Ist von Wissen und Wissenschaften die Rede, dann muss sich einem nachdenklichen Beobachter ein seltsamer Zusammenhang aufdrängen: Verlässlichkeit und Gefahr stehen in umgekehrtem Verhältnis. Das gesicherte Wissen der Physiker ist, wie die darauf beruhenden technischen Produkte beweisen, unbedingt zuverlässig. Als reines Wissen ist es auch niemals gefährlich. Es steht jenseits von Gut und Böse. Das gilt selbst für die Technik, die erst aufgrund des mit ihr verbundenen Zwecks ihr lebensförderndes oder lebensfeindliches Potential entfaltet.
Es leuchtet ein, warum es sich mit unserem auf die Natur bezogenen Wissen gerade so und nicht anders verhält. Die Sterne machen sich nichts daraus, ob wir sie mit den Griechen für göttliche Wesen oder mit der modernen Physik für unbeseelte Klumpen aus Materie halten. Die Natur lässt es insgesamt kalt, welche Beschreibungen wir von ihr liefern. Neuerdings sieht es so aus, als würden die Elektronen eine Ausnahme von dieser Regel zu bilden. Es scheint sie nicht gleichgültig zu lassen, ob wir sie nach ihrem Ort oder ihrem Impuls befragen. Doch diese Ausnahme ist wohl nur scheinbar. Es spricht vieles dafür, dass sich die Elektronen mit ihren Launen in Wirklichkeit nicht nach unseren Bewusstseinszuständen richten, sondern nach den Instrumenten, mit denen der Physiker ihnen zu Leibe rückt. Jedenfalls funktionieren moderne LED-Leuchten, die ohne die Quantenphysik nicht entstanden wären, ganz unabhängig davon, wie wir über sie denken. Das Wissen, welches ihrem Leuchten zugrunde liegt, ist nicht weniger zuverlässig als alle anderen gesicherten Erkenntnisse über Naturvorgänge.
Ganz anders verhält es sich mit dem Wissen der ökonomischen Experten: Vieles davon ist alles andere als verlässlich. Deswegen gilt ja auch nicht die Ökonomie, sondern die Physik als Königin unter den Wissenschaften. Der daraus hervorgehende Minderwertigkeitskomplex der akademischen Ökonomie hat zur Folge, dass diese sich bis heute verzweifelt bemüht, ihre wenig verlässlichen Aussagen wenigstens in das Gewand imponierender mathematischer Formeln zu kleiden. Das erweckt den Anschein größerer wissenschaftlicher Seriosität.
Umso mehr tritt ein anderes Merkmal hervor, das beim physikalischen Wissen (als reinem Wissen jenseits aller Anwendungen) überhaupt keine Rolle spielt, nämlich die davon ausgehende Gefahr. Der Gegenstandsbereich der Physik ist eine gegen menschliche Vorstellungen gleichgültige Natur, der Gegenstand der ökonomischen Wissenschaften ist der handelnde Mensch. Dieser kann sehr wohl und oft augenblicklich und radikal darauf reagieren, wenn man über ihn ein bestimmtes Wissen verbreitet. Was ein amerikanischer oder europäischer Notenbankchef, ein Mitglied des deutschen Sachverständigenrats oder ein renommiertes ökonomisches Institut über den Zustand des Geldes, die Sicherheit von Finanzanlagen, die zukünftige Zahlungsfähigkeit eines Landes oder die Qualität von Immobilienkrediten veröffentlicht, ist eine Aussage über menschliches Handeln, die unmittelbare Auswirkungen auf ihren Gegenstand, nämlich das menschliche Handeln, hat. Sie kann Zusammenbrüche und Katastrophen bewirken. Dieses Wissen ist ausgesprochen gefährlich. Im Unterschied zur Natur macht sich der Mensch sehr viel daraus, was andere Menschen von ihm denken.
