In seiner berühmten Abrechnung mit den Feinden der Demokratie „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ hat Karl Popper heftige Kritik an Marx geübt, aber eines hat er zugleich unmissverständlich klar gestellt. In einer Zeit, da alle über das unglaubliche Elend des ärmsten Teils der Bevölkerung gleichgültig hinweggeblickt haben, ja, sich sogar von einem zum Priester geweihten Christen namens Malthus dazu überreden ließen, in der Menschenschinderei und dem Menschenverschleiß in den Industriebaracken des frühen 19. Jahrhunderts eine göttliche Fügung zu sehen, weil die Erde nun einmal nicht genug Nahrung für alle Menschen erzeuge, in einer so grausamen Zeit gehörte Karl Marx zu den ganz wenigen, die ohne jede Schönfärberei Tatsachen und Täter beim Namen nannten.
Diesen Ruhm kann in gleichem Maße der Schweizer Autor und ehemalige Sonderberichterstatter der UNO für das Recht auf Nahrung, Jean Ziegler, für sich in Anspruch nehmen. Um die nackten Zahlen des Elends wissen wir alle, aber sie haben fast jeden emotional berührenden Inhalt verloren. Wer Zieglers neuestes Buch über den Hunger liest, erfährt, was diese Zahlen konkret bedeuten. Welches unmenschliche Grauen zum Beispiel eine durch Hunger hervorgerufene Krankheit namens Noma verursacht. Ziegler hat das alles gesehen und ist dabei zum Kämpfer geworden. Er ist bewundernswert wie kein anderer, zumal er sich auch durch Dutzende von Prozessen nicht abschrecken lässt, die seine Gegner einzig zu dem Zweck inszenieren, um seinen Widerstand endlich zu lähmen und ihn endgültig mundtot zu machen.
Die Diagnose
Ziegler stellt zwei Kernthesen auf: Erstens, der Hunger wird von uns, den reichen Staaten des Globus, bewirkt. Das ist das eine Verbrechen. Das zweite Verbrechen liegt darin, dass wir die Augen vor der Not verschließen und nichts oder zumindest kaum etwas dagegen tun. Mit einem Bruchteil der für die Rüstung aufgewendeten Kosten könnten wir den Hunger auf dem Globus beseitigen. Ich glaube, dass man Ziegler in beiden Punkten Recht geben muss.
Über Hunger und Tod redet man nicht durch die Blume
Warum beginne ich dann mit einem Titel, der eine Kritik an Ziegler zu implizieren scheint, denn es macht ja gewiss keinen guten Eindruck – und ist in der Wissenschaft schon gar nicht üblich -, mit Ausdrücken wie Gesindel, Lumpen, Verbrechern und ähnlich starken Schimpfworten freizügig um sich zu werfen. Dabei wird doch mancher die drastische Wortwahl Zieglers durchaus für gerechtfertigt halten. Wenn die beiden dem Westen vorgeworfenen Verbrechen tatsächlich bestehen, ist es dann nicht ein Zeichen von Ehrlichkeit, wenn Ziegler sich kein Blatt vor den Mund nimmt und Leute, die Verbrechen begehen, auch ungeniert als Verbrecher bezeichnet, und Leuten, die sich wie Gesindel aufführen, eben so freimütig dieses Schimpfwort nachwirft?
Das unglaublich gute Gewissen
Sicher. Ich glaube nur, dass Ziegler mit seinen drastischen Invektiven das eigentliche Problem verfehlt und seiner Anklage damit schadet. Ganoven und Banditen hat es immer gegeben. Wer einen Blick ins 19. Jahrhundert oder gar in noch frühere Zeiten zurückwirft, entdeckt sie in noch viel größerer Zahl. Das Problem liegt in Wahrheit viel tiefer. Es liegt darin, dass unser heutiges Wirtschaftssystem, der sogenannte Kapitalismus, noch bis vor der Krise und selbst darüber hinaus ein unglaublich gutes Gewissen hat. Immerhin ist es – wenn man die Perspektive von Ziegler einmal beiseite lässt – das erfolgreichste in der gesamten Geschichte der Menschheit! Keine bisherige Wirtschaftsordnung hat in so kurzer Zeit so viele Güter erzeugt und in Wohlstand verwandelt, keines hat jemals in gleichem Umfang menschliche Intelligenz für diesen Zweck mobilisieren können. Selbst der größte Kritiker des Kapitalismus hat dies freimütig eingeräumt. Im Kommunistischen Manifest rühmte Karl Marx genau diese Leistung. „Die Bourgeoisie hat in ihrer kaum hundertjährigen Klassenherrschaft massenhaftere und kolossalere Produktionskräfte geschaffen als alle vergangenen zusammen.“ Der Protest von Marx galt nicht dem Produktionssystem, sondern nur der falschen Verteilung.
