Unter Verlogenheit verstehe ich eine Haltung, welche Maßnahmen, die offensichtlich gegen die eigenen Prinzipien verstoßen, hinter einer Fassade von Moral verbirgt. Die europäische Immigrations- oder besser Anti-Immigrationspolitik ist dafür ein grelles und beschämendes Beispiel. Tatsache ist, dass eine weit überwiegende Mehrheit der Bürger Europas keine weitere Zuwanderung will. Das wissen die Regierungsorgane – also die nationalen Regierungen, Parlamente, die Europäische Kommission und das Europäische Parlament -, denn diese Tatsache wird ihnen durch den Ausgang von Wahlen, in denen Migration (oder Fremdenfeindlichkeit) zum Thema wird, deutlich zu Bewusstsein gebracht. Daher ist die Politik nach Kräften bestrebt, Einwanderung zu drosseln, zum Beispiel, indem sie mehr als drei Milliarden Euro an die Türkei bezahlt (richtiger: sie damit besticht), damit diese im Osten Europas einen Riegel vor weitere unerwünschte Einwanderung schiebt.
Jeder ehrliche Beobachter der internationalen Szene weiß natürlich seit langem, dass sich Migranten nur mit Gewalt zurückhalten lassen. Menschen, die im eigenen Land keine Zukunft sehen, weil sie politisch bedroht sind oder um das ökonomische Überleben fürchten (eine nicht weniger existenzielle Herausforderung!), sind verständlicherweise zu allem bereit. Sie auf- und fernzuhalten, lässt sich daher nur mit entsprechender Gegengewalt erreichen. Auch das weiß die EU. Sie ist aber zufrieden, wenn nicht sie selbst sondern andere sich dabei die Hände beschmutzen, damit sie nicht von ihrem moralischen Podest heruntersteigen muss. Ich nenne das Verlogenheit. Gewalt wird nicht dadurch vermindert oder annehmbarer, dass man ihre Ausführung anderen überlässt.
Dieselbe Verlogenheit drückt sich im Umgang Europas mit den Flüchtlingslagern in Griechenland, Libyen oder Tunesien aus. Natürlich herrschen dort unmenschliche Zustände (genauso wie in den Lagern der USA zur mexikanischen Grenze). Die Länder Nordafrikas werden ganz genauso wie die Türkei von Europa dafür bezahlt, dass sie das Nötige tun, um die Menschenlawine aus den geschundenen Ländern im Nahen Osten ebenso wie aus den bitterarmen und vom Klimawandel besonders betroffenen Ländern südlich der Sahara aufzuhalten. Sie tun dies, indem sie die Flüchtlinge wie Aussätzige oder Verbrecher behandeln, denn junge Abenteurer, die sich anderswo ein besseres Leben erhoffen oder gar verzweifelte Menschen, die nichts zu verlieren haben, werden eben nur auf diese Art abgeschreckt. Würde man sie in den Auffanglagern mit Samthandschuhen anfassen, dann dürfen wir sicher sein, dass sich diese sensationelle Neuigkeit per Handy gleich um die ganze Welt verbreitet und der Menschenstrom augenblicklich zu einer Völkerwanderung schwillt.
Wer sich gegen die Lüge sträubt, kann diese Tatsachen nicht leugnen. Die meisten lassen sich aber gern mit Lügen besänftigen. Denn sie wollen zwar keine weiteren Fremden im eigenen Land, aber dennoch ein reines Gewissen haben. Daher sind sie durchaus bereit, große Summen für die Abwehr der Migranten zu zahlen, wollen sich aber keinesfalls eingestehen, dass die Abwehr von Verzweifelten und jugendlichen Abenteurern nur mit Gewalt und unter Verstoß gegen die Menschenrechte durchgesetzt werden kann. Kann man darin etwas anderes als Verlogenheit erblicken?
Solange es den grellen Unterschied zwischen Armen und Reichen (Ländern) gibt, wird sich an der Situation nichts ändern. Wir müssen uns daher fragen, was wichtiger ist, das reine Gewissen oder die Abwehr einer uneingeschränkten Migration? Offenbar ist nicht beides zur gleichen Zeit zu haben. Für moralische Absolutisten, die jede Art von Gewalt gegen ihre Mitmenschen ablehnen, ist die Antwort natürlich von vornherein klar. Die augenblickliche Verteilung aller Flüchtlinge aus Asien oder Afrika von Griechenland, Italien und Spanien über ganz Europa ist für sie eine selbstverständliche Forderung. Wären sie konsequent, müssten sie sogar noch viel weiter gehen. Ohne Zweifel ist es unmenschlich, Bootsflüchtlinge der Gefahr des Ertrinkens auszusetzen. Der konsequente moralische Absolutist müsste sich für eine Brücke über das Mittelmeer einsetzen, z.B. bei Gibraltar.
