(Auch erschienen in „Humane Wirtschaft“)
Die Philosophie hat es schwer in unseren Tagen. Wie eine alte Dame von vornehmer Abkunft macht sie noch immer durch herrschaftliches Auftreten und ein gewaltiges Selbstbewusstsein von sich reden – geradeso, als wüsste sie nicht, dass man hinter ihrem Rücken längst über den Zombie spöttelt. Gewiss, an fast allen Universitäten ist Philosophie noch präsent, aber man braucht ihren hochtrabenden griechischen Namen nur ins Deutsche zu übersetzen, um ein herablassendes Lächeln zu provozieren. Was ist da von ‚Weisheitsliebe’ noch übrig? Geht es den Leuten um den Ernst des Lebens, beschäftigen sie sich mit Betriebswirtschaftslehre, Logistik oder Physik. Wenn sie sich amüsieren wollen, haben sie mit Weisheit schon gar nichts im Sinn.
Es scheint nur eine Frage der Zeit, bis die Dame mit dem hippokratischen Gesicht in aller Stille das Zeitliche segnet. Das hängt wohl auch mit ihrer unbequemen Stellung zwischen zwei Stühlen zusammen, die beide von sehr ernst zu nehmenden Okkupanten besetzt sind: auf dem einen thront Religion und verspricht ihren Anhängern Glück in dieser und das Heil in der anderen Welt, auf dem anderen macht sich die Wissenschaft breit und protestiert mit Beweisen und Fakten gegen einen in ihren Augen armseligen Glauben.
Der Philosoph als Außenseiter – politisch selten korrekt
Die Religion pocht für sich auf den Vorrang, dass ihre Wahrheiten nicht sterblichen Hirnen entstammen, sondern von überirdischen Mächten den Menschen geschenkt worden sind. Philosophie, wie wir sie heute verstehen, hat dagegen frühzeitig aufbegehrt. Aufgekommen ist sie überhaupt erst in der von Karl Jaspers so bezeichneten Achsenzeit, als einzelne Denker zum ersten Mal gegen das Kollektiv und seine angeblich gottverbürgten Wahrheiten protestierten. Diesem setzten sie ihren je eigenen Standpunkt entgegen.
So gesehen, bezeichnet Philosophie eine geschichtliche Wende. Dem, was alle für richtig hielten, weil ein Gott, die Götter oder eine bis in die fernste Vergangenheit reichende Tradition keine andere Weltsicht neben sich duldeten, setzte der mündige Einzelne sein ‚Ceterum censeo’ entgegen. Das waren tollkühne Akt der politischen Unkorrektheit, die nicht allein Sokrates mit dem Leben bezahlen musste. Philosophen traten als Querdenker in Erscheinung, als Aufrüttler, aber auch als Zerstörer alter Gewissheiten. Die Balinesen glaubten, die Welt würde auf dem Rücken einer Schildkröte ruhen, die Christen, dass sie in sieben Tagen erschaffen wurde, die Azteken, dass die Sonne nur aufgehen würde, wenn der Herrscher sie unentwegt mit Kriegsgefangenen füttert. Jede noch so abenteuerliche Darstellung der Wirklichkeit haben Menschen fraglos hingenommen, solange sie als kollektiver Besitz – von Göttern beglaubigt – in den Köpfen verankert war. Was man glaubte, darüber brauchte man nicht zu streiten. Der Glaube stellte Einheit und Gewissheiten her; in einer unsicheren Existenz bot er ein schützendes Gehäuse.
Philosophie wurde in griechischer Zeit vor allem in oder nahe den großen Handelsmetropolen geboren, wo verschiedene Glaubenslehren diametral aufeinander prallten und einander auf diese Weise gegenseitig relativierten. Die bloße Tatsache solcher Verschiedenheit führte den Gläubigen ja eindringlich vor Augen, dass man dieselben zentralen Fragen des Lebens eben auch ganz anders beurteilen konnte. Aus dieser Erschütterung der Selbstverständlichkeiten ging und geht überall Philosophie als Infragestellung kollektiver Gewissheiten hervor.