Das Janusgesicht der Eigentumsgesellschaft
Die Gesellschaft des Eigentums hat deshalb ein so barbarisch gutes Gewissen, weil sie sich dieser historisch einmaligen Effizienz rühmen kann. Es ist wahr, der Freihandel richtet in Teilen Asiens und Lateinamerikas sowie in ganz Afrika die schwersten Verwüstungen an. Das gilt besonders für den hochsubventionierten Export von europäischen Lebensmitteln ins nördliche Afrika. Europa trägt hier unmittelbar die Verantwortung für die Verelendung der agrarischen Landbevölkerung und ihre anschließende Migration in die Slums der großen Metropolen, wo sie eine Hungerexistenz erwartet, so dass ihr ganzes Sinnen dann nur noch auf Flucht gerichtet ist – Flucht ins reiche Europa.
Das ist die eine Seite, und man kann sie mit Ziegler beliebig verlängern. Aber es ist ebenso wahr, dass erst der globale Handel aus einem vor 150 Jahren noch bitterarmen Eiland wie Japan einen der wohlhabendsten Staaten der Erde machte, und dass die sogenannten Tigerstaaten erst zu Reichtum gelangten, als sie den gleichen Weg wie Japan beschritten. Heute wird China zu einem ökonomisch-politischen Giganten. weil es nach weitgehender Zerstörung seiner eigenen Jahrtausende alten Traditionen alle wesentlichen Merkmale des westlichen Wirtschaftsmodells übernahm!
Die Ideologen des Neoliberalismus leugnen das Elend gar nicht
Diese Fakten sind ganz genauso wahr wie jene, die Ziegler in seinen Büchern benennt. Und diese Fakten sind es, welche die Mehrzahl akademischer Ökonomen selbst noch in der Krise an ihren Modellen festhalten lässt. Die zehn Gebote des Neoliberalismus (1) erscheinen ihnen aufgrund eines solchen weltweiten Erfolgs so unwiderleglich, dass sie daraus Glaubensartikel geschmiedet haben, die sie mit Klauen und Zähnen verteidigen. Die Not, welche Jean Ziegler beschreibt, wird von den Wirtschaftstheoretikern und den von ihnen indoktrinierten Exekutoren in IWF und WTO gar nicht geleugnet. Ebenso wenig würden die führenden Politiker Europas diese Fakten in Frage stellen. Man vergesse nicht, dass jedes der Bücher des Schweizer Autors zu einem Beststeller wurde. Man darf daher durchaus damit rechnen, dass seine Schriften inzwischen auch zur Lektüre von Konzernbossen und Regierungsmitgliedern zählen. Nur ziehen diese ganz andere Schlüsse aus den ihnen präsentierten Fakten. Sie verweisen auf China, Brasilien und darauf, dass ein Teil der indischen Bevölkerung erst durch die entschlossene Öffnung des Landes durch Premierminister Manmohan Singh zu Wohlstand gelangte. Deshalb fordern sie nicht weniger, sondern mehr Wirtschaftsreformen im Sinne des Neoliberalismus. Sie verlangen noch größere Freiheit für die Konzerne und noch mehr freien Handel. Mit anderen Worten, nur in der Globalisierung des westlichen Wirtschaftmodells sehen sie die Chance für eine Beseitigung der Armut.
