Max Weber – Jared Diamond – Joseph Henrich

Es gibt grundsätzliche Fragen, die sich jeder Mensch und wohl auch jedes Volk und Epoche stellen. Wer oder was bin ich? Worin besteht meine Eigenart? Warum und wie unterscheide ich mich von den anderen? Max Weber, Jared Diamond und Joseph Henrich haben diese Frage jeder auf seine eigene und doch auf ganz ähnliche Art gestellt. Weber in Die Protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus (1904), Diamond in Guns, Germs and Steel (1997) und Henrich in The WEIRDest People in the World (2019).

Max Weber wollte erkunden, warum der Kapitalismus, dieses zu seiner Zeit so erstaunlich erfolgreiche Wirtschaftssystem, gerade in Europa, und da vor allem in dessen protestantischen Teilen, entstanden sei. Jared Diamond fragt seine Leser, warum Cortez und Pizarro zu Beginn des 16. Jahrhunderts die beiden mächtigen Reiche der Azteken und Inkas mit einer Handvoll Soldaten zu besiegen vermochten – und nicht umgekehrt diese beiden Völker der Neuen Welt in Europa einfielen und es unterwarfen? Joseph Henrich formuliert die Frage nicht sehr viel anders. Wie kam es dazu, dass Europa einen von aller bisherigen Geschichte abweichenden Pfad beschritt, nämlich einen „seltsam verrückten“ („WEIRD = Western, Educated, Industrialized, Rich, Democratic“)? Die drei Fragen sind einander sehr ähnlich, die Antworten der drei Wissenschaftler unterscheiden sich aber auf bezeichnende Weise.

Max Weber wurzelt in der deutschen Tradition

einer von der Romantik beeinflussten Geschichtsauffassung und Soziologie, welche die Eigentümlichkeiten menschlicher Entwicklung vor allem in kulturellen Ursachen lokalisiert. Für Weber war es die protestantische Ethik, welche den Geist des Kapitalismus ermöglicht hatte. Und es war umgekehrt dessen Gegenteil, die religiös bedingte magische Vielfalt traditioneller Zwänge, welche in vorkapitalistischer Zeit dessen Entstehung verhindert hatte. Kulturell bedingte Einstellungen des Menschen können demnach zu Ursachen für tiefgreifende soziale Transformationen werden – eine Auffassung, mit der Weber sich deutlich von Karl Marx abgrenzte.

Demgegenüber schließt  Jared Diamond eher an eine Tradition an,

deren Repräsentant im 18. Jahrhundert unter anderen Montesquieu war, der als ausschlaggebend für die unterschiedlichen Entwicklungspfade verschiedener Völker nicht deren subjektive Einstellung verantwortlich machte sondern äußerlich vorgegebene Bedingungen wie z. B. das Klima. Diese Theorie ist inzwischen passé, aber Diamond hat in einem Werk von umfassender Gelehrsamkeit überzeugend nachgewiesen, dass „Eurasien die wilden Vorfahren von Weizen, Gerste, Hirse, Hafer und Reis zusammen mit Kühen, Pferden, Schweinen, Ziegen, Schafen, Wasserbüffeln und Kamelen bekam. In Amerika hingegen gab es nur wenige wilde Pflanzen oder Tiere, die leicht zu domestizieren und /außerdem noch/ produktiver waren. Mais, das wichtigste Grundnahrungsmittel in der Neuen Welt, erforderte zahlreiche genetische Veränderungen gegenüber seiner wilden Version, um eine produktive Ernte zu erzielen – es war also ein langer Weg. Bei den domestizierten Tieren endete Amerika mit Lamas, Meerschweinchen und Truthühnern – und damit ohne Allzweck-Arbeitstiere wie Ochsen, Pferde, Wasserbüffel oder Esel, die Pflüge ziehen, schwere Lasten tragen und Mühlen ankurbeln konnten. In Australien gab es sogar noch weniger Nutzpflanzen und domestizierte Tiere als in Amerika. Diese Ungleichheiten in der Tier- und Pflanzenwelt wurden noch dadurch verstärkt, dass sich die komplexen Gesellschaften Eurasiens aufgrund der geografischen Ost-West-Ausrichtung schneller entwickelten. Dies begünstigte /zusätzlich/ eine rasche Entwicklung und Verbreitung von neuen Nutzpflanzen, landwirtschaftlichem Wissen, domestizierten Tieren und technologischem Know-how“ (so fasst Henrich die Thesen von Diamond zusammen). Dem ist eine weitere Einsicht Prof. Diamonds hinzuzufügen. Aufgrund ihres engen Zusammenlebens mit Haustieren hatten die Bewohner Eurasiens Immunität gegen eine Fülle von Krankheiten erworben – im Gegensatz zu den Menschen Australiens und der Neuen Welt, die deshalb auch massenhaft an den von den Europäern eingeschleppten Keimen zugrunde gingen.

Jared Diamond greift damit auf die anfängliche wissenschaftliche Tradition zurück, kulturelle Einstellungen und Verhaltensweisen auf äußerlich vorgegebene Bedingungen zurückzuführen. Da dieses Vorgehen den strengen Maßstäben, wie sie die Naturwissenschaften seit dem 17. Jahrhundert aufstellten, weit mehr entspricht, haben sich die moderne Geschichtswissenschaft und Soziologie in den vergangenen Jahrzehnten weit mehr an Diamond als an Max Weber orientiert. Es heißt sicher nicht zu viel zu behaupten, wenn man feststellt, dass diese Orientierung nicht weniger als eine Explosion an Forschungstätigkeiten bewirkte, denn sämtliche Verfahren der Naturwissenschaften werden inzwischen eingesetzt, um die Vergangenheit des Menschen mit ungeahntem materiellen Detailreichtum um Jahrtausende zurückzuverfolgen.

