Wir sind gerade dabei, einen echten Zusammenbruch zu erleben, den Kollaps des Gewohnten, weil sich die Welt diesmal hinterrücks und über Nacht verändert und nicht auf schleichend unmerkliche Art, wie sie das gewöhnlich zu tun pflegt. Verschreckt kauern die Leute in ihren Wohnhöhlen, die Straßen sind leer, der Verkehr steht still, Flugzeuge sind vom Himmel verschwunden.
Das ruft in mir die Erinnerung
an jene Zeiten wach, als man die Wirklichkeit immer schon in ihrer ganzen Unberechenbarkeit erlebte. In Tausendundeiner Nacht zieht eine Karawane durch die Wüste, und plötzlich taucht wie eine Fata Morgana die Ruine eines Palastes und ein zerborstener Springbrunnen auf. Bei diesem Anblick raufen sich die Menschen die Haare, weil sie die Freude und Pracht zu sehen glauben, die da einmal herrschte, und wie nun alles zu Staub geworden ist. Nirgendwo habe ich das Gefühl der Vergänglichkeit und die tiefe – und zugleich so süße – Melancholie ähnlich tief empfunden wie in diesen Texten der Araber.
Und jetzt auf einmal erleben wir selbst,
wie unsere eigene Welt von einem Tag auf den anderen gleichsam erstarrt. Dabei hatten wir doch alles von A gleich Auto bis Z gleich Zukunft vollständig durchversichert! Was konnte uns da eigentlich noch passieren? Das Gefühl der Vergänglichkeit wehte uns niemals an, das hatten wir vollständig aus unserem Bewusstsein hinausgedrängt. Alles war bei uns ja immer ganz neu – das Alte wurde bedenkenlos auf den Müll expediert, ja, und das geschah selbst mit alten Menschen, von deren Tod wir so wenig wissen wollten wie von dem eigenen.
Und alles das ist jetzt auf einmal ganz anders,
plötzlich wissen wir, wovon die Araber sprachen, wenn sie den „Zerstörer aller Freuden und Trenner der Vereinigungen“ in heiligem Pathos beschwören. Obwohl unser eigenes Ungemach im Vergleich eher harmlos anmutet – es bricht ja „nur“ gerade die Wirtschaft zusammen, und „nur“ die Ältesten sind wirklich bedroht -, ahnen wir in einem solchen Moment vielleicht, wie es den Juden zweitausend Jahre lang erging. Sie mussten in jedem Augenblick damit rechnen, dass ihre Welt zusammenbrach. Meines Wissens haben sie sich in ihrer Literatur eher mit der scharfen Waffe des Witzes gegen das Leid gewehrt. Nur in ihren Gesängen, spüren wir dieselbe tiefe Innigkeit der Melancholie.
Wir spüren es ebenso in den Gesängen eines Francois Villon, in diesem wunderbaren Vers: Mais où sont les neiges d’antan? Aber wo ist nur der Schnee von gestern geblieben? Bis vor kurzem war uns dieser Vers und das Gefühl der Vergänglichkeit völlig fremd. Der Schnee von gestern interessierte uns nicht, wir haben immer nur um das Kalb des Neuen getanzt.
Aber nun – nein, ein Weltuntergang
wird auch dies nicht werden. Vielleicht haben wir nach einem Jahr wieder alles vollständig vergessen, und das Leben verläuft wieder so wie zuvor, nur einige unter uns werden die Erinnerung nicht loswerden können, dass diese Normalität in unserer modernen Risikogesellschaft von vornherein gefährdet ist. Das gilt nicht nur für unsere angebliche Sicherheit, unsere vermeintliche Unangreifbarkeit, unsere hartnäckig verteidigten Gewissheiten, sondern es gilt selbst noch für unsere Probleme von gestern. Auch diese erscheinen auf einmal ganz irreal. Ja, wenn der rote Hahn auf dem eigenen Dach sitzt, ist sogar der Kampf gegen den Neoliberalismus passé. All die vielen Blogger und Weltverbesserer, die in den vergangenen Friedensjahren sich unablässig bemühten, ihren Mitbürgern klar zu machen, dass sie in der schlechtesten aller Welten leben, wären jetzt schon froh, wenn man sie nur wieder aus dem Gefängnis ihrer Wohnungen befreit und ihnen wieder die Begegnung mit anderen Menschen erlaubt. Denn auf einmal haben wir ein echtes und hautnahes Problem, bis dahin waren viele Probleme nur eingebildet.
