Im Allgemeinen lieben Politiker den braven Bürger, einen, der sich allenfalls alle vier bis fünf Jahre einmal zu Worte meldet, und zwar mit einem einzigen Wort, seinem Kreuz auf einem Stimmzettel. Die übrige Zeit sollte er besser schweigen, am besten unsichtbar bleiben oder allenfalls akklamieren. Die zu dieser Einstellung passende Parole stammt noch aus dem 19. Jahrhundert: Ruhe ist die erste Bürgerpflicht! Ein preußischer Minister gab die Weisung erstmalig nach der verlorenen Schlacht von Jena aus. In der Zeit der biedermeierlichen Restauration wurde daraus dann die Grundlage für das Handeln von Justiz und Polizei. Der Bürger hat zu gehorchen – was immer die Politik auch von oben verordnen mag.
Diese Haltung sollte später von rechts-orientierten Parteien ganz selbstverständlich übernommen werden. Anders die Linken. Ihnen war sozusagen in die Wiege gelegt, keine Ruhe zu geben. Die Linken waren ja aus dem Protest gegen die herrschende Ordnung geboren.
Umso mehr Aufsehen muss es erregen – ja, vielleicht sogar Ratlosigkeit bis hin zu Konsternation bei den einen und Begeisterung bei den anderen – dass ein hoher Vertreter einer konservativen Partei, kein geringerer als der ehemalige Generalsekretär der Christlich Demokratischen Union, in einem Interview, das er am 19. Oktober dieses Jahres dem Zentralen Deutschen Fernsehen gab, zur Unruhe aufrief. Das ist nicht weniger als ein Bruch mit einer zweihundertjährigen Tradition!
Wenn es nur ein Aufruf zur Unruhe wäre! Die kann sich auch auf harmlose Art in geistiger Rebellion bekunden, in innerer Einkehr oder bloßem Bewusstseinswandel, wie er von Gutmenschen im ganzen Lande schon seit Jahren gefordert wird. Bekanntlich ändert sich dadurch wenig oder nichts, außer dass die potentiellen Unruhestifter sich eine Selbsttherapie verordnen und sich dadurch in einer für die Macht höchst erfreulichen Weise selber unschädlich machen. Noch nie wurde die öffentliche Ruhe durch innere Einkehr und Bewusstseinswandel gestört.
Nein, Heiner Geißler spricht von etwas ganz anderem. „Wir brauchen eine Art Revolution“, sagte er wörtlich. Und das ist etwas ganz anderes als bloßer Bewusstseinswandel. Revolutionen, das wissen wir, bedeuten gewaltsamen Umsturz und Blutvergießen. Revolutionen sind keine bloßen Rebellionen, keine zeit- und räumlich begrenzten Protestaktionen, bei denen auch einmal Sachgüter und Personen zu Schaden kommen. In Revolutionen ziehen mordende und sengende Horden durch die Straßen, bei Nacht werden die Gegner massenhaft liquidiert. Der Mob johlt gewalttrunken auf den Straßen, und überall riecht es nach Feuer und verbranntem Fleisch. Durch Revolutionen werden bestehende Ordnungen und Mächte gewaltsam erschüttert oder auch ganz zertrümmert. Das Wort Revolution – wenn auch nur eine „Art Revolution“ – aus dem Mund eines Konservativen zu hören, ist selbst so etwas wie Revolution. Heiner Geißler ist ein Konservativer, und Konservativismus bedeutet dem Wort nach Erhaltung – Erhaltung der bestehenden Ordnung. So wurde und wird dieser Begriff seit eh und je von den führenden Köpfen des konservativen Lagers verstanden. Heiner Geißler hat mit diesem Selbstverständnis gebrochen. Er hat einen gewagten – muss man nicht geradezu sagen, einen unerhörten, unglaublichen Schritt getan?
Einen Schritt, den man zunächst einmal laut beklatschen sollte, denn anders als die meisten Notabeln im Lager der großen Volksparteien nimmt er den Protest von unten ernst. Er hat begriffen, dass Leute in London, Athen, Rom und in den größten Städten der Vereinigten Staaten nicht ohne Grund auf die Straße gehen. Er versucht nicht, mit der üblichen Schönfärberei zu vertuschen, dass es in der Bevölkerung mächtig zu gären beginnt. Er sieht, dass immer mehr Menschen nach mehr Gerechtigkeit verlangen und diese ihnen durch die bestehende Ordnung, den „Kapitalismus“, nicht mehr gewährleistet erscheint. Anders als die meisten seiner Politikerkollegen hat Heiner Geißler die Ohren für dieses unterirdische Grollen nicht einfach verstopft, er besitzt dafür im Gegenteil ein feines Gespür. Und was noch mehr zu bewundern ist. Er hat den Mut, seine Einsichten auch in die Öffentlichkeit zu tragen. Parteien aller Couleur pflegen seit Jahren ja das genaue Gegenteil zu tun. Die Mittel der Steuerzahler setzen sie gezielt in dem Bestreben ein, diesen gegenüber durch entsprechende Propaganda das eigene Handeln in Vergangenheit und Gegenwart als alternativlos und unanfechtbar hinzustellen. Heiner Geißler stellt dies nun alles mit einem einzigen, höchst gefährlichen Wort in Frage: Er spricht von Revolution. Eine Revolution ist der gewaltsame Umsturz eine Ordnung, weil und wenn diese den Menschen als grundsätzlich ungerecht und daher unerträglich erscheint.