Wahr oder falsch – die Grundbegriffe der wissenschaftlichen Weltsicht
Der Aufforderung zur Nachdenklichkeit verdankt aber auch jenes ganz spezifische Fragen seine Entstehung, das wir heute als ‚Wissenschaft’ bezeichnen. Ihre Erkundungen richtet diese an einem zentralen Gesichtspunkt aus: Was ist wahr, was ist falsch – und zwar so, dass man diese Frage durch Beweise entscheidet, die jedermann einzusehen vermag?
Offensichtlich ist wahr, dass Körper im freien Fall beschleunigt werden; es wäre falsch, eine gleichmäßige Geschwindigkeit anzunehmen. Es ist wahr, dass die Sonne tagsüber nur auf einer Hälfte des Globus zu sehen ist; es wäre falsch, ihre dauernde Sichtbarkeit zu behaupten. Im gleichen Sinne sind alle geltenden Gesetze wahr, welche die Wissenschaften von der Natur bisher zu finden vermochten, während bloße Vermutungen über noch unbestätigte Gesetze entweder wahr oder falsch sein können. Gesetze treffen Aussagen über unbegrenzt viele Geschehnisse, die in der äußeren Welt auftreten. Wahr sind sie für die Wissenschaft ausschließlich dann, wenn sich die behaupteten Ereignisse tatsächlich nachweisen lassen.
Der Gegensatz zu den Wahrheiten der Religion liegt auf der Hand. Diese sind für gläubige Menschen ganz unabhängig davon in Geltung, ob sie sich aus der beobachteten Wirklichkeit ableiten oder durch sie bestätigen lassen. Niemand weiß, ob es ‚wirklich’ ein Leben nach dem Tode gibt oder ob Allah seine Eingebungen ‚wirklich’ von einem Engel erhielt.
Die Wissenschaft – zumindest die der Natur – lässt unbewiesene oder unbeweisbare Aussagen nicht gelten. Ihre Aussagen sind in dem Sinne ‚objektiv’ (d.h. ‚gegenständlich’), dass ihr Gegenstand, die äußere Natur mit ihren Gesetzen, für alle Menschen derselbe ist – unabhängig von ihrem Wollen und Wünschen. Hier liegt der Grund, warum die Lehrbücher der Physik überall auf der Welt ein und denselben Inhalt aufweisen, gleichgültig ob in China oder in Deutschland.
Der Aufstand gegen das ‚Objektive’
Eine Binsenwahrheit? So könnte es scheinen, aber gegen diese Objektivität, gegen diesen von außen stammenden Zwang haben sich Denker immer erneut empört, ja, ihn als illusionär verworfen. Und es ist ja auch wahr: Selbst die strengste Wissenschaft, die Physik, ruht auf einem Sockel der Subjektivität, weil Menschen sich erst einmal über die Begriffe einig sein müssen, in denen sie über die äußere Wirklichkeit reden. Ceteris paribus beginnt Wasser immer bei 100 Grad zu kochen und bei Null Grad zu gefrieren, aber diese und alle anderen Naturkonstanten lassen sich auf alternative Weise beschreiben, wenn man andere Maßstäbe wählt (Fahrenheit, Réaumur, Inch oder Zoll zum Beispiel).
An der Gültigkeit und Objektivität der Gesetze ändert sich dadurch allerdings nichts, denn die Ordnungen der Natur bleiben dieselben, gleichgültig, welche Konvention der Wissenschaftler bei ihrer Beschreibung verwendet. Vergebens wurde die Übermacht einer objektiv uns gegenüberstehenden Natur bezweifelt. Durch Zauber, Magie, Beschwörungen und mit anderen Überlistungsversuchen glaubten Menschen sich gegen Kugeln und Kanonen zu wappnen, so als wären sie in der Lage, durch ein ausreichend intensives menschliches Wünschen die Gesetze der Natur auszuhebeln. Aber man weiß, wie derartige Experimente zu enden pflegten, und zwar schon in jenen frühen Zeiten als es statt Kugeln und Kanonen nur Steinschleudern oder Pfeile gab: Sie endeten tödlich.
