Prof. Dr. Dr. h. c. Honorius Dankwart war ein überaus angesehenes Mitglied der wissenschaftlichen Gemeinschaft – vielleicht ist er es immer noch. Auf der Rangliste der meistzitierten ökonomischen Wissenschaftler behauptet er einen beneidenswert hochrangigen Platz. Als begehrter und vielbeachteter Gast war er auf internationalen Konferenzen eine bekannte Erscheinung; in großen Unternehmen wurden ihm mehrere Aufsichtsratsposten übertragen, sein Institut erfreute sich noch bis vor kurzem reichlich sprudelnder finanzieller Zuwendungen, da die Industrie einem Mann wie ihm besonders gern Forschungsaufträge erteilte. Nicht ohne Grund – denn bei Dankwart durfte sie sicher sein, dass er sie in ihrem Sinne erfüllte. Auch als Gutachter für die Regierung machte sich Dankwart einen weithin klingenden Namen. Wenn es galt, einen unnachsichtig neoliberalen Kurs gegen jeden Widerstand durchzupauken, dann war seine wissenschaftliche Autorität gefragt. Man konnte sich darauf verlassen, dass Honorius Dankwart das kontroverse und meist deutungsoffene Zahlenmaterial so präsentieren würde, dass die Regierung – mit seiner Expertise gewappnet – jede Rebellion gegen ihre Reformen als unwissenschaftliches Laientum abqualifizieren konnte.
Der Markt hat immer recht
Worin bestand nun die wissenschaftliche Grundüberzeugung dieser Autorität? Sie war denkbar einfach und lässt sich deshalb auch in einem einzigen Satz komprimieren: „Der Markt hat immer recht.“ Die Summe aller ökonomischen Einzelentscheidungen privater Akteure ist für Dankwart das schlechthin Vernünftige. Das Vernünftige aber ist wirklich, und das Wirkliche ist vernünftig. So brachte es Dankwart, der sich mit Vorliebe im Denkschatten Hegels bewegte, gern auf den Punkt – und er tat es mit jenem Allwissenheitsgestus, der nach wie vor zur genetischen Grundausstattung des typischen deutschen Professors gehört.
Die Midlifecrisis
Leider ist die ökonomische Wirklichkeit seit kurzem unvorhergesehene Wege gegangen, wodurch sie die Anhänger dieser Lehre in größte Verlegenheit und böse Zweifel stürzt. Sie ist soeben dabei, ganz und gar unvernünftig zu werden. Nicht nur Angela Merkel hat inzwischen entdeckt, dass die Welt vor der schwersten Krise seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs steht. Herr Prof. Dankwart, der herausragende Vertreter einer Wissenschaft, welche höchste Vernunft im Walten des Marktes erblickte, erlebt nun seinerseits eine Midlifecrisis – und lässt uns alle daran partizipieren. In einer Aufsehen erregenden Veröffentlichung erklärt er, er selbst und seine Kollegen hätten in den vergangenen Jahren leider einen grundlegenden Fehler begangen. Sie hätten dem Markt zuviel zugetraut. Nun seien ihnen jedoch endgültig die Augen geöffnet: Der Markt bedürfe der Korrektur. Im Übrigen hätten sie das ja schon immer gesagt. Man müsse nur richtig zwischen den Zeilen lesen.
Man reibt sich ungläubig die Augen
Derselbe Mann, der Jahre lang sein ganzes wissenschaftliches Gewicht höchst gewinnbringend in den Dienst von Politik und Wirtschaft stellte, um mit deren Interessen zugleich die seinigen zu fördern; derselbe Mann, der alle gegenteiligen Stellungnahmen als unseriös disqualifizierte; Honorius Dankwart, der seine besonderen Verbindungen zu Universitätsrektoren und Politikern rücksichtslos dazu nutzte, alle Wissenschaftler ins Abseits zu drängen, die vor einer Politik wahlloser Privatisierung und Deregulierung warnten; dieser Mann, dem es schließlich gelungen war, Studenten das Studium bei Kollegen mit abweichenden Ansichten auszureden, da sie, wie er ihnen klarzumachen verstand, ihre eigenen Karriereaussichten dadurch ernsthaft gefährdeten; ja, derselbe Mann, der Jahre lang wie ein Diktator die akademische Gemeinschaft beherrschte und aus dem Hintergrund manipulierte, tritt nun mit gewohnt großartiger Geste vor die Öffentlichkeit hin. „Ich habe mich leider geirrt, jetzt weiß ich’s besser.“
Mit anderen Worten, Honorius Dankwart wechselt mal so eben die Fahne, das Lager und das ideologische Credo und glaubt allen Ernstes, dass er weiterhin die verehrte und gefürchtete Autorität spielen könne.