Denn ist es etwa gerecht, dass nun die kleinen Leute in Griechenland die Zeche für überbordende Staatsschulden bezahlen, wenn zugleich für jedermann offensichtlich ist, dass gerade die wohlhabenden Schichten ihr Kapital rechtzeitig im Ausland in Sicherheit brachten? Ist es gerecht, dass in den Vereinigten Staaten gerade mal ein Prozent der Bevölkerung, also etwa 30 Mio. Menschen, während der vergangenen 40 Jahre stete Einkommenszuwächse verzeichnen konnten, ja, die führenden Akteure der Finanzindustrie sich selbst in der Krise noch schamlos bereicherten, während die restlichen 270 Mio. im Gegenteil eine Erosion ihrer Einkommen hinnehmen müssen? Ist es gerecht, dass in Italien Korruption die höchsten Kreise der Politik erfasst und der Premier – einer der reichsten Männer der Welt – der Nation ein Haremsleben vorspielt, während zugleich die kommunalen Einrichtungen überall im Lande verkommen? Und ist es denn zu verteidigen, dass in Deutschland, einst einem Vorzeigestaat in Sachen sozialer Sicherheit, das Prekariat wie ein Schimmelpilz um sich greift und inzwischen auch der Mittelstand um seine Zukunft fürchtet?
Das alles ist nicht gerecht. Wenn man die Degeneration eines Systems, das dafür verantwortlich zeichnet, als „Kapitalismus“ bezeichnet, dann ist es zu begrüßen, dass Heiner Geißler dessen Abschaffung fordert. Doch diese Feststellung sollte uns nicht dazu verleiten, die Formulierung Heiner Geißlers widerspruchslos hinzunehmen. Wer von Revolution spricht, nimmt Bürgerkrieg und Blutvergießen in Kauf; Revolution ist ein Begriff, der durch die Geschichte sozusagen mit Blut durchtränkt worden ist. Man denke nur an die Orgien von Gewalt, welche die französische ebenso wie die russische Revolution begleitet haben. Wohin würde uns eine Revolution dieser Art führen?
Sie könnte nur von einem „starken Mann“ gelenkt und in seinem Sinne vollendet werden. Starke Männer aber lieben es – gerade darin pflegt ihre Stärke sich ja zu bekunden – die Freiheit der Vielen durch die Freiheit eines Einzelnen zu ersetzen: ihre eigene nämlich. Starke Männer haben beinahe ausnahmslos ein bestehendes Übel durch ein mindestens gleich großes anderes ersetzt. Die Gesellschaft eines entfesselten, durch keinerlei Rücksicht auf das Gemeinwohl gebändigten Wettbewerbs – der sogenannte Kapitalismus – hat zu jenen unerträglichen Missständen geführt, gegen den sich nun die Menschen aufzulehnen beginnen. Doch wenn die Antwort auf dieses Übel eine Revolution sein sollte, dann besteht die Gefahr, dass diese uns in eine Befehlsgesellschaft zurückwirft, wie wir sie aus der Vergangenheit kennen und sie im Osten erst seit zwei Jahrzehnten (halbwegs) überwunden wurde. Das wäre ein Weg in die Unfreiheit. Jeder, der das Wort Revolution gebraucht, sollte sich der weit reichenden Folgen bewusst sein.
Denn die wirkliche Lösung für unsere Probleme liegt ja eigentlich auf der Hand. Demokratie, gebändigter Wettbewerb und Freiheit haben nichts mit einem zügellosen Kapitalismus zu tun. Wird Demokratie ernst genommen, dann entsteht ein Europa mit weitgehender regionaler Autonomie statt eines neuen Superstaates, der seine Bürger zu Statisten entmündigt. Wird Wettbewerb zum Wohl der Allgemeinheit eingesetzt, dann ist er die Garantie für ein Maximum an individueller Freiheit und Selbstverwirklichung – aber er wird genau an dem Punkte begrenzt, wo er einzelnen oder einer Plutokratie so exorbitante Vorteile gewährt, dass er die Gesellschaft sprengt und dem Gemeinwohl schadet statt ihm zu nützen.
Heiner Geißler hat recht. Unser Gesellschaftssystem ist zu einem Kapitalismus degeneriert, der – allen gegenteiligen Beteuerungen zum Trotz – zu einer Gefahr für die Stabilität der Gesellschaft wurde. Aber wehe, wenn diese im Kern richtige Diagnose in falsche Hände gerät! Weder die Demokratie als echte Mitbestimmung noch die Freiheit als gemeinwohlverträgliche Selbstverwirklichung, noch der Wettbewerb als Mobilisierung aller Kräfte des Talents und der Kreativität bedürfen der Revolution. Das sind Ideale, die unverrückbar feststehen sollten. Insofern fordert Heiner Geißlers Wortwahl eben ihrerseits durchaus Protest heraus, der nur dadurch gemildert wird, dass der ehemalige Generalsekretär seine eigenen Worte vielleicht selbst nicht ganz ernst nahm. Vielleicht hat er ja nur mit solchen Gedanken gespielt, denn am Ende seines Interviews läuft die „Revolution“ gerade mal auf eine kleine – wenn auch höchst notwendige – Reform hinaus: die Trennung von Geschäfts- und Investmentbanken.
Ich gehe davon aus, dass Heiner Geißler in Wirklichkeit meinte, Demokratie, Freiheit, Gerechtigkeit und ein sozial gebändigter Wettbewerb seien gegenwärtig in großer Gefahr und müssten jetzt mit allem Einsatz verteidigt werden – wenn es sein muss auch von den Massen, damit diese endlich eine selbstgefällig politische Kaste aus ihrem Schlaf wach rütteln. Er spricht aus, was immer mehr Menschen in der ganzen Welt denken und was sie jetzt durch ihren Protest erreichen wollen.