Seltsam genug sehen sich moralische Absolutisten gern als entschiedene Verteidiger der Demokratie. Für den sich daraus ergebenden Widerspruch pflegen sie aber blind zu sein. Es ist ihnen zwar sehr daran gelegen, den Leuten jenseits der Grenze zu helfen, aber für die in ihrer Sicht unaufgeklärte Mehrheit im eigenen Land haben sie im besten Fall wenig Verständnis, im schlechtesten nur offene Verachtung. Wie schon gesagt, ist eine überwältigende Mehrheit in allen Ländern Europas strikt gegen weitere Einwanderung. Die Gründe für diese Haltung liegen durchaus auf der Hand. Einwanderer der ersten Generation sind bereit, große Entbehrungen in Kauf zu nehmen, um in ihrer neuen Heimat Fuß zu fassen. Sie sind daher bei den Unternehmern beliebt, bei Arbeitern, Arbeitslosen und prekär Angestellten hingegen als gefährliche Konkurrenz gefürchtet (eine berechtigte Furcht, die von Populisten gerne in Fremdenhass umgemünzt wird). Wie bekannt, ist der Sieg Donald Trumps nicht unwesentlich mit dem Ressentiment des „White Trash“ zu erklären, der genau diese Konkurrenz fürchtete und daher in einer durchgehenden Mauer an der Grenze zu Mexiko eine Lösung für seine Probleme sah. Dagegen stehen die moralischen Absolutisten in keiner Konkurrenzsituation zu den Flüchtlingen. Im Gegenteil profitieren sie von den billigen Paketzustellern, Dienstboten und Laufburschen aller Art. Anders gesagt, können sie sich den aufgeklärten Kosmopolitismus und das Bedürfnis nach einem reinen Gewissen leisten – sie gehören ja überwiegend zum gebildeten, geschützten und privilegierten Teil der Gesellschaft.
Wir müssen uns damit abfinden, dass wir nicht mehr beides zugleich haben werden, das reine Gewissen und die Abwehr von Menschen an unseren Grenzen. Wenn wir sie abwehren, nehmen wir die Anwendung von Gewalt in Kauf, ja und auch Unmenschlichkeit, denn Verzweifelte (ebenso wie Abenteurer) sind natürlich ihrerseits zu Gewalt bereit – manchmal zu jeder Art von Gewalt bis hin zum Terror. Es ist nichts als Verlogenheit, wenn wir uns einbilden, die Situation dadurch zu verbessern, dass wir andere dafür bezahlen, dass sie die Drecksarbeit für uns übernehmen. Ein reines Gewissen könnten wir nur um den Preis erringen, der Menschenlawine aus den vielen längst übervölkerten Teilen der Erde Tür und Tor zu öffnen.
Aber was würden wir damit erreichen? In ökologischer Perspektive liegen die Länder Europas schon bei ihrem jetzigen Bevölkerungsstand weit über der Nachhaltigkeitsgrenze. Einige verbrauchen bis zu fünf Planeten. Nicht mehr sondern weniger Menschen ist – ökologisch gesehen – die einzig richtige Strategie für die Zukunft.
Die Entscheidung für oder gegen offene Grenzen gehört damit zu den großen Gewissensfragen unserer Zeit. Diese Entscheidung ist umso schmerzlicher, als die Menschen jenseits der Grenzen das gleiche Recht auf ein menschenwürdiges Leben haben wie wir. Die moralischen Absolutisten machen es sich aber allzu leicht, wenn sie auf Grundlage dieser Überzeugung die Migration vorbehaltlos bejahen. Sie können dann zwar ein reines Gewissen pflegen – allerdings nur um den Preis, die widerständige Wirklichkeit ganz aus ihrem Sichtfeld zu verbannen. Der Preis ist hoch – er besteht in mehr oder weniger bewusster Verlogenheit.
Dagegen haben es die Gegner offener Grenzen sehr viel schwerer. Sie wissen, dass ein uneingeschränkter Zustrom von Fremden Widerstand provoziert – Volksaufstände, sozialen Zerfall bis hin zu Bürgerkriegen (in den Vereinigten Staaten ist der soziale Zerfall bereits im Gang). Der illusionslose Blick auf die Wirklichkeit macht die Realisten – nennen wir sie einmal so – alles andere als glücklich, wissen sie doch nur zu gut, dass Flüchtlinge sich in einer Welt, wo der Klimawandel viele schon bald zu noch größerer Armut verdammt, nur mit Gewalt abwehren lassen. Für die Realisten ist nicht Verlogenheit das Problem sondern das Eingeständnis, dass es in diesen Fragen nie ein reines Gewissen geben kann oder wird.
