zeit aus den Fugen geraten.
Doch wenn wir den Vorsatz fassen, den Blick ins Jahr 2035 zu werfen, dann dürfen wir ihn uns nicht mit Scheuklappen versperren. Sonst müssten wir bald dasselbe Bekenntnis ablegen wie die Menschen nach 1945 in Deutschland. „Warum haben wir die Realität damals immer nur in Pastellfarben gemalt und uns eingebildet, es genüge, sie anders zu sehen, damit sie auch anders wird?“ Genau das tun die empfindsamen Biedermeier auch heute und täuschen auf diese Weise darüber hinweg, dass das Unheil längst auf dem Vormarsch ist. Anders als vor 45 ist es diesmal allerdings kein einzelner Verbrecher, nicht einmal eine Kaste von solchen, die uns bedrohen. Vielmehr werden wir von der anonymen und weitgehend gesichtslosen Dynamik eines Systems überrollt, das jedem die Möglichkeit gewährt, sich zu bereichern, aber diejenigen, die dabei ganz vorne liegen, in so starkem Maße begünstigt, dass der Abstand zum Rest der Bevölkerung schnell unüberbrückbar und unaufholbar wird.
Es ist eine Krise der sich dramatisch zuspitzenden Ungleichverteilung, deren negative Folgen für die Bevölkerungsmehrheit in einem fallenden Lebensstandard bis zur Armut bestehen. Und diese Entwicklung lässt sich nur durch eine für den Planeten tödliche Medizin abmildern, nämlich Wachstum, Wachstum und nochmals Wachstum.
Nein, niemand soll uns das Glück der Nähe zerreden. Das ist der Garten, den jeder in seinem eigenen Umkreis zu kultivieren sucht. Sobald wir aber den Blick in die Weite richten, müssen wir auch den Mut aufbringen, die großen Probleme zu sehen. Diese Probleme sind ganz einfach und zu gleicher Zeit sind sie ungeheuer komplex. Gegen die Zerstörung des Planeten durch ein pathologisches Wachstum hilft nur ein Wachstumsstop und gegen den Sog der Ungleichverteilung hilft nur eine entschiedene Begrenzung der Vermögensakkumulation. Das Problem ist einfach, weil wir beides schon dann in den Griff bekommen, wenn wir nur bei einem dieser zwei Übel ansetzen. Man könnte meinen, das wäre der Schutz der Umwelt, weil wir eine heillos zerstörte Natur nie wieder herstellen können, während die Gesellschaft sich immer wieder selbst regeneriert. Doch das wäre ein falscher Ansatz. Die Vermögensakkumulation ist der entscheidende Hebel. Gelingt es uns, diese aufzuhalten, dann haben wir zugleich auch das Problem des Wachstums gelöst – oder zumindest weitgehend gelöst. Denn wir haben den Druck des großen Geldes von der Wirtschaft genommen. Das große Geld ist die Peitsche, die ihr beständig im Nacken sitzt. Das ist der Druck, der sie permanent dazu treibt, mehr und/oder billiger zu produzieren.
Aber was tun gegen die Akkumulation der Vermögen? In Wohlstand und Armut begründe ich, warum hier nur zwei Lösungen in Frage kommen. Einerseits die marxistische der konsequenten Enteignung (der Produktionsmittel). Nach allem, was die Geschichte lehrt, ist sie mindestens gleich gefährlich wie das Übel, das sie beseitigen soll (und außer unter dem Blutherrscher Mao nirgendwo wirklich beseitigt hat). Eine derartige radikale Enteignung läuft immer auf Revolution, also auf Krieg, und Diktatur hinaus. Auch wenn Christian Felber das Gegenteil behauptet (Gemeinwohl. S. 145, allerdings ohne sich eindeutig für oder gegen die Marxsche Therapie zu entscheiden), gibt es keinen demokratischen Kommunismus. Marx selbst forderte die Diktatur (des Proletariats). Über das Absterben des Staates, das darauf angeblich folgen soll, hat er sich bekanntlich nicht ausgesprochen.
Es gibt aber noch eine zweite Lösung, und diese bietet tatsächlich die Chance einer echt demokratischen Realisierung. Sie lässt die Mehrheit darüber entscheiden, wie weit die Bereicherung einzelner gehen darf, ohne die Funktionsfähigkeit des Systems zu gefährden. Diese Lösung gewährt dem einzelnen ein Maximum an Freiheit, soweit diese im Einklang mit dem Gemeinwohl steht. Sie befreit die persönliche Arbeit und Leistung von aller Besteuerung, setzt aber beim Konsum an und beim erworbenen Vermögen, um beide progressiv zu belasten und dadurch die Last von der Umwelt und von der Gesellschaft zu nehmen.
