Muss man Europa lieben?

Wir dürfen es als Ausdruck menschlicher Pathologie betrachten, wenn Nachbarn einander hartnäckig bekriegen, zum Beispiel, weil der eine nicht akzeptieren will, dass der Schatten der Linde vom Nachbargrund auf das eigene Tomatenbeet fällt oder der andere das Geschrei der Kinder nicht erträgt, welches ihm von dort den ganzen Tag in die Ohren dringt. Legion sind die Fälle, wo Nachbarn lebenslang wegen der lächerlichsten Kleinigkeiten miteinander in Fehde liegen. Wir schütteln den Kopf, aber jeder begreift das Motiv. Im eigenen Haus, auf dem eigenen Grundstück wollen wir uns als Souveräne gebärden – vor allem dann, wenn wir es im übrigen Leben nicht sind.

So gesehen sind die Parolen nationalistischer Parteien nur die unmittelbare und intuitiv begreifbare Fortsetzung einer allgemein-menschlichen Tendenz. Wir wollen Herren im eigenen Haus sein. My home is my Castle, wie die Engländer sagen – keine These spricht die Gefühle einer Mehrheit so unmittelbar an. Dass die Zuwanderung in diesem Zusammenhang eine besondere Rolle spielt, leuchtet ebenso ein, denn jeder will selbstverständlich auch darüber entscheiden, wen er ins eigene Haus einladen oder in seiner Umgebung dulden will. Bevor wir nationalistische Parteien verdammen, sollten wir begreifen, warum sie viele Menschen so leicht überzeugen. Für die AfD ist das eigene Haus das heutige Deutschland, für die FPÖ das kleine Österreich (oder das ehemalige großdeutsche Reich), für das Rassemblement National ist es Frankreich, für die Fratelli d’Italia und die Lega ist es Italien.

Der Widerstand gegen die Zumutung, sich von anderen das eigene Denken und Handeln vorschreiben zu lassen, richtet sich aber nicht nur gegen die jeweiligen Nachbarn jenseits der eigenen Grenzen. Er drückt sich ebenso in der fortdauernden Abgrenzung vieler Menschen in den Neuen Bundesländern gegen die in der alten Bundesrepublik aus. Er flammt zudem in allen separatistischen Tendenzen auf, im vollzogenen Brexit, im Bestreben der Katalanen sich vom Rest Spaniens und rechtsextremer Parteien Italiens sich vom Mezzogiorno zu trennen. Im weiteren Sinne aber überträgt sich das elementar-menschliche Bestreben, Herr im eigenen Haus zu sein, auch auf die Ebene der kulturellen und ethnischen Besonderheiten. Die Vereinigten Staaten sind längt kein Schmelztiegel mehr: Jede Gruppe besteht auf der eigenen Identität und manche sind durchaus bereit, den nationalen Zusammenhalt um ihretwillen zu sprengen.

Menschen pochen auf die eigene Souveränität und Freiheit ebenso auf der individuellen wie auf der nationalen Ebene. Beim Individuum ist das Bedürfnis bereits biologisch verankert. Junge Menschen müssen ihre Selbstbestimmung irgendwann gegenüber den eigenen Eltern behaupten. Dieser Vorgang wiederholt sich bei nationalen Kollektiven in ihrem Verhältnis zu anderen Kollektiven, wo er als Glorifizierung der nationalen Unabhängigkeit in nahezu sämtlichen Staaten der Welt regelmäßig gefeiert wird. Wir haben es mit einer anthropologischen Konstante zu tun, weil wir diesem Bedürfnis zu allen Zeiten und überall auf dem Globus begegnen.

Zugleich waren Menschen aber immer schon neugierig – vor allem die intellektuell wachen Geister. Wo es einen Zaun und eine Grenze gibt, da gibt es mit Sicherheit Leute, die über sie hinwegsehen und sie übersteigen wollen. Dass in einigen frühen Kulturen Frauen statt Männern herrschten, dass man eine Frau zur Begrüßung nicht küsste sondern ihr (wie zur Zeit der Renaissance) an die Brust fasste, dass einige Völker keinen persönlichen Gott verehren, während andere ihn in einem Stück Stein anbeten, diese und Tausende anderer Besonderheiten der Menschen auf der anderen Seite des Zauns haben von jeher fasziniert. Das neunzehnte Jahrhundert hatte die Erforschung der Geschichte und damit der Vielfalt menschlicher Selbstgestaltung sogar zu seiner Leidenschaft gemacht.

