Dass man mich aufgrund meines Geburtsdatums unter die älteren, vielleicht sogar die alten Menschen zu rechnen hat, interessiert niemanden – mich schon gar nicht. Aber es interessiert ein bösartiges Wesen von mikroskopischer Größe, das sich seine Opfer vor allem unter Leuten meines Alters wählt. Und für den modernen Wohlfahrtsstaat steht gleichfalls viel auf dem Spiel, denn für diesen kam – zumindest behaupten das böse Zungen – das Virus gerade zur rechten Zeit. Jammern die Apokalyptiker nicht schon seit Jahren, dass es bis zum Zusammenbruch unseres Rentensystem nicht mehr lang dauern würde, weil immer weniger Junge immer mehr Alte auf ihren Schultern tragen? Nun aber macht sich das possierliche kleine Ding dafür stark, dass die ältere Generation zu vorzeitigem Abgang gezwungen wird. Allerdings ist an einem so simplen Beispiel wie dem gezielten Wüten des Virus gegen die Alten auch zu erkennen, dass der Mensch zwar denkt, aber der Teufel doch immer lenkt, denn die jungen Leute sind von der Krise zwar selten tödlich, aber im Hinblick auf ihre Zukunftsaussichten doch insgesamt viel stärker betroffen. Der weltweite Einbruch des Wirtschaftsgeschehens wird ihnen noch schwer zu schaffen machen.
Wie gesagt, interessiert es niemanden,
dass irgendeiner von uns diese oder jene Altersschwelle erreicht. Aber über den Unterschied von Alt und Jung zu reflektieren, ist vielleicht nicht ohne Interesse. Unsereiner lehnt sich zurück und stellt sich nachdenklich die Frage, was denn so übrigbleibt von einem doch keineswegs kurzen Leben? Der junge Mensch kommt nicht auf den Gedanken, sich danach zu fragen. Er lebt von Hoffnungen auf die Zukunft. Er stellt sich vor, was alles noch aus und mit ihm werden kann – für ihn ist Zukunft ein Versprechen und eine Verheißung. Der alte Mensch hingegen blickt auf all die Verwandlungen und Häutungen zurück, die hinter ihm liegen, und versucht ihnen im Rückblick einen Sinn zu geben. Er fragt sich, ob die Versprechungen gehalten wurden und die Verheißungen sich erfüllten. Weil das Leben für den jungen Menschen ein offener Horizont ist, steckt er diesen mit seinen Erwartungen ab, mit anderen Worten, er möchte durch sein Tun in das Geschehen eingreifen, es aktiv verändern. Junge Menschen sind aufs Neue aus, sie neigen zum Radikalismus, denn es erscheint ihnen als Mangel an Fantasie, Initiative und Lebenskraft, einfach weiter auf bereits ausgefahrenen Gleisen zu fahren.
Ältere Menschen sympathisieren selten mit Radikalismus. Im besten Fall haben sie aus eigener Lebenskraft und Fantasie ein paar bescheidene Initiativen verwirklicht; ihnen ist es eher darum zu tun, das, was sie als ihre Errungenschaften betrachten, für die Zukunft zu erhalten. Diesen Gegensatz zwischen Alt und Jung pflegt die Volksweisheit so auszudrücken, dass selbst Menschen, die sich in der Jugend sehr radikal gebärden, im Alter meist zu Konservativen werden (manche konservieren dabei den eigenen Radikalismus).
Ich denke aber, dass diese Regel
für unsere Zeit nicht mehr gilt – oder richtiger gesagt, dass sie nicht länger gelten darf. Denn konservativ sind heute jene Leute – und es ist leider immer noch eine überwältigende Mehrheit -, welche das Leben nach der Coronakrise genauso fortführen wollen, wie es vor der Krise gewesen ist. Es sollen dann – ganz wie zuvor – ebenso viele Flugzeuge, Autos, Kreuzfahrtschiffe wieder CO2produzieren, möglichst aber noch mehr, denn sonst wäre es mit dem ewigen Wachstum vorbei. Es sollen noch mehr Waren erzeugt, noch mehr Müll abgestoßen, noch mehr Landschaft mit Autobahnen versiegelt, noch mehr Ackerflächen mit Monokulturen bedeckt und mit Pestiziden, Kunstdünger und genetisch veränderten Pflanzen behandelt werden. So sieht die Zukunft für jene aus, für die das Vergangene der einzige Maßstab ist. Diese Art Konservativismus kann sich die Menschheit nicht länger leisten, weil sie dann den Rest an Ressourcen verschleudert, die letzten Arten wildlebender Tiere ausrottet und das Klima so stark verändert, dass sie die eigenen Lebensgrundlagen zerstört.
