Es ist wohl unserer Primatennatur geschuldet, dass große Gefühle so oft mit dem Triumph über Feinde verbunden sind. Die Ilias ist ein Heldengesang, wo mit höchstem Aufwand an dichterischer Inspiration die blutigsten Siege gefeiert werden. Kein Wunder also, dass der neue russische Zar seine Landsleute seinerseits auf die uralten Gefühle einschwört. Immer öfter hört man aus seinem Mund, wie heldenhaft das russische Volk sich gegen den Faschismus gewehrt und ihn schließlich überwunden habe. Endlose Paraden, endlose Beschwörungen. Man sieht es den Gesichtern der jungen Soldaten und steinalten Veteranen an, wie ihnen die Gänsehaut kommt, wenn sie an die glorreichen Tage denken …
Und natürlich lässt Putin die Gelegenheit nicht aus, den Westen anzuklagen, der es ganz offensichtlich in boshafter Absicht unterlässt, den Russen dafür zu danken, dass sie es waren, die den Sieg über Hitler und den Faschismus ermöglicht haben. Ohne die rote Armee wäre es den westlichen Mächten nie gelungen, Hitler zu überwunden. Die bei weitem größten Opfer seien schließlich auf ihrer Seite erbracht. Diese Wahrheit werde in der westlichen Propaganda, in den Medien und in Volksbefragungen beharrlich verschwiegen. Da könne man immer nur hören und lesen, dass der Sieg über die Pest des Faschismus dem Westen zu danken sei.
Das große Talent des russischen Präsidenten besteht in der Kunst, Wahrheit und Lüge auf so subtile Art miteinander zu amalgamieren, dass das eine vom anderen am Ende kaum noch zu trennen ist. Denn er hat ja durchaus Recht – kein Historiker würde das ernsthaft bestreiten – dass Hitler an der russischen Abwehr gescheitert ist und dass dieser Sieg weit größere Opfer von den Russen gefordert hat als von den Alliierten. Für die Sowjets war es überdies ein gerechter Krieg, denn ihr Land wurde ohne alle russische Provokation auf brutale, durch nichts zu rechtfertigende Art von Deutschland überfallen. Hätte Hitler nicht noch weit fürchterlichere Verbrechen begangen, so wäre dies allein schon genug, um ihn nicht nur als Unhold in die Geschichte eingehen zu lassen, sondern zudem noch, wie Sebastian Haffner sagt, als den größten Feind der Deutschen. Er hat das Verhältnis zu ihren russischen Nachbarn, das aufgrund kultureller Gemeinsamkeiten oft genug freundschaftlich eng und von gegenseitigem Verständnis geprägt war, auf hinterhältige Weise geschädigt.Eine solche Schädigung fand nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion dann noch einmal statt. Der Westen hat damals die einmalige Chance versäumt, dem Land mit tatkräftiger Kooperation zu helfen. Stattdessen wurde Russland in den neunziger Jahren, wo es daniederlag, mit unverkennbarer Häme gedemütigt – vor allem von Seiten der USA.
Das erklärt das Verhalten Putin, rechtfertigt aber nicht die von ihm zu politischen Zwecken betriebene Fälschung der Geschichte. Denn diese geschieht ganz bewusst – ich halte den russischen Präsidenten für viel zu intelligent, um seinen eigenen Parolen zu glauben. Oder sollte er die Geschichte wirklich so schlecht kennen, dass ihm die entscheidende Rolle des Westens bei der Niederschlagung des Nationalsozialismus entgeht?Tatsache ist, dass ohne die Alliierten nur eine Diktatur die andere abgelöst hätte; eine staatliche Mafia – das Regime Stalins – wäre an die Stelle einer anderen getreten. Dagegen war es die Hoffnung auf Freiheit, welche Europa erlöste: die Verheißung einer Rückkehr der politischen, ökonomischen, sozialen Selbstbestimmung, also alles dessen, was es unter Stalin ebenso wenig wie unter Hitler gegeben hatte. Gewiss, haben die Russen sich heldenhaft gegen einen heimtückischen Überfall gewehrt – das uralte Recht jeder angegriffenen Nation -, aber für die Freiheit war damit noch nichts gewonnen. Das sowjetische System ist ebenso über Millionen von Leichen geschritten wie das nationalsozialistische.
Deswegen hat die Sowjetunion, so siegreich sie war, nirgendwo die Menschen vom Faschismus „befreit“. Sie hat nur dafür gesorgt, dass die Freiheit eine offene Tür vorfand. Dafür können ihnen die von den Nazis überfallenen Völker dankbar sein, aber auch wirklich nur dafür allein. Überall dort, wo die Sowjets selbst zur Besatzungsmacht wurden, haben sie das Erbe der Besiegten übernommen, indem sie die Freiheit ihrerseits mit Panzern platt walzten. Wenn das gegenüber Gorbatschow mündlich abgegebene Versprechen, die NATO nicht weiter nach Osten auszudehnen, so schnell gebrochen wurde, dann aus der immerhin verständlichen Angst des östlichen Europa, neuerlich unter die Knute ihrer „Befreier“ zu geraten.