Weniger gefährlich, aber nicht weniger abwegig war es, wenn hoch-idealistische Philosophen wie etwa Gottlieb Fichte die Natur zu einem Geschöpf menschlicher Vorstellung machten (einem Nicht-Ich, das dem Ich aus dem Kopfe springt). Es war kurios, wenn Paul Feyerabend wahr und falsch hinwegzaubern wollte, indem er diese Kriterien vom jeweiligen kulturellen Standpunkt abhängig machte, so als würde die Schwerkraft in China und Indien andere Wirkungen als in Europa erzielen. Es war absurd, wenn Paul Watzlawick die Realität überhaupt zu einem Konstrukt menschlichen Denkens erklärte, denn das trifft allein auf die Konvention ihrer Beschreibung zu.
Wären diese Denker im Recht, dann könnte es all die Apparate nicht geben, die Menschen seit der Erfindung von Pfeil und Bogen mit Hilfe der überall gleichen Naturgesetze erdacht und verfertigt haben. Diese Erfindungen und diese Beherrschung der Natur kraft universaler Gesetze sind aber ein Faktum, und deshalb bleiben ‚wahr’ und ‚falsch’ die Grundbegriffe einer Wissenschaft, welche die objektiv vorhandenen Ordnungen und Zwänge der Natur beschreibt. Allerdings trifft es zu, dass Kulturen auf je eigene Art viele Dinge der Vorstellung als wahre und unbestreitbare Tatsachen behandeln, obwohl sie nicht zu den objektiv gegebenen gehören. In diesem Sinn konstruieren Menschen sehr wohl ihre je eigene Realität.
Autorität und Beobachtung
Menschliches Denken bewegt sich zwischen zwei weit auseinander liegenden Polen: zwischen der Religion auf der einen Seite und der Wissenschaft auf der anderen. Die erste besteht auf einer von höherer Warte garantierte und dabei kollektiv verankerte Wahrheit, welche die beobachtbare Wirklichkeit souverän überschreiten darf. Die zweite duldet ausschließlich Wahrheiten, die in möglichst weitgehender Übereinstimmung mit der empirischen Beobachtung stehen (zumindest nicht durch sie widerlegt werden können). Die erste bezieht sich auf eine personale Autorität – die eines Religionsgründers oder eines Propheten zum Beispiel, die dann aber ihrerseits eine überirdische Macht als den wahren Angelpunkt ihrer Lehren bezeichnen. Die zweite, die Wissenschaft, ist radikal diesseitig orientiert. Sie akzeptiert keinen personalen Machtspruch, woher er auch kommen mag. Ihre einzige Autorität ist die von allen Menschen beobachtbare Wirklichkeit selbst, wie sie sich in ihren Ordnungen und Gesetzen manifestiert.
Auflehnung – der Ursprung der Philosophie
Das sind die beiden seit langem besetzten Stühle, zwischen denen der Philosoph Platz nehmen soll. In vorsokratischer Zeit, als im Abendland die Philosophie zum ersten Mal ihre Stimme erhob, hat sie sich gleich zu Beginn für die Distanzierung von religiösen Gewissheiten entschieden. Der Ursprung von Philosophie bedeutete entschiedene Abkehr von den vorgeschriebenen Wahrheiten, man denke nur an die Worte eines Xenophanes: „Wenn aber die Pferde … Hände hätten und mit diesen Händen malen könnten, so würden /sie/ die Götter abbilden … in der Gestalt von Pferden …“. Noch radikaler war die materialistische Reduktion alles Wirklichen durch Demokrit und Leukipp. Das gesamte Weltgeschehen wurde von ihnen auf die unterschiedlichen Relationen von kleinsten materiellen Teilchen, den Atomen, zurechtgestutzt. So wurden Götter und mit ihnen auch gleich noch der sinnende, wollende Mensch durch bloße Mechanik ersetzt.