Umso erstaunlicher ist es, dass der Harvardprofessor Joseph Henrich,

ein Mann, der sein Studium in der Raumfahrttechnik, also in den Naturwissenschaften, begann, die eigene Forschung wieder zurück auf kulturelle Ursachen lenkt. Nach dem gerade Gesagten kann man das sehr wohl als wissenschaftliche Sensation bewerten. Die Frage nach den Ursachen für den Sonderpfad Europas, der zu einer kapitalistischen Wirtschaft, zu demokratischen Verfassungen und einer historisch einmaligen Entfaltung des Individualismus führte, beantwortet er auf neue und erstaunliche Weise. „Die viel gepriesenen Ideale der westlichen Zivilisation, wie Menschenrechte, Freiheit, repräsentative Demokratie und Wissenschaft, sind keine Denkmäler der reinen Vernunft oder Logik, wie so viele annehmen. Die Menschen sind nicht plötzlich während der Aufklärung im 17. und 18. Jahrhundert rational geworden und haben dann die moderne Welt erfunden. Stattdessen stellen diese Institutionen kumulative kulturelle Produkte dar – geboren aus einer bestimmten kulturellen Psychologie -, die ihre Ursprünge über Jahrhunderte zurückverfolgen, durch eine Kaskade von Kausalketten, die Kriege, Märkte und Mönche mit einbeziehen, zu einem eigentümlichen Paket von Inzesttabus, Heiratsverboten und Familienvorschriften.. , die sich in einer radikalen religiösen Sekte entwickelten – dem westlichen Christentum.“

Und Henrich geht noch weiter. Die katholische Kirche habe in Europa von Anfang an eine Heirats- und Familienpolitik betrieben, welche die überall sonst (außer bei den Jägersammlern) herrschenden engen Verwandtschaftsbeziehungen schon um 1000 nach Christus nahezu vollständig aufgelöst hatte. Diese Politik zeige sich besonders in ihrem strikten Verbot der Heirat zwischen Cousins und anderen nahen Verwandten, die überall sonst das Grundmuster biologisch definierter Einheiten bilde. Damit sei der Einzelne den verwandtschaftlich definierten Bindungen von Clans, Sippen, Stämmen entrissen worden. An die Stelle von Verpflichtungen und Zwängen, denen ihn die Großfamilie und Clans überall sonst unterwarfen, mussten nun gemeinsame Interessen, Motive etc. jenseits vorgegebener biologischer Bindungen treten. Anders gesagt, war es das Werk der Kirche, dass der einzelne sich immer weniger durch seine Herkunft definierte als vielmehr durch seine ganz persönlichen Aspirationen und Fähigkeiten. Der freie Zusammenschluss von einander fremden Menschen in Märkten, Gilden, Zünften usw. – so bezeichnend für die abendländische Entwicklung – habe hier seine eindeutig kulturellen Wurzeln.*1*

Max Weber hat immer auch (wenn auch nicht mit der Ausschließlichkeit eines Karl Marx) nach den materiellen Interessen gefragt, die hinter politischem Handeln stehen. Das tut auch Henrich, wenn auch nur an einer Stelle seines Buches. „Die Kirche hatte starke Anreize, individuelles Eigentum und testamentarische Vererbung zu fördern. In Zusammenarbeit mit den weltlichen Herrschern drängte sie auf Gesetze, die das individuelle Eigentum unterstützten, auf Standard-Erbschaftsregeln, die eine direkte Vererbung (unter Ausschluss von Brüdern, Onkeln und Cousins) begünstigten, und auf eine größere Autonomie bei testamentarischen Vermächtnissen. Dieses Streben nach individuellem Eigentum und persönlichen Testamenten sollte die verwandtschaftlichen Organisationen schwächen, da diese Körperschaften dadurch ihr Land und ihren Reichtum an die Kirche verloren. Auf ihrem Sterbebett liegend, gaben die Christen der Kirche, was sie konnten, um ihre Aussichten für das Leben nach dem Tod zu verbessern… Um 900 n. Chr. besaß die Kirche etwa ein Drittel des kultivierten Landes in Westeuropa, einschließlich Deutschland (35 Prozent) und Frankreich (44 Prozent). Bis zur protestantischen Reformation im 16. Jahrhundert besaß die Kirche die Hälfte von Deutschland und zwischen einem Viertel und einem Drittel von England.“

Henrich setzt Max Weber einerseits fort,

andererseits vertieft er es dessen Analyse. Der Protestantismus habe eine Tendenz nur weiter vorangetrieben, welche die Kirche mit ihrer Heirats- und Familienpolitik bereits seit eineinhalb Tausend Jahren in Gang gesetzt hatte. Die neue religiöse Reformbewegung könne daher nur als kulminierender Abschluss einer bald nach der Zeitenwende einsetzenden Entwicklung gesehen werden. Henrich weitet das Argument damit aus – weit hinaus über Max Weber.