Das wiederum erklärt, warum ein großer Teil des ökonomischen Wissens so wenig verlässlich ist. Da es die Wirklichkeit unmittelbar zu beeinflussen und damit zu lenken vermag, besteht eine wichtige – wenn nicht überhaupt die wichtigste – Funktion der Wirtschaftswissenschaften in der Gesundbeterei. Die führenden Ökonomen werden gebraucht, um im Auftrag von Regierungen und Parteien Gutachten zu erstellen, welche den Anschein erwecken, so objektiv wie die der Physik zu sein, in Wahrheit jedoch Beschreibungen liefern, welche die handelnden Menschen in eine bestimmte von der politischen Macht gewünschte Richtung drängen. Da das Eingeständnis der Wahrheit sich mit diesem Anliegen selten verträgt, wird die Wahrheit von Notenbankchefs und den im Dienste einer Regierung tätigen Gutachtern in der Regel gemieden. Bestenfalls lässt man sie in verklausulierter, gerade noch dem Fachmann verständlicher Form durchschimmern. Doch kommt es natürlich sehr darauf an, den Schein der Wahrheit zu wahren – darin liegt ja der propagandistische Wert solcher Stellungnahmen. Dieser Schein wird durch den Anspruch auf wissenschaftliche Objektivität erzeugt. Auch krasse Unwahrheit wird in das schöne Gewand der wissenschaftlichen Wahrheit gekleidet.
Das grundlegend andere Verhältnis von Wahrheit und Gefahr macht verständlich, warum Physiker keine Scheu davor besitzen, Sonnen- und Mondfinsternisse, Vulkanausbrüche und sogar das Verglühen der Sonne mitsamt dem Ende unseres irdischen Gastspiels vorauszuberechnen. Ganz anders die Ökonomen. Nicht nur verspüren 98% von ihnen keinerlei Drang, die häufigen wirtschaftlichen Zusammenbrüche vorherzusagen, sondern sie sind in dieser Hinsicht auch offenkundig mit Blindheit geschlagen. Ob Große Depression nach 1929, Asienkrise von 1997 oder der Crash der New Economy; ob Zusammenbruch des US-Immobilienmarktes, der Lehman Bank oder der Schuldenkollaps der frühen Industrienationen – gerade die einflussreichsten Ökonomen werden durch ein wirksames Tabu daran gehindert, diese Krisen vorherzusehen, denn es besteht die Gefahr, dass sie diese durch ihre Vorhersage beschwören. Die wachsende Verschuldung des Staates im Verhältnis zur volkswirtschaftlichen Leistung ist schon seit Jahrzehnten ein Faktum und ebenso evident ist die logische Folgerung, dass diese Entwicklung nicht nachhaltig sein kann. Unter „seriösen“ Ökonomen herrschte jedoch der Imperativ der Gesundbeterei, weil staatliches Schuldenmachen sich bei Regierungen, Gläubigern und der beschenkten Bevölkerung bis vor kurzem der allgemeinen Beliebtheit erfreute. Ökonomen, die mit nüchterner Analyse aufgezeigt hätten, dass man mit ihrer steten Vermehrung zwangsläufig auf den Kollaps zusteuert, hätten zwar die Wahrheit gesagt, aber eine solche Wahrheit war gar nicht gefragt.
Die Ökonomen sollten zu der Einsicht gelangen, dass sich hier ein fundamentaler Gegensatz zwischen den Wahrheiten der Physik und denen ihrer eigenen Disziplin offenbart. Himmelskörper und selbst das launische Elektron haben nichts gegen die Aussagen der Physiker einzuwenden, aber eine Regierung, die mächtige Lobby der Gläubiger und nicht zuletzt auch die Bevölkerung kümmern sich sehr wohl darum, was man über ihre Vorsätze und Handlungen verlautbart. Nicht genehmen Wissenschaftlern entziehen sie Aufträge und Honorare, während sie all jene, die ihnen nach dem Munde reden, entsprechend belohnen und soziales Prestige verleihen. So konnte es dazu kommen, dass eine der wichtigsten Funktionen führender Ökonomen darin besteht, Unwahrheit im pseudowissenschaftlichen Gewand zu verbreiten. Was aber die Wahrheit betrifft – jene Wahrheit, die alle Wissenschaften doch angeblich mit größter Hingabe suchen – so überlässt man sie den meist belächelten Außenseitern, die man, sofern ihre Meinungen überhaupt Beachtung finden, gern zu Sonderlingen erklärt.
Das habituelle Gesundbeten und Schönfärben der führenden Ökonomen hat unausweichliche und, wie wir gerade heute zu spüren bekommen, auch dramatische Folgen. Unter anderem führt es dazu, dass gefährliche Entwicklungen so lange wie möglich verdrängt, verschwiegen oder verharmlost werden – bis dann zuletzt – und scheinbar für alle höchst überraschend – die Krise hereinbricht, die sich beim besten Willen nicht mehr totschweigen lässt, weil aus dem Schneeball inzwischen eine Lawine wurde. Was haben die Wirtschaftswissenschaften also mit der gegenwärtigen Krise zu tun?