Kennen wir solche Fahnenwechsel nicht schon?
Um sich der Bedeutung dieses Seitenwechsels vor Augen zu führen, lohnt sich ein Blick in die Geschichte. Nach dem Untergang der DDR galten die Mitglieder ihres ehemaligen Establishments als disqualifiziert. Ja, nicht nur das: Von Seiten der vielen, die von ihnen mitleidslos unterdrückt und verfolgt worden waren, schlug ihnen Rachsucht entgegen. Sicher wäre es eine ganz verfehlte Politik gewesen, hätte man diesem Bedürfnis nach Rache nachgegeben – nur kriminelles Verhalten konnte und musste man nach der Wende bestrafen. Mit Rache wird kein Staat und keine haltbare Ordnung begründet. Doch hat man es als selbstverständlich erachtet, dass junge und unverbrauchte Kräften nun die Zügel ergreifen – vor allem jene Menschen, die sich unter persönlicher Gefahr zuvor gegen das Regime gestellt hatten. Dennoch blieb ein großes Problem: Wie sollte man mit den vielen Wendehälsen umgehen? Mit jenen Leuten, die – kaum dass sich die Zeiten geändert hatten – mit lauter Stimme verkünden. „Wir haben uns leider geirrt, jetzt wissen wir’s besser.“
Wendehälse verdienen Nachsicht, soweit sie keinen Schaden verursacht haben, sondern bloß zur Schar der Mitläufer gehörten. Gleich nach Ende des Zweiten Weltkriegs hat es, wie man weiß, ganz plötzlich keine Nazis mehr gegeben, so wie man unmittelbar nach dem Ende der Deutschen Demokratischen Republik kaum noch Anhänger des alten Regimes finden konnte. Das ist durchaus begreiflich: Die meisten Menschen hatten dem alten Regime zujubeln müssen. Sie waren, wenn sie sich überhaupt für Politik interessierten, bloße Wasserträger, Mitposauner und Hurrastatisten gewesen. Wenn sie ihre Meinung geändert haben, dann braucht man sie deswegen nicht einmal für unehrlich zu halten. Die meisten hatten wohl nie eine ausgeprägte eigene Meinung.
Versuch und Irrtum
In der Wissenschaft kommt noch ein bedeutsamer Unterschied hinzu. Man sollte dort nie auf eine bestimmte Meinung festgelegt sein. Der Fortschritt der Wissenschaften setzt Versuch und Irrtum als unverzichtbar voraus. Jeder, der eine Hypothese wagt, geht damit von vornherein das Risiko ein, sich zu irren. Das gehört zum Wesen der Wissenschaften und ihres Erkenntnisgewinns. Daher dürfen wir Herrn Dankwart nicht dafür kritisieren, dass er Jahre lang eine Meinung vertrat, die sich jetzt als eklatant falsch erweist. Noch weniger dürfen wir ihn für seine Lernfähigkeit tadeln, die Tatsache also, dass er diese Meinung jetzt aus besserer Einsicht revidiert und sie in aller Öffentlichkeit als hinfällig verwirft. Nur eines ist bei einem Mann wie ihm leider keinesfalls sicher: Ob er dies nämlich aus Gründen der Ehrlichkeit tut oder nur weil er, wie so viele andere auch, ein gewiefter Opportunist ist und mit Schrecken feststellen musste, dass er zum ersten Mal in seinem Leben gegen den Strom schwimmen könnte. Die Wirtschaftswissenschaften gehören ja – das sollte einem Vertreter des Faches bekannt sein – nicht zu den exakten Wissenschaften wie beispielsweise Physik oder Biogenetik. Es ist bei ihnen kaum möglich, Empfehlungen abzugeben, ohne damit bestimmten Interessen zu dienen und anderen zu schaden. Prof. Dankwart hat sich bis gestern ganz klar auf die Seite des ökonomisch-politischen Establishments gestellt. Er hat seine wissenschaftliche Autorität im Sinne ihrer Interessen eingesetzt, er hat alles in seiner Macht Stehende getan, um Kritiker mundtot zu machen, ihre Karrieren zu behindern oder von vornherein zu vereiteln. Nach außen hin war er so etwas wie ein Burgwall der Orthodoxie, gegen den jeder Aufruhr vergebens anrannte. Kurz, Prof. Honorius Dankwart hat eine für das Gemeinwohl schädliche Rolle gespielt. Sein Fehler liegt nicht darin, dass er sich irrte – dieses Recht steht jedem zu. Sein Fehler liegt darin, dass er Interessen einseitig begünstigt und die Wissenschaft damit verraten hat. Er ist alles andere als ein naiver und harmloser Mitläufer gewesen, sondern er zählt zu der großen Zahl jener, welche sich selbst und die Wahrheit nur zu bereitwillig an den jeweils Meistbietenden verkaufen.