Und das gilt ebenso für die Analyse der Ursachen, welche die Entstehung der freien Märkte, der repräsentativen Herrschaft und des Individualismus in anderen Teilen der Welt so sehr behinderten. Max Weber hatte zwar in der Vorherrschaft von Kasten in Indien und von Clans in China ein unüberwindliches Hindernis für die Entstehung des Kapitalismus gesehen. Er hat, wie ich meine, deren Widerstand gegen die Entstehung kapitalistischer Wirtschaftsformen in dem Gegenüber von Binnen- und Außenmoral auch ebenso deutlich erkannt wie Henrich und im Begriff der Magie auch noch intuitiv zusammengefasst – der Magie als einer Vielfalt von Zwängen, die jeder Neuerung entgegenstanden. Henrich aber versucht den Nachweis, dass ein elementares Faktum der sozialen Organisation, nämlich die enge biologische Bindung von Menschen in traditionellen Verwandtschaftsbeziehungen – in erster Linie die Heirat zwischen Cousins – das wirksamste Hindernis für jene Sonderentwicklung war, die Europa nur deswegen antreten konnte, weil es dort eben schon sehr früh die katholische Kirche war, die dieses Hindernis durch ihre Heirats- und Familienpolitik systematisch beseitigt hätte.

Hier unterscheidet sich Henrich demnach auch von Jared Diamond

Dieser macht für uns begreiflich, warum die Eroberung der Neuen Welt und Australiens von Eurasien aus erfolgte und nicht etwa in umgekehrter Richtung verlief. Diamond zählt die vielen äußeren Vorteile auf, über die dieser Kontinent gegenüber den beiden anderen von Anfang an verfügte. Man könnte sich aber die Frage stellen, warum innerhalb des Eurasischen Kontinents es gerade das kleine Europa war und nicht das noch bis ins 17. Jahrhundert weit wohlhabendere China, das seit Beginn des 16. Jahrhunderts große Teile der Welt unterwarf – und das obwohl China bereits zu Beginn des 15. Jahrhunderts die mächtigste Flotte der damaligen Welt bis an die Grenzen Afrikas ausgeschickt hatte? Warum war die chinesische Flottenexpedition von vornherein gar nicht als Werkzeug der Eroberung geplant? Jared Diamonds Erkenntnisse können diese seltsame Tatsache nicht erklären, denn die von ihm aufgezählten äußeren Ursachen sprächen ja viel eher dafür, dass schon vor einem halben Jahrtausend das reiche China und nicht Europa die Welt erobert. Diamond bemerkt zwar, dass „der Wettbewerb zwischen verschiedenen politischen Einheiten die Innovation im geografisch fragmentierten Europa beflügelte und dass das Fehlen eines solchen Wettbewerbs die Innovation im vereinten China bremste.“ Aber das führt zurück zu der Frage, warum Wettbewerb in Europa eine so große Rolle spielte und eben nicht in China?

Henrich selbst stellt die Frage nicht, warum Europa und nicht China die neue Welt eroberte, mir scheint jedoch, dass seine Theorie sehr wohl eine Antwort darauf ermöglicht. Einerseits hat das durchgehend von Clans beherrschte klassische China den Wettbewerb zwischen Gleichen nie gekannt. Außerdem hat es sich nach außen gegen die Barbaren, also die Fremden, stets abgeschottet, und zwar mit der größten jemals von Menschenhand erbauten Mauer. Die römische Kirche dagegen habe, so Henrich, mit ihrer Politik die biologische Fremdheit nicht nur in Frage gestellt, sondern weitgehend aufgehoben. Alle Menschen waren gleich vor Gott und konnten deshalb auch gleich für die politische Herrschaft sein. Es galt daher als ein legitimes Ziel, den Rest der Welt zu unterwerfen. Europa – nicht China – hatte sich so auf eine globalisierte Welt vorbereitet und damit auch psychologisch die Eroberungen eingeleitet, welche die Globalisierung schließlich herbeigeführt haben. 

Psychologie – auch sie spielt bei Joseph Henrich

eine herausragende Rolle. Denn die Politik der Kirche hat eben nicht nur in die soziale Organisation der Menschen eingegriffen und sie auf demokratische Verfassungen vorbereitet, wo der persönliche Wert jedes einzelnen schließlich mehr zählen würde als seine Herkunft. Sie hat auch tiefgreifende psychische Auswirkungen gehabt, weil sie Eigenschaften förderte, die sich unter anderen Bedingungen nur schwer entfalten konnten, nämlich Individualismus, analytisches Denken, Ablehnung von Autoritäten, geistige Unabhängigkeit, Innovationsbereitschaft.

„Denken Sie konkret /z. B./ an UN-Diplomaten, Unternehmensmanager oder hochrangige Führungskräfte… Alle sind materiell abgesichert, aber ihre Neigung zu (1) unpersönlicher Ehrlichkeit (Falschparken… ) (2) universeller Moral (Lügen vor Gericht, um ihre rücksichtslosen Kumpel zu schützen… ) und (3) Vetternwirtschaft (Einstellung von Verwandten in Führungspositionen) variiert immens und wird durch unsere Indizes für Verwandtschaftsintensität und Kirchenexposition erklärt… /Dagegen/ neigen Bevölkerungen, die kollektiv eine längere Zeit unter der westlichen Kirche lebten, dazu, (A) weniger eng an Normen gebunden, (B) weniger konformistisch, (C) weniger traditionsverliebt, (D) individualistischer, (E) weniger misstrauisch gegenüber Fremden zu sein, (F) stärker auf universalistische Moral zu setzen, (G) kooperativer in neuen Gruppen mit Fremden, (H) empfänglicher für die Bestrafung durch Dritte zu sein…, (I) eher geneigt, freiwillig Blut zu spenden, (J) unpersönlicher ehrlich (gegenüber gesichtslosen Institutionen) zu sein, (K) weniger geneigt, Strafzettel unter diplomatischer Immunität zu akkumulieren, und (L) analytischer eingestellt zu sein.“

