MASA – Make America Small Again?

Außer ein paar Gedenktafeln und einer Reiterstatue von Dschingis Khan erinnert in der eher trostlosen Stadt Ulaanbaatar nichts daran, dass dieser abgelegene Flecken einst der Mittelpunkt der Erde war, damals als die Weltherrschaft der Mongolen nahezu den ganzen eurasischen Kontinent umspannte – von China über Persien und den Irak bis nach Russland. Und wer heute das kleine Österreich inmitten der Berge seinen Besuch abstattet, vermag sich schwerlich vorzustellen, dass Wien jahrhundertelang über einen Vielvölkerstaat herrschte. Was soll man da noch über England sagen, dass bis vor etwas mehr als hundert Jahren die vorherrschende Industriemacht war, auf seinem Höhepunkt mehrere Kontinente zugleich regierend? Heute hat es nahezu alle seine großen Industrien verloren. Es wäre ein Armenhaus, wäre ihm nicht der Finanzsektor und das Öl vor seinen Küsten verblieben. Sic transit gloria mundi!

Ja, nationale Größe, besonders die einer weltbeherrschenden Macht, gleicht einem kurzen Rauschzustand, auf den dann die große Ernüchterung folgt. Je höher der Sockel der Macht, den eine Nation errungen, desto tiefer der Sturz, dem sie sich in der Folge ausgesetzt sieht. Keines der äußeren Kennzeichen der Macht ist dagegen gefeit, sich aus einem Segen in einen Fluch zu verkehren. Das beginnt bei der Weltleitwährung und endet bei den Militärbasen, den eigentlichen Stützpunkten der Macht..

Nach dem zweiten Weltkrieg lag ein großer Teil der Welt in Trümmern, die USA hatten keinen Krieg auf dem eigenen Territorium zu erleiden. Dank dem New Deal von Franklin D. Roosevelt war ihre Wirtschaft auf dem Weg, die alte Stärke zurückzugewinnen, sie konnten sich eine militärische Übermacht in der Größenordnung von über 50% aller weltweiten Rüstungsausgaben leisten. Schon dreißig Jahre zuvor, im Ersten Weltkrieg, konnten die USA aufgrund ihrer industriellen Leistung als kriegsentscheidende Ordnungsmacht in Erscheinung treten, nach Ende des zweiten war diese Stellung unbestritten. Die Rolle der USA als Führungsmacht verschaffte dem Dollar in kurzer Zeit den Rang einer Weltleit- und Reservewährung. Überall sonst schwankten die Währungen, konnten abwerten und Ersparnisse im großen Maße vernichten. Dagegen rückte der Dollar nun zum sichersten Zahlungsmittel auf.

Immer mehr Staaten begannen deshalb nicht nur den eigenen Handel mit den USA, sondern auch ihre Geschäfte untereinander in Dollar abzuwickeln; Preise und Kosten ließen sich so am sichersten kalkulieren. Um aber erst einmal an amerikanische Dollar zu gelangen, mussten sie Waren an die Vereinigten Staaten verkaufen. Doch das allein genügte nicht. Sie durften keinesfalls im selben Umfang Waren von den USA kaufen – in diesem Fall hätten sie ihren Vorrat an Dollars nicht vermehren können.

Das Ergebnis ließ nicht auf sich warten. Der Erfolg des Dollars als Weltleitwährung musste zwangsläufig zu einer negativen Handelsbilanz der Vereinigten Staaten führen – ebenso wie der Erfolg jedes anderen nationalen Zahlungsmittels, wenn es die Rolle als Weltleitwährung übernimmt. Donald Trump und seine Berater haben das offenbar nicht begriffen oder wollen es nicht begreifen. „Sie – unsere Konkurrenten – ziehen uns über den Tisch. Sie verkaufen uns ihre Waren, kaufen aber viel weniger von uns. Das darf nicht so bleiben!“

Es muss auch nicht so bleiben. Die Situation kann sich sehr schnell ändern, aber nur dann, wenn der Dollar seine Stellung als Weltleitwährung verliert. Die Chinesen warten nur darauf, ihrem eigenen Zahlungsmittel, dem Yuan, zu dieser Stellung zu verhelfen.