Die militante Abgrenzung von allen Dogmen, welche die Autorität vorschreibt, beherrschte auch das Denken der Philosophen während des 17ten und 18ten Jahrhunderts. Sie gipfelte in Voltaire’s berühmt-berüchtigtem Ausspruch: Ecrasez l’infâme! – zermalmt die Niedertracht (des klerikalen Lagers). Wie schon zur Zeit der alten Griechen mehr als zweitausend Jahre zuvor fand auch dieser Aufstand des individuellen Denkens gegen die Autorität im Namen einer Wissenschaft statt, die ganz auf das empirisch Nachweisbare fixiert war. Einige unter den damaligen Philosophen gehörten selbst zu den ausgewiesenen Wissenschaftlern – das galt zum Beispiel für Leibniz, d’Alembert oder für Kant -, zum größeren Teil aber traten sie wie Voltaire nur als deren populäre Anwälte und Fürsprecher auf. Die Botschaft, welche im Namen der Aufklärung damals verkündet wurde, war in jedem Fall eindeutig. Philosophie solle sich, bitte schön, zwischen Wahrheit und Dichtung entscheiden. Wo die Wahrheit zu finden sei, galt dabei als ausgemacht: bei den Wissenschaften. Deshalb seien alle Aussagen der Philosophie einzig an deren wissenschaftlichem Gehalt zu messen.
Analytische Philosophie
Die angelsächsische Philosophie (nur wenige scherten aus, vor allem der einzigartige William James) sollte in Bertrand Russell ihren wohl überzeugendsten Vertreter finden. Sie setzte die genannte Tendenz nicht nur ins zwanzigste Jahrhundert fort, sondern hat sie bis zu letzter logischer Konsequenz zugespitzt. Philosophie wurde zur Magd der Wissenschaft, ihre einzige Berechtigung sollte von nun an darin liegen, deren logische Grundlagen zu erhellen. Analytische Philosophie, welche, von dem großen Engländer begründet, heute weltweit die meisten Lehrstühle besetzt und als ernsthafte Konkurrenz nur noch die Geschichte der Philosophie neben sich duldet, hat sich dieses Programm zu eigen gemacht.
Das hatte schwer wiegende Folgen. Philosophie, die in den Zeiten ihrer Blüte die öffentliche Meinung aufwühlte und sie manchmal sogar beherrschte, ist zu einer unbeachteten Disziplin von Fachleuten geschrumpft, deren Meinungen so gut wie keine Beachtung finden. Anders gesagt, die Grande Dame ‚Weisheitslehre’ wurde zu einem Zombie mit geringen Überlebensaussichten.
Wie kann es sein, dass ein Denken, das ausschließlich der Suche nach Wahrheit verpflichtet ist, ganz in die Bedeutungslosigkeit absinkt?
Wollen und Wünschen – der Kernbereich menschlicher Existenz
Der Grund für den spektakulären Niedergang hat gewiss nichts damit zu tun, dass die moderne Philosophie die wissenschaftliche Erklärung der Wirklichkeit akzeptiert. Jeder zeitgenössische Philosoph würde sich lächerlich machen, fiele er stattdessen in das Weltbild des Mittelalters oder das der Azteken zurück. Es gibt kein Zurück hinter die heute universale Methodik und Erkenntnis der Wissenschaften. Das Problem der Philosophie liegt daher auch keineswegs darin, dass sie die wissenschaftliche Aufklärung und damit den Maßstab von wahr versus falsch akzeptiert. Es ist einzig darin begründet, dass wissenschaftliche Wahrheit nur halbe Erkenntnis ist, weil ihr der wesentliche Teil menschlicher Existenz nicht in den Blick gerät, nämlich jenes subjektive Wünschen und Wollen, das sie grundsätzlich aus ihrer Erkenntnis verbannt.