Das Dilemma drückt sich unmittelbar und faktisch in dem unaufhörlichen Kampf beider Lager aus. Die Realisten sind bereit, die Grenzstaaten außerhalb der Europäischen Union für ihre Hilfsdienste zu bestechen und beide Augen zuzudrücken, wenn diese die Flüchtlinge an den Grenzen zurückknüppeln. Verlogen sind sie nur, wenn sie sich dabei einreden: Das seien eben die (dafür bezahlten) Schergen und keinesfalls wir. Und verlogen ist auch das Bemühen, von dieser Brutalität möglichst nichts an die Öffentlichkeit dringen zu lassen.
Dagegen bemühen sich die moralischen Absolutisten gerade um Aufdeckung und Öffentlichkeit. Beständig sind sie auf der Suche nach Menschenrechtsverletzungen bei Frontex und in den Flüchtlingslagern, um sie mit lauten Aufschreien an die Öffentlichkeit zu tragen. So liegen in Europa Realismus und moralischer Anspruch in unversöhnlichem und dauerndem Kampf. Es scheint mir ein besonderes Unglück zu sein, dass dieses echte und existenzielle Dilemma meist nur auf der Ebene von rechtsextremem Fremdenhass gegenüber linkem Kosmopolitismus zum Ausdruck gelangt und diskutiert wird. Aber darum geht es nicht – wie übrigens das praktische Vorgehen europäischer Staaten deutlich beweist, wenn diese gut ausgebildete Fachkräfte aus dem Ausland anwerben und mit offenen Armen empfangen. Solange Fremde nicht durch eine zu große Zahl und mangelnde Integrationsbereitschaft die heimische Bevölkerung überfordern, können sie eine große Bereicherung sein. Fast alle modernen Staaten sind auf diese Weise entstanden – ein Faktum, das eine kursorische Durchsicht der Telefonbücher schnell bestätigt. Es kann nur darum gehen – das aber ist überaus wichtig -, einen ungeregelten und zu großen Zustrom innerhalb kurzer Zeit zu verhindern, weil dieser für den inneren Zusammenhalt der Gesellschaft eine massive Bedrohung ist.
Frau Dr. Gabriele Matzner, österreichische Ex-Botschafterin, meldet sich mit folgendem Beitrag:
Danke, interessant.
Diese Verlogenheit gibt es ohne Zweifel.
Und einer der (Hinter)gründe besteht darin, dass die „Herrschenden“ (samt subventionierten Medien) aus populistischen-demagogischen Erwägungen gegenüber dem Volk Ausländer-Weg-Raus propagieren (und sich dann auf diese, von ihnen geschaffene Stimmung stützen), während sie gleichzeitig verschweigen, wie normal Migration seit Menschengedenken ist und wie nötig wir Zuwanderer für alles Mögliche brauchen, immer gebraucht haben, massenhaft haben.
Dass es Asylwerber/Flüchtlinge (teils angebliche) nun sind, liegt bekanntlich daran, dass das die einzige Migrationsmöglichkeit ist, und dies, dank der widersprüchlichen und unsinnigen Aussperrpolitik (der EU). Die meisten, die kommen (wollen), wollen kein „Asyl“, sie wollen – vorübergehend – arbeiten, sich ausbilden, Geld sparen (auch zwecks Heimsendung), und dann heimkehren (SO erfreulich ist das Leben in Europa auch wieder nicht, auch das ist eine Legende der Xenophobie).
Das ist seit vielen Jahren bekannt. Und der Öffentlichkeit unbekannt.
Und: außer Gewalt gäbe es noch andere Möglichkeiten, Menschen von Europa fernzuhalten, nämlich eine andere (europäische/westliche/sonstige) Politik gegenüber den Herkunftsländern/regionen als die bisher geübte.
Bei Interesse bin ich gerne bereit, dies näher auszuführen. Als ex-Diplomatin hätte ich dazu einige Informationen/Überlegungen.
KK (Kanzler Kurz) &andere, sprechen gerne von „Hilfe vor Ort“, das ist der größte Hohn, gerade Österreich tut seit Jahr und Tag praktisch NICHTS dazu, auch das bleibt dem Publikum verborgen.
beste Wünsche und mögen diese Gedanken freundlich aufgenommen werden.
G. Matzner
Der österreichische Botschaft i.R. Dr. Heimo Kellner schreibt:
Australia has the answer : don’t let them in. What Australia can do we should also be able to.
Fritz Goergen, ehemaliger Bundesgeschäftsführer der FDP schreibt Folgendes:
Lieber Herr Jenner,
in Ihrer Betrachtung fehlt eine wesentliche negative Wirkung des von Ihnen beschriebenen Cocktails von Verlogenheit: Die Legalitäten sorgen durch ihr Verhalten für einen illegalen Korridor, der so teuer und gefährlich ist, dass er zu einer einseitigen Auswahl von Migranten führt: Glücksrittern.
Herzlich, Fritz Goergen
Jenner: Nicht ganz. Ich spreche von den jugendlichen Abenteurern, ihren Glücksrittern.