Die zwangsläufig negative Handelsbilanz erweist sich zugleich als ein Fluch und ein Segen für den Alphastaat. Sie ist ein Segen, weil ihr eine eigene Art von Handel zugrundeliegt. Während alle andere Staaten mit gleichwertigen Waren handeln, wobei Geld nur als Mittel der Transaktion in Erscheinung tritt, dient die Weltleitwährung als internationales Zahlungsmittel und wird daher von allen Staaten um ihrer selbst willen nachgefragt. Alle sind bereit, ihre Waren gegen Dollar einzutauschen, d.h. gegen nichts anderes als bedrucktes Papier (ohne ihrerseits Waren im gleichen Wert von den USA zu beziehen).

Vorteilhaft ist dieser Tausch für den Alphastaat allerdings nur in kurzfristiger Perspektive. Auf lange Sicht erweist sich der Segen als Danaergeschenk, weil der Weltleitwährungsstaat vieles nicht mehr selbst zu produzieren braucht, was er auf so bequeme Art von außen bezieht. Seine Entwicklung trägt daher den Keim des Zerfalls von Anfang an in sich. Zu Beginn seines Aufstiegs verdankt er die eigene Macht einer weit überlegenen Industrie (auf der er dann eine nicht weniger überlegene Militärmacht errichtet), im selben Augenblick aber, wo sich seine industrielle mehr und mehr in finanzielle Macht verwandelt, beginnt die Leitwährung diese Basis durch fortschreitende Deindustrialisierung auszuhöhlen. Um zu Dollars zu gelangen, produzieren die Konkurrenten weit mehr Industriegüter für den Markt des Alphastaates als dieser umgekehrt für ihre Märkte. In den achtziger Jahren, auf dem Höhepunkt seiner industriellen Entwicklung, überschwemmte Japan mit seinen Industrieprodukten die Vereinigten Staaten, importierte seinerseits aber fast nur noch landwirtschaftliche Güter aus Nordamerika. Noch bis April 2025 galt das ebenso von China, welches Walmart und alle übrigen Supermärkte der USA mit bis zu neunzig Prozent versorgte. Seit den neunziger Jahren hatten die großen amerikanischen Industrieunternehmen diesen Prozess ihrerseits noch beschleunigt, indem sie immer größere Bereiche ihrer Produktion in Billiglohnstaaten – vor allem nach China – verlagerten, um sich dadurch auf dem Weltmarkt Preisvorteile zu verschaffen.

Die erfolgreichsten Exporteure: Japan, Deutschland, China erwirtschaften schließlich einen so großen Dollarüberschuss, dass dessen sichere Veranlagung für sie zu einem Hauptproblem wird. Irgendwo muss dieser Überschuss angelegt werden – gewinn-bringend, vor allem aber sicher. Da kommt nun wieder der Alphastaat ins Spiel. Wer sonst könnte die verlangte Sicherheit besser verbürgen als die stärkste Militärmacht der Welt? Also legen sie ihren Überschuss vorzugsweise im dortigen Aktienmarkt oder in den Staatsobligationen an – und werden damit zu den größten Gläubigern der USA, die ihrerseits zum größten Schuldner ihrer Konkurrenten werden.

Neuerlich erweist sich das für den Alphastaat als Fluch und Segen zugleich. Es ist ein Segen, weil der US-amerikanischen Wirtschaft damit Mittel in einer Menge zur Verfügung stehen wie keinem anderen Staat. Die gewaltigen finanziellen Mittel, die sie zum eigenen Schutz und zu dem ihrer Verbündeten in der Konfrontation mit der Sowjetunion aufbringen mussten, ebenso wie die Kriege im Iraq und Afghanistan, wurden weitgehend mit den Einlagen ausländischer Gläubiger bezahlt. Was die letztgenannten zwei Kriege betrifft, so kosteten sie zwischen 2003 bis Ende 2006 rund 400 Milliarden Dollar. Etwa im gleichen Zeitraum erwarben die chinesische Devisenverwaltung amerikanische Staatsanleihen und staatlich garantierte Pfandbriefe im Wert von 464 Milliarden Dollar. Für die Vereinigten Staaten sind das natürlich bis allerdings Schulden, die ihnen nur so lange wenig Sorgen bereiten müssen, wie sie ihre Stellung als Weltmacht behaupten. Doch wehe, wenn sie es nicht mehr sind und der Dollar kollabiert…  