Es ist aber dieses subjektive Wünschen und Wollen, welches das Denken und Handeln jedes einzelnen Menschen ebenso wie das der Staaten und Nationen durchgehend beherrscht. Für den kommenden Tag beabsichtige ich zum Beispiel, einem Freund ein Geschenk zu machen, den nahe gelegenen Berg zu besteigen, ein Bild zu malen, ein Gedicht zu verfassen oder eine Revolution anzuzetteln. Keine dieser in meinem Kopf aufkommenden Willensregungen gehört dem Bereich objektiver Geschehnisse an, die sich analog den vorhandenen Ordnungen der Natur als wahr oder falsch einstufen lassen. Der Vers, den ich schreiben möchte oder das Bild, das vor meinen Augen steht, erscheinen mir als ‚schön’. Diesem ästhetischen Motiv verdanken sie ihre Entstehung. Die Besteigung eines Berges oder der politische Protest stehen mir als ‚gut’ oder ‚wünschenswert’ vor Augen. Diesmal ist es ein ethisches Motiv, das den Ausschlag gibt.
Dabei stoßen wir notwendig auf eine Wahrheit, die auch die Wissenschaft akzeptieren musste (Max Weber hat dies ausdrücklich getan): Weder mein ästhetisches noch mein ethisches Wollen und Wünschen lassen sich aus den objektiven Gegebenheiten der Welt herleiten. Daher kann Wissenschaft grundsätzlich dazu nichts sagen. Sie wendet sich ja nur solchen ‚objektiven’ Ereignissen zu, die unabhängig von allem subjektiven menschlichen Wollen und Wünschen bestehen.
Anders gesagt, muss Wissenschaft in dem Augenblick verstummen, wo es um das Wichtigste im Leben von Mensch und Gesellschaft geht. Ihre Erkenntnis schöpft sie immer aus dem Rückblick auf das Vorhandene, sie ist retrospektiv: Rückblickend auf das Vergangene deckt sie dessen Ordnungen auf. Damit erzielt sie die erstaunlichsten Erfolge, weil diese Ordnungen und ihre Gesetze eben auch für die Zukunft gelten und unser Wollen dadurch mit unüberschreitbaren Schranken umhegen. Aber die Vergangenheit determiniert das Kommende immer nur partiell (und eröffnet damit das weite Feld von Freiheit). Die bestehende Ordnung hindert keinen Menschen daran, in jedem Augenblick seines Lebens das unerhört Neue zu kreieren, das in einer aufsehenerregenden Erfindung, einer Revolution oder dem simplen Entschluss bestehen kann, einen nahe gelegenen Berg zu besteigen – alles Ereignisse, die allein in meinem subjektiven Wollen und Wünschen wurzeln. In jedem Augenblick wird neue Wirklichkeit von jedem Menschen (und allen sieben Milliarden zusammen, die den Globus bevölkern) in gutem wie in bösem Sinne aus subjektiven Beweggründen erschaffen. Die Wirkung ist spektakulär: Aus dem Weltraum betrachtet, sieht der Planet gegenwärtig völlig anders aus als etwa vor zweihundert Jahren.