Gewiss, das Alter neigt zum Pessimismus
Die Klage, dass mit der neuen Zeit alles schlechter werde, scheint so alt wie die Menschheit selbst zu sein. Sie beruht aber auf einer optischen Täuschung. Die junge Generation verändert die Welt, gibt ihr ein neues Gesicht; die Alten hingegen kennen die Wirklichkeit, wie sie früher war, haben sie so lieben gelernt oder sich zumindest an sie gewöhnt und sehen daher im Neuen vor allem die Zerstörung all dessen, was ihnen über Jahrzehnte ans Herz gewachsen war. Insofern beruht der Pessimismus des Alters schlicht auf der Unfähigkeit, sich an das Neue zu gewöhnen und seinen Eigenwert zu erkennen.
Und doch scheint es in unserer Zeit objektive Gründe für einen gerechtfertigten Pessimismus zu geben. Die globale Vermüllung von Luft durch CO2, Wasser durch Plastik und Erde durch Kunstdünger und Pestizide ist schließlich ein unleugbares Faktum. Manche beklagen zudem, dass Industrialisierung die Welt zunehmend hässlich macht. Schauen wir uns die deutschen Lande zur Zeit Goethes an, so war noch alles wundersam klein und überschaubar. Im Jahre 1786 lebten in einer Stadt wie Weimar gerade einmal 6200 Menschen, und es gab viele aus heutiger Sicht romantische Winkel und Rückzugsgebiete, wie man sie gegenwärtig nur noch in Museumsstädtchen wie Rothenburg ob der Tauber künstlich am Leben erhält. Auch wenn das Leben für viele Menschen damals sehr viel härter und beschwerlicher war, die Natur war vor zwei Jahrhunderten noch sehr viel besser erhalten. Erst das vergangene Jahrhundert hat weltweit Städte hervorgebracht, die eher Betonwüsten gleichen und baumlose Landschaften, deren Monokulturen unter einer Decke von Pestiziddünsten gleichsam begraben liegen. So viele No-go Areale wie in unserer Zeit, vor denen man lieber die Augen schließt und die Nase verstopft, hat es auf unserem Globus zu keiner früheren Zeit gegeben. Dem ist freilich hinzuzufügen, dass typischerweise nur alte Menschen so sprechen, weil nur sie sich daran erinnern, wie es in der Vergangenheit einmal war. Junge wachsen in der neuen Welt auf und besitzen die wunderbare und lebensnotwendige Fähigkeit, Augen für alles zu haben, was ihnen daran gefällt.
Ein Vergleich mag illustrieren,
was ich damit meine. Ich könnte mir keine schlimmere Aussicht vorstellen, als den Rest meines Lebens irgendwo in Grönland inmitten von Schnee- und Eiswüsten zu verbringen, aber die Inuit, die in diesen Landschaften geboren und darin groß geworden sind, haben den Zauber der vielen Verwandlungen von Schnee und Eis für sich entdeckt und der Kargheit eine Fülle von Gefühlen und Namen verliehen, wie es nur Menschen vermögen, die gleichsam mit ihrer Umgebung verwachsen sind, so als wäre diese ein Teil ihrer selbst. Es ist das Vorrecht jeder neuen Generation, dass sie die Welt, die sie mit wachen Sinnen erlebt, auf ihre Weise beseelt und selbst das Kargste in eine Fülle verwandelt. Was die Älteren nur noch als einen Verlust erleben, wird für die Jungen zu einer Entdeckungsreise. Mag die Welt in objektiver Betrachtung während der vergangenen zweihundert Jahre auch nachweisbar um einiges hässlicher geworden sein – manche würden sagen – sehr viel hässlicher und uniformer -, so wiegt die subjektive Sicht, die doch überall wieder neue Schönheiten entdeckt, doch mindestens ebenso schwer.