Der Fluch ist aber auch in diesem Fall evident, weil die Nachfrage nach dem Dollar dessen Kurs gegenüber allen anderen Währungen dermaßen stärkt, dass amerikanische Industrieprodukte auf dem Weltmarkt immer schwerer verkäuflich sind – ein weiterer Faktor, der die Deindustrialisierung des Alphastaates begünstigt. In der Vergangenheit hatte China die eigene Währung noch dazu bewusst manipuliert, also gegenüber dem Dollar abgewertet, um dem eigenen Export dadurch Vorteile zu verschaffen. Das haben Trump und seine Berater sehr wohl erkannt. Mit ihren erratischen Zollexperimenten verbreiten sie so große Unsicherheit, dass der Dollar am Ende dieses gefährlichen Spiels nicht nur sinken, sondern kollabieren könnte. Wirtschaftliche Isolation vermag das Land zwar nicht in den Ruin zu treiben, weil die USA vom Ausland ökonomisch weit weniger abhängig sind als umgekehrt. Aber die USA würden mit der Abdankung des Dollars den Status als Führungsmacht verlieren. Glauben Trump und seine Berater auf diese Art Amerika wieder groß zu machen?

Der dritte Faktor, der die anfängliche Stärke eines Alphastaats mit der Zeit zwangsläufig erodieren lässt, sind die exorbitant hohen Militärausgaben, womit dieser seine Macht behaupten und absichern muss. Wie schon gesagt, entfielen am Ende von Weltkrieg II auf die USA mehr als fünfzig Prozent der weltweiten Rüstungsausgaben. Sie waren die unbestrittene Führungsmacht. Heute beträgt ihr Anteil nur noch 38 Prozent, während sich der von China als zweitgrößter Militärmacht bereits auf 14 Prozent beläuft. Wenn Chinas Wirtschaft um fünf Prozent jährlich wächst, wachsen die Staatseinnahmen und Militärausgaben um den gleichen Betrag. So lässt sich jetzt schon voraussagen, dass sie die USA spätestens zwischen 2030 bis 2035 auch militärisch eingeholt haben werden.

Donald Trump, dessen Intelligenz und Charakter sonst als sehr zweifelhaft gelten müssen, hat diesen Niedergang amerikanischer Macht deutlich erkannt. Die trostlosen Rostgürtel im ganzen Land sind längst nicht mehr zu übersehen. Daher sein Versprechen, Amerika neuerlich groß zu machen. Er glaubt auch zu wissen, wer an diesem Niedergang schuld ist, nämlich die Verbündeten, die den amerikanischen Schutzschild genießen, dafür aber bis heute nicht zahlen wollen. Natürlich hat Trump auch hier nur zur Hälfte recht. Ebenso wenig wie irgendein anderer historischer Alphastaat sind die USA aus altruistischen Motiven zur Führungsmacht aufgerückt, sondern weil dieser Aufstieg ihnen selbst zunächst einmal gewaltige Vorteile verschaffte. Macht ist ein Aphrodisiakum, das im internationalen Wettbewerb sämtlichen Staaten ihren ökonomischen und militärischen Antrieb verleiht. Denn Macht legt die internationale Hackordnung fest. Nicht Deutschland oder Frankreich können den USA Weisungen erteilen, sondern das bestehende Machtverhältnis wirkt natürlich im gegenteiligen Sinn. Das war mit größter Evidenz kurz vor dem Überfall Russlands auf die Ukraine beim Zusammentreffen von Olaf Scholz und Joe Biden in Washington auch einmal öffentlich zu erleben – vor den Augen der ganzen Welt.

Jeder wusste, dass die finanzielle Unterstützung des Putin-Regimes durch die Europäer ein Dorn im Auge der amerikanischen Regierung war – auch schon unter Donald Trump während seiner ersten vier Jahre im Amt.  Er hatte Angela Merkel unter erheblichen Druck gesetzt, auf russische Gaslieferungen zu verzichten. Joe Biden war nun seinerseits entschieden gegen den deutschen Gasimport. Während ihrer gemeinsamen Pressekonferenz in Washington – das war kurz vor dem russischen Überfall auf die Ukraine – sprach Biden dann Klartext gegenüber dem deutschen Kanzler: „If Russia invades Ukraine, then there will be no longer a Nord Stream 2. We will bring an end to it.“ Als ein Reporter daraufhin fragte, wie das denn möglich sei, immerhin stehe das Projekt doch unter souveräner deutscher Kontrolle, fügte Biden hinzu. „I promise you, we’ll be able to do it.“