Ja, und selbst echte
und gestern noch virulente Probleme, verschwinden wie von einem Schwarzen Loch aufgesogen. Fragt jetzt noch irgendwer nach Greta Thunberg und all den schulschwänzenden Schülern, die doch auf ein viel größeres Problem aufmerksam machten, nämlich die Zerstörung der Ökosphäre? Greta könnte jetzt wochenlang vor den Parlamenten sitzen, niemand würde sie jetzt noch beachten. Ja, wir hören geradezu, wie Putin und Trump so richtig tief aufatmen: „Gott sei Dank, dieser Spuk ist endlich verflogen“.
Und die Europäische Kommission? Die spricht nicht mehr über grüne Offensiven, jetzt geht es um Wichtigeres, nämlich darum, dass nicht am Ende noch der ganze Laden auseinanderfliegt, ich meine das Europäische Projekt, denn jeder Staat riegelt die eigenen Grenzen ja gerade gegen die anderen ab, und jeder ist so sehr mit sich selbst beschäftigt, dass Solidarität und Hilfe für die anderen nur noch Fremdwörter sind.
Ich weiß von dieser Untergangsstimmung
ein besonderes Lied zu sind, denn ich dürfte der einzige in Österreich und in Deutschland einer aus höchstens einer Handvoll von Leuten sein, die Nachrichten täglich in chinesischer, russischer und japanischer Sprache (auf CVTV-4, 1TVRUS, NHK und JSTV 2) verfolgen und außerdem noch in größeren Abständen Sendungen und Printartikel unserer nahen und fernen Nachbarn Frankreich, England, Italien und USA. Die Japaner und die Italiener des Veneto scheinen nach den Chinesen die einzigen zu sein, die durch eine entschlossene Politik der Eindämmung Coronavirus in den Griff zu bekommen scheinen. Die russischen und chinesischen Kommentare zeichnen sich durch eine gewisse Genugtuung darüber aus, dass der Westen sich offenbar in Auflösung befinde.
Das Bombardement mit schlechten Nachrichten
aus aller Welt richtet in meinem Kopf keine Verheerungen an. Ich weiß, selbst Italien hat in ferner Vergangenheit schon viel Schlimmeres erlitten. Man denke an Florenz um die Mitte des 14. Jahrhundert. Was die Menschen damals durchmachen mussten, kam dem Jüngsten Gericht sehr viel näher. Damals wütete der Tod ohne Ansehen der Person, er tötete fast jeden zweiten Einwohner. Die Menschen wurden durch eitrige, übelriechende Beulen am ganzen Körper entstellt, Kinder und Erwachsene, Bettler, Priester und Adlige fielen der Krankheit gleichermaßen zum Opfer, und die Totengräber in ihren schwarzen Kleidern mit langen Schnäbeln auf den Masken verwandelten die Stadt in eine surreale Hölle.
In dieser größten Not konzipierte Giovanni Boccaccio
seinen Dekamerone. Einige junge Männer und Frauen feierten den Mut zum Leben trotz oder gerade wegen des Untergangs. Das war nach dem grässlichen Unglück der Beginn der größten Epoche in der Geschichte Italiens, es war eine echte Neugeburt, es war jene „Wiedergeburt“, die wir gewöhnlich als Renaissance bezeichnen.
Welch ein Trost auch in unserer Situation!