Ideologiehörigkeit ist gleich Immunität gegen Fakten
Ich gehe davon aus, dass die von Jean Ziegler präsentierten Fakten zumindest einigen aus der Industrie- und Finanzwelt genau so nahe gehen wie jedem anderen mitfühlenden Menschen, aber sie reagieren darauf so, wie es Arthur Köstler im kritischen Rückblick auf die eigene Vergangenheit an sich selbst beschrieb. Als er – damals noch gläubiger Kommunist – in den beiden Jahren 1932 und 33 Russland besuchte, schrieb er alles, was er dort an Fortschrittlichem sah, der kommunistischen Revolution ins Stammbuch – ganz wie die Partei es von ihren Anhängern verlangte. Alles hingegen, was er an Massenelend Tag für Tag beobachten konnte, deutete er als Erbschaft einer noch unüberwundenen Vergangenheit. Wer ideologisch vorprogrammiert ist, sieht nur, was er sehen will: Alles übrige wird systematisch ausgeblendet.
Das eigentliche Problem: Sie sehen sich gerade nicht als Banditen
Ich meine daher, dass Ziegler das Problem an falscher Stelle sucht, wenn er nach Banditen, Gesindel und Lumpen fahndet. Natürlich hat er teilweise Recht: Nicht wenige Wirtschaftsakteure lassen sich rundheraus als Verbrecher bezeichnen, die Spekulanten zum Beispiel, welche ihre Wetten allein zu dem Zweck auf Rohstoffe und Nahrungsmittel abschließen, um daraus auf Kosten der Ärmsten Profit zu schinden. Oder die Verwalter von Hedgefonds und deren Kunden, die ihrerseits mit System ihre eigene parasitäre Bereicherung betreiben. Aber das eigentliche Problem liegt gerade darin, dass die überwiegende Mehrzahl der Konzernherren, Finanzmagnaten und Politiker, also die großen Akteure des Neoliberalismus, eben gerade kein Gesindel und keine Banditen sind, sondern höchst ehrenwerte Leute mit einem durchaus guten, ich nehme an, einem manchmal geradezu banausisch guten Gewissen. Es sind Leute, die sich – Tabellen und Statistiken in der Hand – darauf berufen können, dass sie einem Teil der Welt, nämlich den ökonomisch führenden Ländern des Westens, während des vergangenen halben Jahrhunderts einen Wohlstand und eine Freiheit bescherten, wie sie in der ganzen bisherigen Geschichte einmalig sind.
Sie nicken Ziegler zu und fahren so fort wie bisher
In der Tat: Zu keiner anderen Zeit haben in Massengesellschaften so viele Menschen so große politische Mitsprache und ökonomische Freiheit besessen. Selbst in kleinen Gesellschaften von einigen Tausend Individuen wurde – das lässt sich den einschlägigen ethnologischen Forschungen entnehmen (2) – ein solcher Zustand nur selten erreicht. Die Neoliberalen sehen sich daher in einer ganz ähnlichen Lage wie sie Marx damals im Hinblick auf die Bourgeoisie beschrieb, nämlich als Speerspitze einer Bewegung, welche die ganze Erde im Handstreich erobert hat, um die Segnungen von Technik und Wissenschaft auch noch in deren letzte Winkel zu tragen: eine Küche mit elektrischem Herd zum Beispiel und ein Klo mit Wasserspülung – Errungenschaft, welche die ganze Welt inzwischen für sich verlangt und zum großen Zeil auch schon bekommen hat. Worte wie Banditen und Lumpengesindel prallen von den neoliberalen Kriegsherren ab. Sie fühlen sich nicht betroffen. Sie lesen Ziegler, nicken zu seinen Anklagen, aber vermögen sich selbst und ihr Handeln darin nicht zu erkennen. Sie sind überzeugt, dass sie so und nicht anders handeln müssen – gerade wenn sie die Armut aus der Welt schaffen wollen.