Diese in ihrer Deutlichkeit unmissverständliche Drohung ist dem manchmal unbedacht ehrlichen Präsidenten Joe Biden vermutlich nur so herausgerutscht. Jedenfalls konnte Russland kein Interesse an der Sprengung der Pipeline haben, es hätte den Gashahn einfach zudrehen können. Ein Interesse besaß allenfalls die Ukraine, weil sie aufgrund dieser Pipeline auf einen Großteil ihrer Transitgebühren verzichten musste. Aber die Ukraine besaß nicht die komplexe Logistik für einen derartigen Schritt. Sie hätte schon gar nicht dafür sorgen können, dass in der Zeit des Anschlags die Positionierungssignale an und von den dort verkehrenden Schiffen vorübergehend ausgeschaltet wurden. Wenn es sich bewahrheiten sollte, dass ein ukrainisches Schiff zum fraglichen Zeitpunkt an der betreffenden Stelle zu finden war, dann spricht das nur für die Fähigkeit der CIA, alle Spuren zu verwischen bzw. in die falsche Richtung zu lenken.

Im Nachhinein erscheint das Vorgehen der Amerikaner durchaus gerechtfertigt. Es konnte und durfte nicht sein, dass die USA unter Biden der Ukraine ihre volle Unterstützung gewährten, während ihr Verbündeter, Deutschland, zur gleichen Zeit keine Bedenken trug, Putins Kriegskasse aufzufüllen. Ich halte es aber für falsch, dass die USA bis heute ihre Urheberschaft mit größter Entschiedenheit leugnen. Sie hätten diese Lüge nicht nötig gehabt. Siehe auch meinen Artikel vom 29.9.2022.

Und damit komme ich zum zweiten und entscheidenden Teil meiner kleinen Untersuchung über die Rolle und Aufgabe des Alphastaats in der Weltpolitik. Warum braucht die Welt überhaupt eine Supermacht? Die Antwort liegt auf der Hand. Innerhalb von Staaten herrscht Ordnung – ausgenommen den Fall, dass sie in Bürgerkriegen zerfallen. Dagegen ist das Verhältnis zwischen den Staaten immer von Anarchie bedroht, weil es bis heute niemals eine von einer Weltregierung beschlossene und von ihr durchgesetzte Weltordnung gab. Die Funktion, gewisse Grundregeln des zwischenstaatlichen Gebarens festzulegen, hat in der bisherigen Geschichte daher immer nur der jeweils stärkste Staat ausüben können. Eine multipolare Weltordnung, in der niemand und alle das Sagen haben, ist eine Illusion, die am lautesten von denen verlangt und verkündet wird, die nur darauf warten, sie zu ihren eigenen Gunsten abzuschaffen.

Der Alphastaat, der die Weltordnung herstellen muss, kann in dieser Mission allerdings in zwei grundverschiedenen Gestalten auftreten – als grausamer Leviathan oder als milder Hegemon. Leviathan ist jenes Monster, das laut Thomas Hobbes eine für alle Mitglieder verbindliche Ordnung mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln verwirklicht. Da die Menschen im Naturzustand keine Regeln kennen, die ihr Eigentum und Überleben vor der Gier ihrer Mitmenschen schützen, bedarf es einer höchsten Gewalt, der sie sich beugen. Diese Gewalt kann im Extremfall durch Waffen allein ausgeübt werden. Dann beherrscht eine privilegierte Minderheit eine unterworfene Mehrheit allein durch Androhung oder Ausübung von physischer Gewalt. Das war bis vor dreihundert Jahren in sämtlichen agrarischen Massengesellschaften der Fall, wo eine Minderheit von 10 bis maximal 20 Prozent sich von den restlichen 90 bis 80 Prozent mit Nahrung und Dienstleistungen zwangsweise versorgen ließ. Nach der industriellen Revolution wurde die Produktion von Nahrung vervielfältigt, die parasitäre Minderheit greift daher heute auf andere knappe und deshalb hochbegehrte Grundstoffe zurück – vor allem auf Rohstoffe wie Kohle, Öl, Gas, Uran, seltene Erden etc. Ausbeuterische Herrschaft, die auf Gewalt beruht, muss allerdings stets mit Aufruhr von unten rechnen. Das nötigt Leviathan einerseits zu einer umfassenden Kontrolle, um die Bevölkerung durch allseitige Überwachung in Schach zu halten, andererseits zu einer radikalen Einschränkung aller Freiheitsrechte. Die Sowjetunion hat diesen Typus in reinster Form verkörpert. Den Menschen wurden Glück und Gleichheit versprochen, also das Paradies auf Erden. Wer daran nicht glaubte, dem drohte allerdings die Hölle auf Erden – er wurde in einen der vielen Gulags deportiert oder gleich physisch vernichtet. Putins Russland hat diese Tradition fortgeführt, das System beruht auf Überwachung bis in die private Sphäre und auf hemmungsloser Brutalität. Unter Xi Jinping ist China ebenfalls zu einem Überwachungsstaat geworden, gewährt seinen Bürgern aber ein weit größeres Maß an Freiheit als der russische Nachbar. Solange sie die Vorgaben der Partei akzeptieren, die dem Land bis heute einen unglaublichen Aufschwung beschert, dürfen und sollen sich die Bürger Chinas in Wirtschaft, Wissenschaft und Technik ungehindert entfalten.