Schöpferische Vernunft
Was menschliche Köpfe fortwährend kreieren – die jedes Einzelnen ebenso wie die von Gesellschaften, Staaten und allen anderen menschlichen Kollektiven -, sind Willensakte für eine ethisch bessere Welt, für die Gleichheit der Geschlechter, für militärische Abrüstung, für mehr Generationengerechtigkeit, für grünere Städte, für eine schönere Architektur, für mehr Bildung oder auch für das Gegenteil – und dies ad Infinitum. Dagegen wird in den Laboren der großen Konzerne oder an universitären Forschungsstätten ausschließlich über Tatsachen geforscht, die unabhängig von diesem Wollen bestehen, aber als Mittel zu eben diesen Zwecken eingesetzt werden können. Die rückblickende oder instrumentelle Vernunft der Wissenschaften beschreibt den objektiven Teil des Realen unabhängig von menschlichem Wollen, die schöpferische hat einen rein subjektiven Ursprung, weil sie auf nichts anderem beruht als eben auf diesem Untergrund: dem menschlichen Wollen.
Betrachtet man ihn aus der Vogelschau, so bildet der Bereich wissenschaftlicher Erkenntnis mit seinen Kriterien von wahr versus falsch nur einen sehr kleinen Teil der Vernunft im Verhältnis zu jenem tausendstimmigen Konzert von subjektiven Willensakten, die den Maßstäben von gut versus schlecht, nützlich versus unnütz, schön versus hässlich gehorchen. Alles, was uns wirklich berührt, aufwühlt, begeistert oder umgekehrt abstößt, anwidert und zu heftigen Protesten anstachelt und bis zum Aufruhr reizt, fällt in den ethischen Bereich von gut oder schlecht und den ästhetischen von schön oder hässlich, mit anderen Worten in den Bereich der schöpferischen Vernunft.
Eine Philosophie, die dem Menschen gerecht wird
Eine Philosophie, die ihren Namen als Weisheitslehre verdient, müsste sich wieder mit dem Menschen befassen, wie er tatsächlich ist: nämlich mit dem Menschen als wollendem und wünschenden Wesen, das in jedem Moment seines bewussten Lebens auf die umgebende Natur und seine Mitmenschen einzuwirken versucht. Im kleinen geschieht das im eigenen Haus oder Garten und in der eigenen Familie, im großen wird darum in der Weltpolitik gerungen. Die Mittel, der sich jeder zu diesen Zwecken bedient, müssen sich an den wissenschaftlichen Kenntnissen orientieren, aber die Zwecke selbst lassen sich nicht aus der objektiven Natur und ihren Gesetzen deduzieren. Sie haben ihren Ursprung in der subjektiven Freiheit des Menschen.
Die analytische Philosophie, die von Demokrit bis Bertrand Russell reicht, hat unser Wissen über die Objektivität des Realen immens bereichert. Wie die exakten Wissenschaften ist sie zu einer universalen Sprache geworden, welche die Welt der Tatsachen in zunehmender Tiefe durchdringt und anschließend die Regeln zu ihrer technischen Verwertung liefert. Nie sollte man aber vergessen, dass Wissenschaft und Technik immer nur Mittel sind, um menschlichen Zwecken zu dienen. Diese selbst aber gehören zu einer anderen Dimension. Mit ihnen überschreitet und überwindet der Mensch die vorhandene ‚objektive’ Realität, um sie durch eine ersehnte bessere zu ersetzen. Während Wissenschaft sich mit den Tatsachen befasst, bereiten die Zwecke der schöpferischen Vernunft den Boden für mögliche Wirklichkeiten. Eine Philosophie, die nur noch den Bereich des Tatsächlichen absteckt und erkundet, stirbt den emotionalen Kältetod. Sie bedeutet den Menschen nichts mehr.
Jede Philosophie, die den Menschen halbiert, weil sie nur die retrospektive oder instrumentelle Vernunft gelten lässt, verzerrt das Antlitz des Menschen. Die Armut und Bedeutungslosigkeit der analytischen Philosophie beruht nicht darauf, dass sie sich mit aller Entschiedenheit den wissenschaftlichen Maßstab von wahr versus falsch zu eigen macht, sie liegt ausschließlich darin, dass sie nichts anderes kennt als die instrumentelle Vernunft, während sie die schöpferische (weil diese wissenschaftlich nicht greifbar ist) aus ihrer Weltsicht verdrängt. So hat sie den Menschen auf ein kümmerliches Restwesen reduziert.