Jeder mag diese Frage für sich beantworten.
Was haben die Wirtschaftswissenschaften mit den Brandstiftern auf Londons Straßen zu tun?
Noch eine weitere Frage möchte ich zumindest in die Diskussion einbringen. Was haben die beunruhigenden Vorgänge in unserem Nachbarland, wo die Jugend, wenn sie nur könnte, eine ganze Hauptstadt abfackeln würde, mit den Wirtschaftswissenschaften zu tun? Auf den ersten Blick überhaupt nichts, zumal es sicher viele kriminelle Mitläufer gab. Doch es lohnt sich, auch hier etwas tiefer unter die Oberfläche zu schauen. Dann stößt man auf einen ursächlichen Bezug, der aber diesmal nicht auf jenem Teil ökonomischer Aussagen beruht, welche die Wahrheit einem gewünschten Zweck unterwerfen, sondern auf Aussagen, die im Gegenteil fast so verlässlich sind wie die der Physik. Denn allen gegenteiligen Behauptungen zum Trotz gibt es auch Erkenntnisse in der ökonomischen Wissenschaft, die fast den Status von Gesetzen genießen.
Dazu gehört seit Adam Smith die Einsicht, dass die Teilung der Arbeit und die Größe der produzierenden Einheiten wesentlich für die Verminderung der Produktionskosten sind und deshalb den materiellen Wohlstand vermehren. Ein einziges großes Elektrizitätswerk, das ein möglichst großes Gebiet beliefert, verbraucht weniger Investitionsmaterial und arbeitet wirtschaftlicher als hundert kleine Werke für ein gleich großes Gebiet, und es verursacht auch weniger Umweltschäden. Das leuchtet auch einem Laien unmittelbar ein, wenn er die Wirtschaftlichkeit eines einzigen fünfzig Fahrgäste transportierenden Busses mit der von 25 Autos vergleicht, die jeweils nur zwei Personen befördern. Der Bus ist nicht nur wirtschaftlicher, sondern auch schonender für die Umwelt. Dieser Vorteil der „economies of scale“ gilt natürlich ebenso für Auto- und Flugzeugkonzerne, für Chemiewerke und Computerhersteller. Sehen wir einmal von den ungünstigen Folgen mangelnden Wettbewerbs und den Transportkosten ab, so würde man den maximalen materiellen Wohlstand für die gesamte Weltbevölkerung zweifellos dadurch erreichen, dass ein einziger Autokonzern auf die billigst mögliche und die umweltschonendste Art sämtliche Fahrzeuge der Welt an einem einzigen Ort produziert. In sämtlichen Sparten der Produktion lassen sich wohlstandsfördernde Wirtschaftlichkeit und ökologische Rationalität auf gleiche Art maximieren.
Ich wüsste nicht, was man aus rein ökonomischer Sicht gegen diese Logik und Tatsachenevidenz einwenden könnte. Die Wirtschaftswissenschaften haben hier eine Gesetzmäßigkeit aufgedeckt, die im menschlichen Bereich ebenso gültig ist wie die Erkenntnisse der Physik in der Natur. Daher kann es kaum überraschen, dass diese Einsicht nun ihrerseits zu einer die ökonomische Wirklichkeit formenden Kraft werden konnte. Seit zweihundert Jahren ist es überall in der Welt zu Konzentrationsprozessen bei gleichzeitig fortschreitender Teilung der Arbeit gekommen. Die Einheiten, in denen sich die arbeitsteiligen Produktionsschritte vollziehen, wurden dabei sukzessive vergrößert. Unter dem Dach weniger globaler Großkonzerne werden die für die weltweit marktbeherrschenden Produkte benötigten Komponenten von einer immer kleineren Zahl immer größerer Unternehmen erzeugt.
Die ökonomische Wissenschaft hat damit Erkenntnisse gewonnen, deren Verlässlichkeit sich mit denen der Physik vergleichen lässt. Zugleich aber überrascht sie uns damit, dass sich auch diese Erkenntnisse als besonders gefährlich erweisen. Denn materieller Wohlstand und psychisches Wohlbefinden (oder Lebensqualität) sind ja durchaus nicht dasselbe. Der Prozess einer permanent fortschreitenden Arbeitsteilung, verbunden mit der zunehmenden Größe der arbeitsteiligen Einheiten, ist zweifellos ein wirksames Instrument zur Vermehrung des materiellen Wohlstands, aber welche Beziehung hat er zum psychischen Wohlbefinden, also zur Qualität unseres Lebens?