Die damalige Politik der Kirche wirkt somit massiv bis in die Gegenwart fort. „Unsere Analysen zeigen, dass, wenn eine Region im Frühmittelalter innerhalb des Karolingerreichs lag, die Rate der Eheschließungen von Cousins ersten Grades im 20. Jahrhundert verschwindend gering und wahrscheinlich gleich Null war. Befand sich die Region außerhalb des Karolingischen Reiches, wie Süditalien, Südspanien und die Bretagne (die nordwestliche Halbinsel Frankreichs), war die Rate höher. In Sizilien gab es im 20. Jahrhundert so viele Anträge auf Dispens für die Eheschließung von Cousins und Cousinen, dass der Papst dem Bischof von Sizilien eine Sondervollmacht erteilte, Ehen zwischen Cousins und Cousinen zweiten Grades ohne die Erlaubnis des Vatikans zu erlauben.“

Und aus den Zahlen ergibt sich eine weitere erstaunliche Korrelation: „Je höher die Heiratsrate von Cousins und Cousinen in einer Provinz ist, desto höher ist auch die Korruptionsrate und die Mafiaaktivität.“

Individualismus, Ablehnung von Autoritäten, geistige Unabhängigkeit, Innovationsbereitschaft

sind in unserer Zeit positiv besetzte Eigenschaften – von nahezu niemandem ernsthaft in Frage gestellt. Daraus ergibt sich ein weiterer Gegensatz zwischen Henrich und seinen beiden großen Vorgängern Max Weber und Jared Diamond. Abgesehen von unbedeutenden Vorbehalten sieht Joseph Henrich eine großartige Errungenschaft in der sozialen und psychologischen Evolution, welche den seltsam verrückten Pfad des Westens ermöglicht hat („WEIRD = Western, Educated, Industrialized, Rich, Democratic“). Sein Buch liest sich wie ein Hohes Lied auf diese einzigartige Entwicklung, in der übrigens die USA im Hinblick auf fast alle Kriterien an der Spitze stehen.

Dagegen hatte Max Weber vom „stahlharten Gehäuse des Kapitalismus“ gesprochen, von Unpersönlichkeit und der „Einsamkeit des Menschen“ in der modernen Gesellschaft und die negativen Seite einer sie immer stärker reglementierenden Bürokratie durchaus nicht verschwiegen. Auch Henrich erwähnt die höheren Selbstmordzahlen in protestantischen im Gegensatz zu katholischen Regionen, die schon Emile Durkheim aufgefallen waren, aber diese Einschränkungen erscheinen in seinem Buch nur als wenig beachtete Schönheitsfehler in einer im Großen und Ganzen großartigen Entwicklung.

Was Jared Diamond betrifft, so ist dieser viel zu sehr Historiker mit einer Liebe zum konkreten Detail, um derartige Verallgemeinerungen anzustellen. Wie also steht es um diese Aussagen? Mit dieser Frage möchte ich mich der Methode von Henrich zuwenden.

Henrich behandelt die Kultur

mit dem Instrumentarium der Naturwissenschaften. Er tut dies so systematisch, dass nach meiner Einschätzung mehr als die Hälfte seines Werkes von immerhin 680 Seiten direkt oder indirekt methodischen Überlegungen gewidmet sind. Die Lesbarkeit leidet darunter – dieser Apparat wäre wohl besser in einem Appendix aufgehoben -, aber als strenger Forscher scheint Henrich nichts so sehr zu befürchten, als dass man ihn mangelnder Seriosität im Umgang mit kausalen Erklärungen und statistischen Beweisen überführen könnte. Diese Vorsicht hat ihm Erfolg gebracht. Keine geringeren Autoritäten als Francis Fukuyama, Ian Morris, Daron Acemoglu haben das Buch gerühmt: damit hat es sich seinen Platz nach Weber und Diamond verdient.

Dennoch drängen sich mir im Hinblick auf seine Methode einige Vorbehalte auf. Der Eindruck, der sich bei dem unbefangenen Leser nach der Lektüre des Buches einstellen muss, ist gar zu täuschend optimistisch. Mit den aus den Naturwissenschaften stammenden Methoden strenger Analyse scheint hier der Nachweis erbracht zu sein, warum nach Überwindung von störenden Hindernissen (wie der Heirat von Cousins und der darauf beruhenden Clanmentalität) die Menschheit den Pfad unaufhaltsamen Aufstieg antreten musste – alle von Henrich gesammelten Zahlen (und es sind sehr viele) scheinen diesen Schluss nahezulegen. Es ergibt sich der Eindruck, als wären kulturelle Entwicklungen genauso vorhersehbar wie die der unbelebten Natur (wo wir z.B. die Positionen der uns umgebenden Himmelskörper auf Jahrtausende voraussagen können).