Als Deutschlands ehemaliger Kanzler Helmut Schmidt
den berühmt-berüchtigten Satz aussprach: Wer Visionen hat, sollte den Arzt aufsuchen, war er schon über fünfzig alt, da fallen manchen Leuten solche Sätze schon ein. Es liegt eben nahe, Visionäre ebenso wie Radikale eher unter den Jungen zu suchen. Der Realismus hingegen, d.h. die Fähigkeit, die Wirklichkeit so widersprüchlich, facettenreich und komplex zu sehen, wie sie tatsächlich ist – sie also nicht so umzudeuten, wie man sie gerne sehen möchte -, scheint mir weniger an das Alter gebunden zu sein. Gerade die großen Veränderer – man denke an weltgeschichtliche Akteure wie Julius Cäsar, Napoleon oder Winston Churchill zeichnen sich bei aller Konsequenz des Wollens durch einen bemerkenswert nüchternen Blick auf die Wirklichkeit aus. Der Handelnde, der die Realität mit seinen Wunschvorstellungen verwechselt, ist unfähig, Widerstände zu überwinden, weil er sie gar nicht erst als solche richtig erkennt. Nur realitätsblinde Visionäre sind gut beraten, zum Arzt zu gehen, weil ihnen das Gespür für das Wirkliche fehlt.
Das Alter zieht sich aus dem aktiven Handeln zurück,
es besinnt sich auf das Denken. Aus der Perspektive der Jugend kann man das als einen Verlust verstehen. Aber es liegt darin auch eine gewaltige Chance. Goethe hat einmal gesagt: Der Handelnde ist immer gewissenlos, es hat niemand Gewissen als der Betrachtende. So ist es. Wer handelt, setzt seinen Willen immer auch gegen den Widerstand seiner Mitmenschen durch. Der Betrachtende aber nimmt eine Distanz gegenüber den Dingen ein. Diese Distanz wirkt sich auf die Einschätzung der Möglichkeiten menschlichen Handelns aus. Man braucht nicht erst in die Geschichte zu blicken, es genügt die Bekanntschaft mit der Gegenwart, um überall großes Unrecht zu erkennen. Im Kampf dagegen kann der Handelnde daher schon ein gutes Gewissen haben. Aber das Alter verfügt über eine weitere Einsicht, die der Jugend fast immer fehlt. Was schlecht ist, wissen wir tausendfach, aber es gibt kein Rezept für eine vollkommene Welt. Angenommen wir hätten es gefunden und es vielleicht sogar verwirklicht, so würde uns in vor lauter Perfektion binnen kurzem so tödlich langweilig sein, dass wir jedes Verbrechen begehen, nur um aus dem Paradies zu fliehen. Es ist kein Zufall, dass Dante so viel von der Hölle zu schreiben wusste, und ihm – wie allen Dichtern und Denkern einschließlich Karl Marx – so wenig einfällt, wenn er das vollkommene Sein beschreibt.
Das Alter kann und will nicht vergessen,
weil das Leben mehr und mehr zu einer Erinnerung wird, denn seine aktive Veränderung liegt ja schon in den Händen der Jungen. Das hat seine unbestreitbaren Vorteile – es liegt darin auch ein Akt der Befreiung und sogar der Beglückung. Der Betrachtende will nichts von den Dingen, und sie wollen nichts von ihm. Er lässt sie leben und sprechen, und überlässt sich ganz den Eindrücken, die ihn dabei bewegen. Schopenhauer hat den Glückszustand einer solchen Betrachtung in einer unvergleichlichen Passage ausgedrückt. „Wenn man… sein Individuum, seinen Willen, vergisst und nur noch als reines Subjekt, als klarer Spiegel des Objekts bestehend bleibt; …dann ist … der in dieser Anschauung Begriffene nicht mehr Individuum …sondern er ist reines, willenloses, schmerzloses, zeitloses Subjekt der Erkenntnis.“
Das ist das Vorrecht des Alters, dass es zumindest einige solcher glückhaften Augenblicke erlebt, in denen es zum reinen, willenlosen Subjekt der Erkenntnis wird.