Werfen wir zunächst einen Blick auf die Teilung der Arbeit. Die neoliberale Textbuchökonomie befürwortet und verlangt die Auslagerung all jener Teile der Produktion, deren Herstellung auf den Philippinen oder in China billiger ist als in England. Auf diese Weise sind immer größere Teile der industriellen Basis des einstigen Industriepioniers England ins Ausland abgewandert, und immer größere Teile seiner Bevölkerung haben ihre Arbeit verloren oder sind in schlecht bezahlte Servicetätigkeiten abgedrängt worden. Da die Intelligenz in einer Bevölkerung der Gaußschen Normalverteilung entspricht, wird ein großer Teil der Bevölkerung nie in den anspruchsvollen Bereichen der Hochtechnologie gebraucht werden können, d.h. er wird dauerhaft arbeitslos bleiben. Selbst wenn der gesamtstaatliche Wohlstand (wie er sich im Wachstum manifestiert) immer noch zunimmt und es aus privatwirtschaftlicher Sicht ökonomisch sinnvoller ist, den Arbeitslosen eine kleine Sozialhilfe auszuzahlen als sie in unrentablen Betrieben über Wasser zu halten, so sind wir doch mit einer unausweichlichen Folgerung konfrontiert: Die Lebensqualität, d.h. das psychische Wohlbefinden, hat sich für den ausgegrenzten Teil der Bevölkerung entscheidend verschlechtert. Dieser Teil wird als Prekariat abgestempelt.
Ebenso tiefgreifende Wirkungen sind mit der Konzentration der Produktion bei immer weniger Großkonzernen verbunden. Man braucht die Steigerung der Produktivität gar nicht bis zu dem Punkt weiterzudenken, wo die gesamte Weltbevölkerung schließlich von wenigen Unternehmen beliefert wird, um schon weit früher zu einem für die Gesellschaft höchst gefährlichen Zustand zu gelangen: Ein großer Teil der Bevölkerung wird keine Arbeit finden, weil er im ökonomischen Apparat einfach nicht mehr gebraucht wird.
Und mit diesem Ausblick komme ich zu den randalierenden Jugendlichen in London. Sie sind sich deutlich bewusst, dass sie keine Arbeit erwarten dürfen, und zwar nicht aufgrund eigenen Versagens, etwa weil sie selbst gar nicht arbeiten wollen, sondern weil es sich nach neoliberaler Textbuchökonomie einfach nicht lohnt, ihnen in England Arbeit zu geben. Alle Arbeit, zu der sie aufgrund ihrer Ausbildung und Intelligenz fähig wären, wird in den Schwellenländern billiger angeboten. Für England, aber auch für Deutschland oder Frankreich, ist es günstiger und ökonomisch auch rationaler, diesen Jugendlichen statt bezahlter Arbeit Sozialunterstützung wie Hartz IV und ähnliches zu gewähren. Nicht nur die Ökonomen, sondern auch viele der von ihnen beratenen Politiker sehen darin einen vertretbaren Weg, zumal die ausgeschlossenen Jugendlichen ja keiner physischen Not ausgesetzt sind. Das Sozialgeld reicht für Ernährung und Unterkunft, insofern sind sie weit besser dran als mehrere Milliarden Menschen in den Entwicklungsländern. Ein Gemeinwesen, das sie auf Kosten seiner Steuerzahler erhält, kann sich vor aller Welt auch noch seiner sozialen Leistungen rühmen.
Steht am Ende nur die verstörende Frage im Raum: Warum gehen die Jugendlichen trotzdem auf die Straße? Warum plündern und brandschatzen sie und verüben Orgien der Gewalt? Plünderungen kann man ja zur Not noch begreifen. Auf diese Weise gelangen sie an Dinge wie Fernseher und Computer, die sie sich mit der Sozialhilfe schwerlich leisten können. Doch warum zerstören sie auf ihren Raubzügen obendrein auch noch alles, was ihnen unter die Fäuste kommt? Warum stecken sie am Ende die geplünderten Kaufhäuser auch noch in Brand? Augenzeugen berichten, dass diese Orgien von Gewalt und Zerstörungswut offenbar eine befreiende Wirkung ausübten. Es machte ganz den Eindruck, als wenn die jungen Leute Spaß bei ihrem Tun empfanden. Während links und rechts die Häuser in Flammen standen, sahen sie sich als Helden.