An dieser Stelle möchte ich Vorbehalte anmelden

Henrich hat ein wichtiges historisches Faktum übersehen. Vermutlich hat die Kirche die engen Verwandtschaftsbindungen bis zu einem gewissen Grade zerstört, aber sie hat den Menschen nicht aus ihnen herausgelöst, um einen von allen Bindungen befreiten Menschen zu erschaffen sondern gläubige (und spendable) Christen. Sie hat also eine neue, wenn auch sehr viel weitere Bindung hergestellt. Die Angehörigen der Kirche sollten nun in den Ketzern zu Hause und den unbekehrten Heiden (Muslimen etc.) jenseits der Grenzen, d.h. in den Gläubigen anderer Religionen, die Feinde sehen. Diese durfte man lange Zeit nicht nur rädern und morden, man sollte dies sogar tun. Mit anderen Worten, hat die Kirche die Unterscheidung zwischen Binnen- und Außenmoral (d.h. zwischen uns und den anderen) zwar wesentlich über die Clanbindungen hinaus erweitert, aber keineswegs aufgehoben.

Wir wissen, dass dieser Gegensatz zwischen uns und den anderen in der säkularisierten Gesellschaft von heute unvermindert fortbesteht. Wer sich der politischen Korrektheit zu Hause widersetzt, wird im Westen mundtot gemacht, in Staaten wie Russland oder China verfolgt oder ermordet. Wer die eigene Ideologie nicht übernimmt (in unserer Zeit den westlichen bzw. den russischen oder chinesischen Kapitalismus) auf den sind Tausende von atomaren Sprengköpfen gerichtet. So gesehen, hat sich nichts Wesentliches geändert.

Eine zweite Kritik betrifft die großen Bruchstellen der Geschichte

Diese lassen sich mit den in Henrichs Buch angewandten Methoden gerade nicht erfassen. Das gilt für die neolithische, ebenso wie für die industrielle und in unserer Zeit für die digitale Revolution. Wie wir wissen, hat die sesshafte Lebeweise den Menschen zunächst nur Nachteile gebracht: ein kürzeres, weniger gesundes und unfreieres Leben. Erst später zeigte sich, dass Ackerbau und Viehzucht ein Vielfaches an Menschen ernähren konnten, diese Überlegenheit führte dann sehr schnell dazu, dass Jäger und Sammler von den sesshaften Gesellschaften mehr und mehr verdrängt worden sind. Aber natürlich konnte das niemand zu dem Zeitpunkt ahnen, als dieser Übergang gerade begann.

Genauso hat auch niemand zu Beginn der industriellen Revolution die mindeste Vorstellung davon haben können, dass die Ausbeutung der fossilen Lager, auf der das neue Wirtschaftsmodell von Anfang an basierte, keine zweihundert Jahre später die fossilen Rohstoffe erschöpfen und die Natur durch ihre giftigen Rückstände (CO2) aus dem Gleichgewicht bringen würde – eine unvorhergesehene Wende, welche sehr wohl das Ende des industriellen Zeitalters mit seinen bald zehn Milliarden Menschen einläuten könnte. Zu Recht sieht Henrich in der Industriellen Revolution eine logische Fortsetzung der zunehmenden Befreiung der Märkte und der Einzelnen von allen sie bis dahin beengenden Fesseln, aber er blendet völlig aus, dass uns diese Entwicklung mit einer totalen Ausbeutung und Vergiftung der Natur bedroht. Da sehr viele, sehr ernstzunehmende Denker inzwischen vor diesen Gefahren warnen, muss man eine Analyse der kulturellen Evolution doch für einseitig halten, wenn sie so ganz darüber hinwegsieht, dass am Ende einer an sich positiven Entwicklung der Zusammenbruch einer ganzen Zivilisation stehen könnte.

Max Weber war sich der künftigen Gefahren durchwegs bewusst (natürlich nicht der Umweltkrise). Das trifft auch auf Jared Diamond zu, der in seinem Buch Collapse ausdrücklich auch die Möglichkeit des totalen Zusammenbruchs von Gesellschaften beschwört. In diesem Zusammenhang treten unsere Vorbehalte noch deutlicher hervor, wenn wir berücksichtigen, welche Bedeutung auch Henrich dem Wettbewerb um die jeweils erfolgreichsten Ideen und Verfahrenzuerkennt.

Der Wettbewerb von Individuen und Populationen

ist spätestens seit Charles Darwin eine Idee, welche ausgehend von der Biologie auch die Sozialwissenschaften erobert. In grober Ausprägung ist es der Sozialdarwinismus, der im zwanzigsten Jahrhundert bekanntlich die größten Verwüstungen anrichtete. Aber in der verfeinerten Gestalt, wie die Forschung und auch Henrich sie akzeptieren, bedeutet Wettbewerb zwischen Clans, Stämmen und Nationen, dass die jeweils erfolgreichsten Modelle menschlichen Zusammenlebens von anderen Clans, Stämmen und Nationen imitiert und übernommen werden. Dazu kann natürlich auch das gerade Gegenteil des Wettbewerb gehören, nämlich die Kooperation. Die großen Firmen im Silicon Valley haben in ständiger Konkurrenz miteinander ihre erstaunlichen Ideen entwickelt, aber innerhalb jeder Firma musste die Kooperation hervorragend eingespielt sein – genau dieser coincidentia oppositorum verdanken sie ihren Welterfolg. So wie vor ihm auch schon Max Weber erklärt Henrich die Ausbreitung von Demokratie, offenen Märkten und Innovation über die ganze heutige Welt mit der Faszination durch ein Modell, das durch seinen größere Leistung überzeugt.