Wirtschaftswissenschaften repräsentieren eine gewaltige Macht
An seinem Namen liegt wenig. Honorius Dankwart ist ein Archetyp, der hier für eine Vielzahl von Namen steht. Mehrfach geklont ist er an jeder Universität mühelos aufzuspüren. An amerikanischen Colleges wurde der nützliche Brauch eingeführt, Professoren im Hinblick auf pädagogische Fähigkeiten von ihren Studenten bewerten zu lassen. Das ist ein guter Beginn, aber es ist nicht mehr als ein Beginn. Dankwart war sicher ein hervorragender Pädagoge. Wie wäre es sonst zu erklären, dass er eine ganze Generation von Studenten für seinen Marktradikalismus zu begeistern vermochte? Solange das Allwissenheitspathos zur genetischen Grundausstattung des deutschen Professors gehört, liegt in besonderem pädagogischen Können sogar eine Gefahr. Das gilt in besonderem Maße für die Wirtschaftswissenschaften, die neben den angewandten Naturwissenschaften eine gewaltige Macht repräsentieren. Diese Macht lässt sich leicht missbrauchen, denn im Unterschied zu den Naturwissenschaften, die bestehende Gesetze in der Natur aufdecken, besteht die Tätigkeit der Ökonomiker vorwiegend darin, dem zwischenmenschlichen Handeln normative Regeln (Handlungsgesetze) aufzuerlegen, und zwar jeweils aufgrund bestimmter weltanschaulicher Voraussetzungen.
Was macht man mit Opportunisten?
Wenn Politiker Schaden anrichten, werden sie abgewählt, Manager werden ihrer Stellung enthoben, aber was macht man mit Wissenschaftlern, die sich selbst mindestens ebenso nützen wie sie der Wahrheit schaden? Was macht man mit Leuten wie Prof. Dr. Dr. h. c. Dankwart, der als gelernter Opportunist die Fahne einfach gewechselt hat und nun weiterhin als Allwissender auftritt, nur eben in einem ideologischen Gewand nach neuester Mode?
Ich würde mir wünschen, dass sich eine unabhängige Regierungsorganisation der Aufgabe widmet, die Verlässlichkeit ökonomischer Aussagen und Voraussagen zu überprüfen. Dazu müsste sie anhand von Zitaten einerseits die Statements von führenden Vertretern des Fachs dokumentieren, andererseits Stellungnahmen von Seiten der von ihnen ins Abseits Gedrängten, von jenen also, die diese Aussagen bestritten und Gegenpositionen aufbauten. Ich könnte mir eine unabhängige Instanz vorstellen, die in aller Unparteilichkeit diese Aussagen mit den Ereignissen der ökonomischen Wirklichkeit konfrontiert und dabei gleichermaßen gegen beide Seiten gerecht ist. Denn natürlich sind auch im Gegenlager Opportunisten zu finden – akademische Trittbrettfahrer, die eine überaus feine Witterung dafür besitzen, wie beliebt man sich in Krisenzeiten mit Weltuntergangsszenarien macht oder gar damit, dass man großspurig alle bisherigen Erkenntnisse als überholt diskreditiert. Wer fühlt sich hier nicht an die Professoren Hörmann und Pregetter erinnert, für deren geistige Verirrungen uns der sprachgewaltige Schopenhauer die schöne Bezeichnung der akademischen „Windbeutelei“ hinterließ. Für das Renommee der Alma Mater sind solche Leute nicht weniger schädlich als der archetypische Honorius Dankwart.