Bleibt nur Beliebigkeit übrig?
Mancher kritische Wissenschaftler könnte einen solchen Vorwurf allenfalls akzeptieren. Doch drängt sich ihm sofort eine beunruhigende Frage auf. Worin ist schöpferische Vernunft verankert, wenn ihre subjektiven Äußerungen sich nicht nach dem Maßstab von wahr versus falsch beurteilen lassen? Wenn jeder von uns frei ist, in einem bestimmten Augenblick ein Buch aufzuschlagen, einen Ausflug zu machen oder ein Bild zu malen, ist solche Freiheit dann nicht Ausdruck von Willkür und Zufall? Und muten schöpferische Vernunft und Freiheit nicht eher peinlich an, wenn sie auf Willkür und Zufall begründet sind? Das Reich der Zwecke mit den darin beschlossenen ethischen wie ästhetischen Werten scheint radikal entwertet, wenn Subjektivität gleichbedeutend mit Beliebigkeit ist. Wendet ein Wissenschaftler, der sein Heil seit dem 17ten Jahrhundert in ‚ewigen’ und ‚ehernen’ Gesetzen sucht, sich nicht aus gutem Grund von solcher Beliebigkeit ab?
Das Subjekt als Quell des Neuen
Das Problem der menschlichen Freiheit hat viel Verwirrung gestiftet. Stimmt es wirklich, dass der schöpferische Prozess, der in jedem Moment menschlicher Existenz die Gestaltung der persönlichen und kollektiven Zukunft beherrscht, nichts anderes produziert als jede Roulettescheibe auch, nämlich den Zufall? Man kann diese Frage nicht mit dem Hinweis erledigen, dass die instrumentelle Vernunft der schöpferischen ja in der Regel die nötigen Hilfsdienste leiste. Der Bau einer Brücke von Reggio Calabria nach Sizilien verlangt höchstes technisches Können – andernfalls wäre der Vorsatz der schöpferischen Vernunft so wenig zu realisieren wie eine Seilbahn zum Mond. Doch dieser Einwand ändert nichts an der bloßen Hilfsrolle der instrumentellen Vernunft – der Vorsatz selbst hat nichts mit ihr gemein. Er entspringt subjektiv ethischem Wollen, das die einen für gut erachten, die anderen nicht.
Für eine richtige Antwort auf die zuvor gestellte Frage ist diese Tatsache letztlich entscheidend. Subjektive Akte menschlichen Wollens stehen in der Kritik anderer Menschen. Eine Brücke von Kalabrien nach Sizilien ist weder wahr noch falsch, man kann die Idee nur als gut oder schlecht bewerten, je nachdem ob man in ihrer Verwirklichung die bestmögliche Verwendung knapper Steuergelder erblickt oder nicht. Ein Maßstab ist zweifelsfrei vorhanden, aber ein ganz anderer als in der Wissenschaft. Er ist ethischer Natur und orientiert sich an Vorbildern und Autoritäten, die ihrerseits bestimmte Meinungen zu diesem Thema haben. Wenn ich mich entschließe, ein Buch über soziale Gerechtigkeit zu schreiben, dann nicht weil sich in meinem Kopf eine Roulettescheibe dreht, die am Ende gerade diesen und keinen anderen Gedanken in meinem Hirn aufblitzen lässt, sondern weil zeitgenössische Strömungen des Denkens mich tausendfach in diese Richtung treiben. Diejenigen, die ich als vorbildlich erachte, beeinflussen mich und liefern mir Orientierung.