Henrich übersieht aber einen entscheidenden Makel

seines Entwicklungsmodells. Wir haben schon festgestellt, dass die Heirats- und Familienpolitik der Kirche keineswegs darauf abzielte, den Menschen von allen Bindungen überhaupt zu befreien. Die Kirche wollte ihn natürlich zum Christen machen – und das bedeutete bis zum Beginn der europäischen Neuzeit, dass er bereit sein musste, in Heiden und Ketzern einen unerbittlich zu bekämpfenden Feind zu sehen. Statt der Bindung an einen Clan wurde die Bindung an eine Religion zum Merkmal der eigenen Identität.

Die Säkularisierung zu Beginn der Neuzeit hat die Macht der Kirche gebrochen und damit auch das von ihr propagierte Feindbild, aber sie hat keineswegs den Blick auf den Menschen an sich gelenkt sondern die alten nur durch neue Feinde ersetzt. Wer die Talkshows in China oder Russland und die Sendungen von CNN oder Fox News in den Vereinigten Staaten oder die Sanktionspolitik der EU verfolgt, der weiß, wie und wo die Frontlinien heute verlaufen. Die Stelle von Ungläubigen nehmen heute die Angehörigen der jeweils anderen Blöcke ein, die Stelle von Ketzern finden wir in jedem von ihnen als Systemgegner und Übertreter der politischen Korrektheit wieder.

Damit ist das welthistorische Problem unserer Zeit benannt

Die großen Nationen sind durch den von Henrich beschriebenen Prozess so erfolgreich geworden, dass jede von ihnen mit ihrer durch die industrielle Zivilisation zu unglaublicher Stärke gewachsenen Wirtschaft für sich allein mehrere Globen verbraucht, mit anderen Worten nicht nur die eigene Lebensgrundlage sondern zur gleichen Zeit die der übrigen Menschheit gefährdet. Und die drei größten von ihnen – USA, Russland und China – können jede allein mit ihren Nuklearpotenzialen den gesamten Globus für einige Tausend Jahre für den Menschen unbewohnbar machen. Das ist die katastrophale Wirkung jener sozialen, psychologischen und wissenschaftlich-innovativen Effizienzsteigerung, die Henrich so überzeugend beschreibt.

Silicon Valley wurde zum Symbol für ein Erfolgsrezept, das sich auf die gesamte Welt ausdehnte: Wettbewerb nach außen, Kooperation nach innen – darin liegt die Zauberformel dieses Rezepts. Aber während das Miniaturgeschehen in Kalifornien einen Höhepunkt wirtschaftlicher Entwicklung signalisiert, führt uns dessen Ausweitung auf den gesamten Globus auf schnellstem Weg in das Desaster. Denn die unaufhörliche Steigerung der wirtschaftlichen und militärischen Effizienz der miteinander konkurrierenden Nationen schlachtet den Globus nur immer stärker aus und bringt die Menschheit der nuklearen Selbstvernichtung nur immer näher. Ein auf den ersten Blick unüberwindbares Dilemma besteht eben darin, dass jede Nation im Wettrennen mit den anderen sich selber schwächt, wenn sie – den Vorteil der gesamten Menschheit im Auge – auf die Vergrößerung der eigenen wirtschaftlichen oder militärischen Macht verzichtet. Daher sieht man keinen reichen Staat eine Politik negativen Wachstum betreiben oder arme Staaten auf positives Wachstum verzichten. Noch dramatischer ist die Situation, wenn wir uns dem militärischen Wettbewerb zuwenden. Im militärischen Bereich sieht man im Gegenteil, wie immer mehr Kleinstaaten von der Art Nordkoreas es für ihr gutes Recht (Menschenrecht?) halten, sich ebenfalls die ultimativen Bomben zu verschaffen.

Fazit

Henrich führt überzeugend vor Augen, wie die Beseitigung archaischer Clan-Bindungen den Horizont der Menschen entscheidend erweitert hat. Vielleicht ist es kein Zufall, dass er die Entstehung neuer Freund-Feind-Bilder dabei ganz übersah. An die Stelle biologischer sind in Wahrheit nur andere, nämlich ideologische Bindungen getreten. Wenn ich andeute, dass dieses Versehen einer uneingestandenen Absicht entsprechen könnte, dann weil es eine Zukunft aus der existenziellen Bedrohung, in welche die Menschheit des 21. Jahrhunderts sich durch ihren welthistorischen Erfolg selbst hineinmanövrierte, nur dann geben wird, wenn wir auch Schluss mit den ideologisch bedingten Freund-Feind-Bildern machen. Das Wettrennen der Nationen um die größere ökonomisch-militärische Macht kann nur dadurch beendet werden, dass sie sich als Repräsentanten gleichwertiger und gleichberechtigter Menschen anerkennen, zwischen denen ideologische Schranken ebenso wenig zählen wie früher biologische. Erst wenn die Menschen des ganzen Globus sich einer gemeinsamen Autorität unterwerfen, welche die von ihnen gegeneinander gerichteten Atomraketen durch eine von allen anerkannte Weltpolizei ersetzt und sich statt der Ausbeutung und Vernichtung der natürlichen Lebensgrundlagen auf eine nachhaltige Bewirtschaftung des gemeinsamen Raumschiffs Erde verständigen, kann es einen Ausbruch aus diesem Rennen in Richtung Abgrund geben. Diese Idee erscheint den meisten Menschen heute noch wie ein Phantasma der Utopie, weil der Globus in diesem Augenblick glücklicherweise noch nicht völlig vergiftet und ausgebeutet ist und weil die immer komplexeren, immer zerstörungsmächtigeren Vernichtungsarsenale der Großmächte bis zu diesem Moment glücklicherweise noch nicht explodiert sind (was viele für einen unglaublichen Zufall halten).