Das ist Geschichte, die jedermann kennt – natürlich auch Putin. Trotzdem arbeitet er beharrlich an dem Projekt, die Vergangenheit der Sowjetunion nachträglich rein zu waschen, so als wäre es ein liberaler, freiheitsliebender Stalin gewesen, der die Zukunft des Alten Kontinents damals in glücklichere Bahnen lenkte. Aber wie es in Wirklichkeit war, dazu hat Hannah Arendt schon alles gesagt. Dennoch scheint es nötig zu sein, in den Zeiten einer neuerlich auflebenden Propaganda, die keine Scheu vor den dreistesten Lügen kennt, ihre zentrale These zu wiederholen. Die Sowjetunion war ein totalitärer Unrechtstaat, nicht anders als das Naziregime. Das Individuum zählte nichts, es wurde zu Millionen geopfert, wenn die Staaträson oder – richtiger gesagt – der Wille eines misstrauisch rachsüchtigen Diktators an seiner Spitze, das für richtig befand. Beide Regime waren skrupellos mörderisch.
Ein Unterschied allerdings spricht auf den ersten Blick für das Sowjetregime – das kommunistische Ideal einer Brüderschaft aller Menschen war von transzendenter Reinheit – es hätte dem Neuen Testament entlehnt sein können. Die Naziideologie dagegen erschien von vornherein atavistisch: es zerteilte die Menschheit in WIR und die ANDEREN. Dieser Unterschied war es, der einen Großteil westlicher Intellektueller – selbst einen Mann wie Arthur Koestler, der darüber später selbstkritisch Rechenschaft ablegte – dazu verleitete, den Sowjets so lange zu glauben. Viele Intellektuelle sahen nicht oder wollten nicht sehen, dass der Gegensatz „WIR und die ANDEREN“ im real existierenden Sozialismus eine ebenso fürchterliche Fratze besaß: Wir, das waren die linientreuen Parteisoldaten, die an der Spitze des Staats alle Vorteile der Nomenklatura genossen; die ANDEREN, das waren die Ungläubigen, die das Regime zu Hause und in der übrigen Welt ausschalten durfte und musste. Totalitarismus ist, wenn man das Paradies herbeimorden will.
In letzter Zeit hört man Putin eindringlich davor warnen, die Geschichte zu fälschen. Viele sind naiv genug, ihm zu glauben, weil sie nicht sehen, dass dies die Taktik aller Wölfe ist, die sich in einem Schafspelz verkleiden. Die anderen anklagen für das, was man selber vorhat – wer wüsste nicht, dass diese Strategien von jeher zum Operationsbesteck gewiefter Demagogen zählt? Vor der Krise von 2007 wäre Putin damit im Westen allerdings auf taube Ohren gestoßen; die Leute hätten den Kopf geschüttelt. Inzwischen gibt es aber nicht nur Putinversteher, sondern eine breite Putingefolgschaft.
Nicht etwa deshalb, weil der russische Präsident selbst sich geändert hätte. Von Anfang an wollte er Russland stärken. Dass er sich dazu aller verfügbaren Mittel bedient, wird man ihm schwer vorwerfen können. Die Erklärung für den Erfolg solcher Geschichtsfälschungen ist deshalb auch gar nicht bei Putin selbst zu suchen. Nicht er hat sich geändert, sondern Europa.
Denn das ist ja nicht länger jener einst so selbstbewusste, zukunftsoptimistische Kontinent, der sich (auf dem EU-Gipfel von 2000) noch vollmundig damit gebrüstet hatte, die USA bis spätestens 2010 ökonomisch zu überholen, das ist auch nicht mehr jenes Europa, welches sich als moralisches Gewissen der Welt sehen möchte. Seit der Krise wird Europa von einer Krankheit heimgesucht, die es zu lähmen droht: einem rapiden Vertrauensschwund in Politik und Zukunft. Wie schon einmal gegen Ende der Zwanziger Jahre nach Ausbruch der Weltwirtschaftskrise breiten sich in der Bevölkerung Zweifel und Ratlosigkeit aus; dazu kommt auch noch wachsende Wut vor allem in den Länder im europäischen Süden und Osten. Zu ihren unmittelbar sichtbaren Folgen zählt die zunehmende Polarisierung der politischen Lager: In Frankreich, Italien, Polen, Ungarn noch mehr als in Deutschland. Es ist dieser Zweifel an einer rauen, unübersichtlichen, immer schwieriger verstehbaren Gegenwart, die viele Menschen dazu bewegt, auch der eigenen Vergangenheit nicht länger zu trauen. So werden sie für Geschichtsfälschungen empfänglich. Nicht mit Putin sollten wir uns beschäftigen, sondern mit uns selbst – mit Europa. Wie ist es möglich, dass der Pesthauch der späten zwanziger Jahre schon wieder über uns liegt?