Die schöpferische Vernunft hängt also keineswegs in der Luft, nur weil der Maßstab von wahr versus falsch in ihr außer Geltung ist. Die Alternative zu dem, was die instrumentelle Vernunft nicht als wahr oder falsch aus der bestehenden Ordnung abzuleiten vermag, sind nicht Beliebigkeit oder Zufall, so als würde das Neue, das in unseren Köpfen entsteht, aus dem Nichts geboren. Der wirksame Bezugspunkt sind die Vorbilder anderer Menschen, ihr Einfluss und ihr Charisma, kurz Autorität.
Synthetische Philosophie
Religionen haben das zu ihrer Zeit Unerklärliche durch Dogmen ersetzt und damit die Fragen nach wahr und falsch unterdrückt. Darin liegt der historische Grund, warum die Philosophie und schließlich die Wissenschaften so heftige Kritik an ihr übten. Sie haben jene Hälfte der Wahrheit unterdrückt, die der Mensch erst zu finden vermochte, wenn er sich von allen Dogmen befreite. Andererseits haben sie den Menschen immer in seiner Eigenschaft als wollendes und wünschendes Wesen gesehen, das sich an Zwecken orientiert, deren letzter Bezugspunkt Vorbilder und glaubhafte Autoritäten sind. Mit dieser Betonung der Zwecke haben sie die einseitige Fixierung der Wissenschaft auf die instrumentelle Vernunft um die schöpferische bereichert.
Religionen sehen die letzte und höchste Autorität außerhalb des einzelnen Menschen und menschlicher Kollektive. Damit mögen sie im Recht sein oder auch nicht, denn Tatsache ist ja, dass es letztlich immer einzelne Menschen oder Gemeinschaften sind, welche die jeweiligen ethischen und ästhetischen Werte geschaffen haben. Der Philosoph ist deshalb gut beraten, die Aussagen der Religionen nicht allzu wörtlich zu nehmen. Doch er hat guten Grund, sich seiner Lage zwischen den beiden Stühlen von Religion und Wissenschaft nicht zu schämen, denn Religion ergänzt die Wissenschaft eben auf ähnliche Weise wie die schöpferische die instrumentelle Vernunft.
Vorbild und Autorität – die der lebenden Mitmenschen wie die vergangener Generationen – liefern den Maßstab der schöpferischen Vernunft, der sich als nicht weniger bedeutsam erweist als wahr versus falsch. Im Blick auf die ‚objektive’ Natur sieht der Mensch radikal von sich selber ab, also von seinem Wollen und Wünschen, andernfalls hätte er ihre Gesetze niemals erkunden können. Aber sobald er, wie es im täglichen Leben die durchgehende Regel ist, seinen Zwecken und Sehnsüchten folgt, ist es die Auseinandersetzung mit anderen Menschen, die ihn leitet, dann orientiert er sich an Vorbildern und Autoritäten.
In dieser Perspektive ist die Stellung des Philosophen zwischen den beiden Stühlen von Religion und Wissenschaft nicht länger unbequem, sondern erweist sich im Gegenteil als besonderer Vorzug. Mit ihrer Beschränkung auf nur eine Hälfte der menschlichen Vernunft ist die analytische Vernunft kläglich gescheitert. Sie hat die nach Gesetzen funktionierende berechenbare Natur in den Mittelpunkt, den schöpferisch-freien Menschen dagegen an den Rand des Universums gestellt. Ist es da nicht naheliegend, zu einer Synthese zu gelangen, die beide Hälften wieder zusammenfügt, indem sie der schöpferischen Vernunft einen mindestens gleichrangigen Platz wie der instrumentellen zuerkennt? Die Philosophie der Freiheit, die ich der analytischen entgegenstellen möchte, würde dann wohl den Namen einer ‚synthetischen Philosophie’ verdienen.
Wer weiß, vielleicht könnte eine solche Synthetische Philosophie der grande Dame Philosophie, die heute zu einem Zombie verkümmert ist, neuerlich einen frischen Lebensgeist einhauchen?