Die Europäische Union muss sich entscheiden. Obwohl eine große Wirtschaftsmacht, ist sie selbst innerlich zu zerrissen, um als Alphastaat zu taugen. Anders gesagt, bleibt ihr nur die Wahl zwischen Leviathan und dem amerikanischen Hegemon. Dessen Regime war im Vergleich zu dem anderer Weltmächte eher mild. Es ließ und lässt sich nicht vergleichen mit dem Terror, den Stalin, Putin, Chamenei, aber auch Xi Jinping gegen Andersdenkende praktizieren. Die Vereinigten Staaten haben gegen ihre ehemaligen Gegner, Deutschland und Japan, keine Rache geübt, sondern es im Gegenteil zugelassen, dass diese ein Gutteil ihrer technischen Errungenschaften gratis übernehmen durften. Diese Großzügigkeit haben sie nach Präsident Nixons Staatsbesuch in Peking (1972) auch gegenüber China geübt, das seinen phänomenalen Aufstieg vom rückständigen Agrarstaat zu einer führenden Industriemacht nicht nur dem sprichwörtlichen Fleiß, der konfuzianischen Disziplin und der hohen Bildungsbereitschaft seiner Bevölkerung verdankt, sondern vor allem der Tatsache, dass es innerhalb von nur zwei, drei Jahrzehnten das gesamte wissenschaftlich-technische Wissen, das sich der Westen innerhalb von dreihundert Jahren erwarb, nahezu gratis übernehmen durfte.

Europa hat keine Wahl, es muss weiterhin an der Seite der Vereinigten Staaten stehen, aber als eine an den Kosten für die öffentlichen Güter wesentlich beteiligte Macht. Frieden und Ordnung sind das höchste öffentliche Gut überhaupt. Wir wissen, Frieden herrscht innerhalb eines Staates nur deswegen, weil Polizei und Justiz dafür sorgen, indem sie Diebe, Mörder und Betrüger überführen und bestrafen. Dasselbe gilt für den Frieden zwischen den Staaten. Dass diese sich nicht gegenseitig überfallen, ist dem jeweils stärksten Staat zu danken, so lange er in der Lage ist, jede Störung der internationalen Ordnung durch sein Einschreiten zu verhindern. Doch spätestens, wenn er die Kosten dafür nicht mehr allein zu tragen vermag, so müssen die Verbündeten ihren Teil der Last übernehmen. Zum Beispiel im roten Meer, das zu einem toten Meer wurde, seit der Jemen dort im Auftrag Irans Unruhe stiftet. 95 Prozent aller dort transportierten Waren sind europäischen und chinesischen Ursprungs, aber Europa und China sehen tatenlos zu. Wieder sind es die Amerikaner, welche ihre Militärmacht in Stellung bringen. „Wir müssen die Drecksarbeit für sie erledigen. Die Europäer können das nicht“, konnte man vor einiger Zeit von amerikanischer Seite hören.

Der Friede auf der Welt entsteht nicht, weil die Idealisten unter uns ihre friedfertige Gesinnung bekunden. So wie innerhalb jeder Nation muss er auch global durch entsprechende Institutionen und Maßnahmen gesichert werden. Wenn Europa nicht unter das Joch der Mächte Leviathans geraten will, muss es an der Seite der USA seinen Beitrag zu diesem Frieden leisten. Die Fehler amerikanischer Politik dürfen da keine Ausrede sein. Amerikanische Präsidenten haben zeitweise eine törichte Politik betrieben, den Vietnam- und den Irankrieg zum Beispiel. Der eine war ebenso grässlich wie unnötig. Der andere war unglaublich dumm, weil die USA mit der Zerstörung des Irak ihrem Todfeind, dem Iran, sozusagen aus eigener Initiative den Aufstieg ermöglichten. Aber steht es uns Europäern zu, deswegen unsere Nasen überlegen zu rümpfen? Es ist nicht lange her, da hat sich Europa in Bruderkriegen zerfleischt.