In Prof. Henrichs Lobgesang auf die menschliche Entwicklung wird diese eher düstere Perspektive nicht erwähnt. Aber sie ergibt sich als eine unmittelbare, man möchte beinahe sagen, logische Konsequenz. Um der intellektuellen Redlichkeit willen sollte man sie deshalb auch nicht verschweigen.

*1* Dagegen lässt sich natürlich einwenden, dass neunzig Prozent der Bevölkerung, die Bauern, noch bis ins 18. Jahrhundert an das Land gebunden waren und lokal heiraten mussten. Der Adel hat sich den Vorschriften der Kirche ohnehin weitgehend widersetzt. Im Großen und Ganzen werden ihnen nur die Bewohner der Städte ausgesetzt gewesen sein. Der britische Althistoriker Charles Freeman steht dieser These Henrichs entsprechend skeptisch gegenüber. Aber die historische Kritik ändert nichts an den zum Teil erstaunlichen Erkenntnissen, welche sich aus dem statistischen Material ergeben.

Prof. Heinrich Wohlmeyer schrieb folgenden Kommentar:

Herzlichen Dank für Ihre vergleichende Analyse.
Zu Henrich:
Ich denke, dass schon vor dem Christentum und der katholischen Kirche (Griechen, Juden, Araber vor Mohammed, Römer) ähnliche, die Gesellschaft steuernde, Regeln entwickelt wurden.
Zurecht sagt man, dass die europäische Zivilisiation auf drei Hügeln aufbaut (Akropolis – griechische Philosophie), Capitol (Rechtswesen – Organisation) und Golgotha (Menschenrechte – Personalität, Solidarität, Subsidiarität).
Ihrer Forderung nach golbal governance (Weltpolizei) würde ich die ‚innere Steuerung‘ entgegensetzen, und von dieser getragen die Renaissance und der Ausbau des Völkerrechtes.
Einer der brutalsten Politiker, der die Saat zum Zweiten Weltkrieg gelegt hat, George Clemenceau hat in einer hellen Stunde gemeint: 
„Die wahre Revolution auf Erden würde ausbrechen, wenn sich die Menschen entschlössen, nach den Regeln der Bergpredigt zu leben.“. 
D. h. auch die Regeln des Zusammenlebens in diesem Geist zu gestalten (Ich denke da auch an das Vorwort zum Codex Justinianus).
Beste Grüße und nochmals besten Dank!
Ihr Heinrich Wohlmeyer

Meine Antwort:

Lieber Herr Wohlmeyer,

was Sie sagen ist alles sehr richtig, aber Weber, Diamond und Henrich sagen noch unendlich viel mehr – und das macht sie so interessant!

Wichtiger Kommentar von Prof. Michael Mitterauer,

Sehr geehrter Herr Jenner,

mit großem Interesse verfolge ich stets Ihre Zusendungen, die ich schon seit längerer Zeit bekomme. Ganz besonders interessiert hat mich Ihr letzter Beitrag „Max Weber – Jared Diamond – Joseph Henrich“. Sie behandeln die drei Autoren in Hinblick auf die Erklärung  des Sachverhalts „dass Europa einen von aller bisherigen Geschichte abweichenden Pfad beschritt“. Diese Frage beschäftigt mich auch seit vielen Jahren. 2003  veröffentlichte ich im Münchener Beck-Verlag „Warum Europa? Mittelalterliche Grundlagen eines Sonderwegs“. Das Buch erhielt 2004 den Deutschen Historikerpreis und liegt inzwischen in spanischer und englischer Übersetzung vor. Als Sozialhistoriker bin ich von Max Weber ausgegangen, als Agrarhistoriker habe ich mich intensiv mit meinem Jahrgangskollegen Jared Diamond beschäftigt, von dem ich ganz wichtige Anregungen für meine Sonderweg-Forschungen erhielt. Nachdem diese Forschungen inzwischen in mehrfachen Übersetzungen auf Englisch vorliegen, haben Joseph Henrich und sein Mitarbeiter Jonathan Schulz immer wieder Kontakt zu mir aufgenommen. Sie  finden meine Publikationen vielfach in deren Literaturzitaten, leider nicht meine kritischen Anmerkungen. Auf diesem Erfahrungshintergrund möchte ich mir einige Kommentare zu Ihrem Artikel erlauben.

Max Weber hat seine spezifische Zugangsweise zur Erklärung des europäischen Sonderwegs in der Vorbemerkung zu seinen „Gesammelten Aufsätzen zur Religionssoziologie“ unter das Stichwort „Verkettung von Umständen“ gestellt. Und an solchen miteinander „verketteten Umständen“ führt er eine lange Reihe von Faktoren an. Wenn er immer wieder nur mit seiner „protestantischen Ethik“ zitiert wird, so ist das eine Verkürzung seiner Argumentation. Man braucht nur seine  Arbeiten über die italienischen Handelsgesellschaften oder über das Städtewesen in Oberitalien im Hochmittelalter anzusehen, um sich die Breite seines Ansatzes bewusst zu machen. Er erklärt keineswegs einlinig und monokausal. Ich persönlich habe versucht, seinen Ansatz von der „Verkettung von Umständen“ aufzugreifen und weiterzuführen. Und ich bin überzeugt, es bedarf solcher multifaktorieller Erklärungen, um den europäischen Sonderweg zu verstehen. Ich kann Ihnen, falls Sie daran interessiert sind, gern zusammenfassende Texte dazu übersenden.