Der Einwand auch gegen diese Lösung liegt auf der Hand. Wird nicht auch sie dem verbissenen Protest jener begegnen, denen man notwendig etwas nehmen muss, damit das System wieder ins Gleichgewicht kommt? Das wäre, so meine ich, vorläufig ganz gewiss der Fall, aber wohl nicht mehr lange.
Ich möchte diese Auffassung mit einem Blick auf die herrlichen Golfplätze beweisen, die auf der ganzen Welt zum Refugium für die erfolgreichsten unter unseren Mitmenschen wurden. Golfplätze sind gewöhnlich ein Fest für die Augen, ein Eldorado herrlichster Landschaften, wie sie sich nur das große Geld leisten oder hervorzaubern kann. Ja, wer Geld hat, der flüchtet auf diese Oasen, der lässt die Seele baumeln, kann dort zum Mystiker werden oder mit Franz von Assisi ein Lied an Bruder Sonne singen.
So scheint es jedenfalls, wenn man eine robuste Natur, vor allem aber eine wenig empfindliche Nase hat. Nein, ein Franz von Assisi wird dort gewiss nicht singen. Es würde ihm den Atem verschlagen und das Lied ihm im Halse stecken bleiben. Ich habe mich umgesehen. Meine Nase weiß, wovon ich rede. Auf diesen Plätzen feiert man die Schönheit der Natur, aber alles Leben wird auf ihnen niedergespritzt, niedergeätzt, zu Tode geknüppelt. Kein Veilchen wagt sich auf einem Rasen hervor, der auf den Millimeter genau gestutzt ist. Kein Maulwurf überlebt hier, keine Wühlmaus hat eine Chance. Mit Pestiziden, Bakteriziden, Herbiziden, Rodenticiden, Floriziden, Bioziden wird alles systematisch ausgerottet. In jedem dieser „-Zide“ verbirgt sich der Tod. Die Gifte wabern und lagern über den Büschen, sie breiten sich unsichtbar in den Sandkuhlen aus, sie durchfeuchten die Rasenflächen. Wie eine alles einhüllende Dunstglocke liegen die Todesschwaden über diesen Oasen der Schönheit und Ruhe. Bald wird man gelbe Schilder in ihrem Umkreis aufstellen müssen: „Achtung, krebserzeugend.“
Man darf davon ausgehen, dass die reichsten Mitbürger in unserer Mitte vor allem deswegen so reich und erfolgreich sind, weil zumindest einige von ihnen eine überdurchschnittliche hohe Intelligenz aufweisen. Und aufgrund dieser Intelligenz werden sie ihre künstlichen und vergifteten Paradiese bald aus eigenem Antrieb verlassen. Bei Golfplätzen ist das spätestens dann der Fall, wenn man Gasmasken aufsetzen muss, um es in ihnen auszuhalten. Doch selbst in ihren eigenen vier Wänden, in ihren Villen und Herrschaftssitzen, werden sie in Zukunft wohl nicht mehr froh werden können. Was nützt ihnen das große Vermögen, wenn sie selbst und ihre Kinder einen bewaffneten Personenschutz brauchen oder gezwungen sind, sich hinter stacheldrahtbewehrten Enklaven gegen das Volk abzuschirmen?
Spätestens dann nämlich werden sie begreifen, dass ihr Gewinn auf Schein beruht. Spätestens dann werden sie ganz von selbst zu der Einsicht gelangen, dass es eine verblüffend einfache Lösung gibt. Wir, sie – also alle zusammen, denen an einem friedlichen Gemeinwesen gelegen ist – brauchen nur die Regeln des Spiels zu ändern! Warum schaffen wir nicht den Bio-Golf, wo Wühlmäuse und Maulwürfe mit von der Partie sein dürfen und die Lilien auf dem Felde nach Lust und Liebe blühen, jene Lilien, die schon die Dichter des Hohen Lieds mit ihrer Schönheit begeisterten? Unsere reichen Mitbürger werden ganz von selbst darauf kommen, dass ein Bio-Golf ohne Gasmaske und Krebsrisiko das Paradies ist, das sie wirklich suchten.
Und sind sie einmal zu dieser Einsicht gelangt, wird es ihnen auch keine Mühe bereiten, eine Bio-Ökonomie zu akzeptieren: eine grüne Wirtschaft der Nachhaltigkeit, eine humane Eigentums- oder Gemeinwohlwirtschaft – oder wie immer wir sie dann nennen wollen.