Das größte Unglück, das den USA und der gesamten übrigen Welt passieren konnte, ist allerdings Donald Trump, ein Mann, der in seiner Person alles infrage stellt, was bisher Ruhm und Größe seines Landes ausmachte. Er verachtet die Wahrheit, ist vulgär und brutal genug, um einen Krieg auszulösen. „They will kiss my ass to make a deal with me.” Es ist abzusehen, dass die alte Kulturnation China mit einem solchen Mann eher Krieg beginnt als mit ihm zu verhandeln. Trump hegt nicht nur gegen die Wahrheit einen intensiven Widerwillen, sondern ebenso gegen die Bildung, die er aktiv bekämpft und damit jenen Vorrang mutwillig aufs Spiel setzt, den die Vereinigten Staaten in Gestalt ihrer weltweit führenden Universitäten bis heute besitzen. Können wir es anders als abgründige Unwissenheit nennen, wenn er alle Schritte zum Umweltschutz ablehnt bzw. rückgängig macht? Politisch steht er Putin und Kim Jong-un weit näher als der eigenen demokratischen Tradition. Kein Wunder, dass er die Meute gegen das Kapitol aufhetzte und deutlich bekundet, dass er von Wahlen, also der Verfassung des Landes, nichts hält. Inzwischen wird die Inkompetenz seiner Regierung und der von ihm gewählten Berater sogar von seinen früheren Wählern erkannt. Beschlüsse werden heute gefasst und am nächsten Tag widerrufen. MAGA, die Parole auf Fahnen und Käppis wird immer mehr zu MASA: „I will make America small again.“ Es lässt sich nur hoffen, dass Donald Trump in kurzer Zeit so viele Dummheiten begeht (nur hoffentlich nicht gleich einen großen Krieg), dass ein Sturm der Empörung ihn aus dem Amte fegt.

Bleibt nur die Frage, wie ein solcher Mann in einer so großen Nation auf den Posten des Präsidenten gelangen konnte? Das hängt, wie ich meine, mit einem echten Versagen der amerikanischen Politik zusammen. Dort bejubelt man den Gewinner, während man die Verlierer links liegen lässt. Hillary Clinton – immerhin eine Demokratin – hat die Globalisierungsverlierer, die zu Globalisierungsgegnern wurden, öffentlich als „Deplorables“ (erbärmliche Versager) herabgewürdigt. Mit solcher Verachtung macht man sich erklärte Feinde im eigenen Land – umso mehr wenn man eine Partei vertritt, welche ihre Nähe zu den arbeitenden Menschen betont. Für die amerikanischen Globalisierungsgegner sitzt in Washington eine Elite, der ihr Schicksal gleichgültig ist. Auch von den hochgebildeten „Eierköpfen“ (eggheads) aus den führenden Universitäten des Landes, die der politischen Elite als Berater dienen, versprechen sich diese Menschen keine Verbesserung ihrer Lage. Für die Leute in den trostlosen Rostgürteln der USA sind Demokratie oder Diktatur leere Begriffe einer politischen Theorie, die mit ihrem eigenen Los nichts zu tun hat. Die Deindustrialisierung ihres Landes wird für diese Leute auch nicht durch den weltweiten Erfolg amerikanischer Dienstleistungen aufgewogen, denn die früheren Industriebetriebe beschäftigten auch einfache Arbeiter, während die digitalen Dienstleistungsunternehmen ein abgeschlossenes Studium verlangen. Der Graben zwischen oben und unten wird dadurch zusätzlich vertieft. Mit demagogischem Gespür – das einzige unbestreitbare Talent dieses Mannes – hat es Donald Trump verstanden, die Masse der Abgehängten, der Enttäuschten, Frustrierten, Ressentimentgeladenen zu seiner Gefolgschaft zu machen.

Das sollte uns eine Lehre sein. Der amerikanische Kapitalismus hat großartige Leistungen ermöglicht, aber wenn ein Teil der Bevölkerung als überzählig und „deplorable“ zurückbleibt, muss der Staat in die Hände von Radikalen und inkompetenten Populisten geraten.