Londons Brandstifter leiden keinen Hunger und keine materielle Not, die sich auch nur entfernt mit jener Not messen ließe, die so viele Menschen in den ärmsten Teilen Afrikas und Asiens erleiden. Aber sie werden von einer anderen Not heimgesucht, die wiederum in vielen der ärmsten Länder weit weniger verbreitet ist: Diese Jugendlichen werden von niemandem gebraucht. Sie haben keinen ökonomischen Sinn. Entsprechend sind sie nach neoliberaler Textbuchökonomie schlechterdings überflüssig. Denn der Wert eines Menschen wird im Neoliberalismus – der im Grunde nichts anderes als die Vorherrschaft des ökonomischen Denkens über alle anderen Bereiche des Lebens ist – ausschließlich nach seinem ökonomischen Nutzen bestimmt. Die jugendlichen Aufrührer stammen aus Familien, die keinen Nutzen haben und denen daher jede Perspektive verschlossen ist. Diese Menschen haben genug Brot, aber von Brot allein können und wollen sie offenbar nicht leben. Sie möchten auch einen Wert besitzen. Wenn eine Gesellschaft ihnen diesen abspricht, dann werden sie sich Art Gesellschaft mit blindem Hass rächen.
Durch den Aufruhr der Jugendlichen in London werden auch jene als blauäugige Phantasten entlarvt, die sich die neoliberale Weltsicht auf ihre Weise zueigen machen, indem sie soziale Probleme einfach mit 1000 Euro kurieren wollen. Damit sorgt man für etwas mehr als das tägliche Brot, gewiss, aber anders als in den Ländern südlich der Sahara zählt das Brot in einer reichen Gesellschaft recht wenig. Man wird nicht dadurch zum Menschen, dass das eigene physische Überleben gesichert ist – mit soviel Fürsorge dürfen bei uns ja schon die Haustiere rechnen -, sondern man wird es durch die Anerkennung von Seiten anderer Menschen und das dadurch erzeugte Selbstwertgefühl. Anerkennung aber kommt dadurch zustande, dass man einander braucht und dies auch sichtbar zum Ausdruck bringt. In unserer Gesellschaft sind Arbeit und Einkommen nach wie vor die wichtigsten Instrumente, um soziale Achtung zum Ausdruck zu bringen und den einzelnen Selbstwertgefühl zu vermitteln. Gesellschaftliche Teilhabe, nicht das Brot macht bei uns den Menschen.
Zwischen den Erkenntnissen der Textbuchökonomie und dem psychischen Wohlbefinden besteht demnach ein offenkundiger Konflikt. Wer die ökonomische Rationalität – so unanfechtbar diese für sich genommen auch sein mag – absolut setzt, der zerstört die Gesellschaft, weil er über dem Menschen als nützlichem Humanmaterial den Menschen vergisst, der soziale Anerkennung ebenso braucht wie das tägliche Brot. Die großen Konzernherren und ihre hilfreichen Lobbyisten, die ihre Weltsicht an die Politiker weitergeben, sind mit der Wirtschaftstheorie bestens vertraut. Überwiegend handeln sie rational. In diesem Punkt ist ihnen meist weniger vorzuwerfen als ihren Kritikern lieb ist. Was ihnen fehlt, ist das Wissen um den Menschen und seine Bedürfnisse. Der Maßstab der kostengünstigsten Produktion lässt es zu, dass wachsende Teile der Jugend als überflüssiges Prekariat ausgegrenzt werden, der Maßstab der Verantwortung für das gesellschaftliche Ganze verbietet ein solches Vorgehen. Schon der nachhaltige Umgang mit der Natur ist mit einem Wohlstandsmaximum nicht in Übereinstimmung zu bringen, das man ausschließlich auf der Grundlage ökonomischer Rationalität definiert. Noch weniger verträgt sich die ausschließlich ökonomische Rationalität mit dem politischen Ziel, die Gesellschaft vor innerem Konflikt und Zerfall zu bewahren. Ohne emotionale Intelligenz, welche die rationale sinnvoll begrenzt, wird Wirtschaft zu einem engen und toten Gehäuse, das selbst dann, wenn alle Räder sich scheinbar reibungslos drehen und es am materiellen Wohlstand nicht fehlt, in immer mehr Menschen Unruhe und Aufruhr bewirkt und schließlich auch blinde Zerstörungswut.