Jared Diamond hat die raschen Siege der Spanier im Amerika als anschauliche Beispiele dafür gewählt, dass deren militärische Überlegenheit tiefliegende Kulturunterschiede als Ursache hatte. Aber auch sein Ansatz ist viel breiter und alles andere als unilinear oder monokausal. Ich habe – von Jared Diamond  inspiriert – das erste Kapitel über den europäischen Sonderweg in meinem Buch unter den Titel „Roggen und Hafer“ gestellt. Ganz bewusst auch als Provokation gegenüber Kultur- und Geisteshistorikern, die die Ursprünge des europäischen Sonderwegs einseitig in lichten Höhen ideeller Entwicklungen suchen.

Max Weber und Jahre Diamond sind unbestritten Forscher, deren Lektüre man Interessenten an den Bedingungen des europäischen Sonderwegs nicht eigens empfehlen müsste. Bei Joseph Henrich ist die Situation ganz anders. Seine „WEIRD-Menschen“ sind im wahrsten Sinn des Wortes „sonderbare Menschen“, deren Bezeichnung zunächst einmal Interesse weckt. Das Erklärungsmodell dahinter ist allerdings sehr simpel und vor allem wissenschaftlich total überholt. Es greift mit Jahrzehnten Verspätung noch einmal die These des Anthropologen Jack Goody auf, dass nämlich die frühmittelalterlichen Verbote der Päpste, nahe Verwandte zu heiraten, die entscheidende Ursache für die Entwicklung von Ehe und Familie in Europa gewesen sei. Schon 2009 hat ein heute führender deutscher Familienhistoriker, Bernhard Jussen, Ordinarius für Mediävistik in Frankfurt a. M., einen zusammenfassenden Artikel unter dem Titel „Perspektiven der Verwandtschaftsforschung fünfundzwanzig Jahre nach Jack Goodys ‚Entwicklung von Ehe und Familie in Europa‘“ (Die Familie in der Gesellschaft des Mittelalters, Vorträge und Forschungen 71, S.275-324) verfasst. Nach den ausführlichen Diskussionen der Mediävistik in dieser Zeit ist Goodys These über die Auswirkung kirchlicher Endogamie-Verbote des Frühmittelalters auf die Entwicklung von Ehe und Familie einfach nicht mehr zu halten. Und nun versuchen Joseph Henrich und sein Team mit großem Propagandaaufwand nicht nur die europäische Familienentwicklung, sondern die ganze europäische Sonderentwicklung, daraus abzuleiten! Die Neuetikettierung mit „WEIRDpeople“ bzw WEIRDest people“ soll bei diesem Versuch terminologisch helfen. Sie verweisen in Ihrem Text sehr deutlich, was alles nicht mit der Weltformel von Henrich&Co zu erklären ist. Man muss hier stets im Plural sprechen, denn Henrich hat in seiner Wissenschaftsproduktion eine Vielzahl  von Mitarbeitern. In Ihrem Abschnitt „An dieser Stelle möchte ich Vorbehalte anmelden“ sprechen sie von  neuen Bindungen, die „die Kirche“ bewirkt hat, ohne dass sie vom Endogamieverbot her erklärbar wären. Und Sie haben vollkommen Recht, wenn Sie sagen „Eine zweite Kritik betrifft die großen Bruchstellen der Geschichte. Diese lassen sich mit den in Henrichs Buch angewandten Methoden gerade nicht erfassen“.

Als Beispiel nennen Sie die Industrielle Revolution. Man könnte viele solcher „großer Bruchstellen der Geschichte“ hinzufügen. Das liegt auch an der angewandten Methodik. Die von Henrich und seinem Team mit großem Aufwand angestellten Korrelationen können letztlich nur helfen, Hypothesen zu formulieren. Beweisen können sie gar nichts. Sie zitieren etwa: „Je höher die Heiratsrate von Cousins und Cousinen in einer Provinz, ist desto höher ist auch die Korruptionsrate und die Mafiaaktivität“. Den Beweis für diese vermeintliche Gesetzmäßigkeit bleiben Henrich &Co schuldig. Dass Francis Fukuyama und andere „Autoritäten“ das Buch empfehlen, verbürgt keineswegs methodische Verlässlichkeit.  Es zeigt nur, dass mächtige Zitier- und Lobecartelle dahinterstehen. Man könnte auch auf prominente Kritiker verweisen. Ihre Zahl unter den amerikanischen Anthropologen nimmt derzeit zu.

Ich bin der festen Überzeugung, dass es sich lohnt historische Bedingungen des europäischen Sonderwegs zu analysieren – gerade auch, wenn man daraus Schlüsse für politisches Handeln in der Gegenwart gewinnen will. Max Weber und Jared Diamond mit solchen Intentionen zu lesen, kann man guten Gewissens weiterhin empfehlen. Joseph Henrich  passt in diese Linie nicht.

Verstehen Sie bitte die Härte meiner Kritik. Sie gilt nicht primär Ihnen, sondern dem umtriebigen Harvardprofessor.

Mit freundlichen Grüßen

Michael Mitterauer

Meine Replik:

Dieser Kommentar ist so interessant, dass ich darauf in meinem folgenden Aufsatz antworten werde.