Erfolg schlägt in Misserfolg um
Aber sie irren sich. Unter ihrer Hand ist die Erde ist zu einem Kriegsschauplatz geworden: dem Kriegsschauplatz eines gewaltsam allen Menschen des Globus aufgezwungenen Wirtschaftsmodells. Die Kriegsherren sehen nicht, dass die Schlacht schon verloren ist. Sie sehen nicht, dass der Keim des Umbruchs schon in den vergangenen sechzig Jahren lebendig war. Gerade der welthistorische Erfolg des gegenwärtigen Wirtschaftsmodells musste zur Ursache seines Scheiterns werden. Denn der Reichtum der vergangenen Epoche ist dem Überfluss an fossilen Brennstoffen geschuldet, der bis gegen Ende des letzten Jahrhunderts viele Menschen zwar sehr viel reicher machte, aber alles in allem gerade einmal dem vierten Teil der Menschheit zugute kam. Schon Kurt Biedenkopf und Friedrich v. Weizsäcker, von Donnella und Dennis Meadows ganz zu schweigen, hatten warnend vorausgesagt, dass dieses Wirtschaftsmodell sich unmöglich verallgemeinern ließe. In dem Augenblick, wo die gesamte Menschheit das endliche Reservoir knapper Ressourcen nutzen würde, beschwört das System den eigenen Zusammenbruch herauf. Das ist das eine. Doch mit dieser in den „Grenzen des Wachstums“ ausgesprochenen Warnung waren noch nicht einmal die schlimmsten Folgen benannt: Selbst wenn die heute noch unerschlossenen und zum Teil sehr bedeutenden Gasreserven zusätzlich ausgebeutet und die Grenzen des Rohstoffverbrauchs noch um ein halbes Jahrhundert in die Zukunft verschoben werden, verträgt die Umwelt die Gifte nicht mehr, mit denen wir sie in wachsender Zahl belasten.
Jetzt geht es um die Rettung vor dem herrschenden Wirtschaftsmodell
Hier liegt die eigentliche Ursache einer sowohl theoretisch-wissenschaftlichen wie praktischen Borniertheit der immer noch herrschenden Matadoren des Neoliberalismus. Immer noch tun sie so, als lebten wir mitten im Überfluss, während die Epoche des Überflusses in Wahrheit bereits hinter uns liegt. Der naive Glaube, dass wir bei diesem Modell bleiben könnten, um auch dem Rest der Menschheit vor Armut und Hunger zu retten, ist Illusion. Jetzt wäre es umgekehrt richtig, sie vor dem westlichen Modell einer rücksichtslosen Ressourcenausbeutung zu retten, z.B. vor dem schnell fortschreitenden Ausverkauf fruchtbaren Landes in Afrika und Lateinamerika, wo in großem Maßstab Plantagen für die Versorgung westlicher Staaten sowie Chinas und des Vorderen Orients entstehen, Plantagen, deren Grund und Boden bis dahin der Ernährung der heimischen Bevölkerung diente und danach als extraterritoriales Gebiet in die Hand großer Agrokonzerne gelangt, welche die heimische Bevölkerung gnadenlos in die Slums vertreiben. Das ist freier Handel mit den Lebensgrundlagen der Ärmsten – durchaus im Sinne der herrschenden Wirtschaftslehre, die darin eine Steigerung von Effizienz erblickt – aber de facto eine Renaissance des Kolonialismus.
Die Matadoren (zu deutsch: die Todbringer) des Neoliberalismus sind weder Banditen noch Ganoven – da irrt Jean Ziegler. Wenn es so einfach wäre, dann hätten sich die Bürger der reichen Staaten des Westens längst gegen ihre Herren und gegen den Hunger empört. Nur weil sie eben keine Ganoven sind, sondern von der Richtig- und Rechtmäßigkeit ihres eigenen Tuns fest überzeugt, sind die bestehenden Verhältnisse so schwer zu verändern. Das Problem ist ihr gutes Gewissen, mögen sie nun akademische Theoretiker oder Praktiker auf den Chefsesseln der großen Konzerne sein. Dieses Gewissen ist immer noch ungebrochen, während in Wahrheit längst ein tiefer Bruch durch die uns umgebende und bedrängende Wirklichkeit geht.
1 Vgl. Jenner: EuroKalypse Now? „Neoliberalismus – angesagter Tod einer Pseudowissenschaft“.
2 Z.B. Marvin Harris: Our Kind. 1989 Harper.