Allerdings hat die Faszination durch das Fremde nur in seltenen Fällen dazu geführt, dass einzelne Personen ihre eigene Identität gegen eine fremde eingetauscht haben. Bei Staaten war das freiwillig wohl niemals der Fall. Die Tatsache, dass in Europa von jeher verschiedene Lebensformen und Sprachen gleichzeitig existierten, hat keineswegs dazu geführt, dass die Völker deswegen ihre bestehenden nationalen Eigenheiten als Deutsche, Franzosen, Briten etc. aufgegeben hätten (auch wenn sie noch so vieles von ihren Nachbarn übernahmen).

Wenn es stimmt, dass wir eine anthropologische Konstante benennen, weil Individuen wie Staaten stets Herren im eigenen Haus bleiben wollen, wie lässt sich dann eine Liebe zu Europa begründen, welche diese Selbstbestimmung zumindest sehr stark begrenzt? Ein übergeordneter Staatenbund verlangt von jedem Einzelstaat, ihm einen Teil der eigenen Souveränität zu übertragen. Die einzelnen Staaten sind dann nicht mehr die alleinigen Herren im eigenen Haus. Schon heute werden immer mehr Belange von der europäischen Zentrale in Brüssel bestimmt. Wie ist eine solche Selbstaufgabe zu rechtfertigen?

Eine Art der Rechtfertigung ist besonders unter Deutschen und Österreichern verbreitet. Das Votum für solche Fremdbestimmung wird damit begründet, dass man im eigenen Hause versagte. Die eigene Heimat gilt ihnen deswegen nichts, oft wird ihr Lob geradezu als reaktionär hingestellt. Denn das Trauma der durch Hitler besudelten deutsch-österreichischen Geschichte verfolgt geschichtsbewusste Bürger beider Staaten bis in die Gegenwart. So wie ein überführter Dieb oder Mörder sich hinter einem fremden Namen versteckt, um nicht mehr wiedererkannt zu werden, haben sich viele bei uns von der eigenen Heimat – und selbst noch von den lichten Teilen der eigenen Geschichte – losgesagt. Manche Intellektuelle und Künstler halten es für ein erstrebenswertes Ziel, eine neue und unbefleckte Identität in einem vereinten Europa zu suchen. Robert Menasse, der große Befürworter eines Vereinten Europa, spielt mit diesem Misstrauen gegen die eigene Heimat, noch mehr aber spricht er die uns angeborene Neugierde für alles Fremde und Exotische an. Kaum ein Land könnte fremder und exotischer sein als das in seinem jüngsten Roman beschriebene Albanien. Das macht „Die Erweiterung“ so lesenswert. Dasselbe ließe sich allerdings auch von den Maori in Neuseeland sagen oder von den Tutsis in Ruanda, dennoch schlägt niemand eine politische Vereinigung mit jenen Ländern vor.

Haben wir es mit einer Liebe zu Europa zu tun, die jener Liebe vergleichbar ist, die überall auf der Welt Menschen für das eigene Haus empfinden, in dem sie die Herren sind? Wohl kaum, denn in Bezug auf das Vereinigte Europa ist immerhin festzustellen, dass die Vereinigung selbst dort, wo sie jahrzehntelang erstrebt und praktiziert worden ist, nicht wirklich gelang. Ich denke dabei unter anderem an ein deutsch-französisches Gemeinschaftswerk wie den Fernsehkanal Arte. Der bestand von Anfang an aus zwei getrennten Teilen, einem deutsch- und einem französischsprachigen. Doch bis heute müssen die Unterschiede jedem zweisprachigen Beobachter in die Augen fallen. Bis heute unterscheiden sich beide Teile markant in Stil, Inhalt und Darstellung. Auch in diesem Gemeinschaftsprojekt ist Frankreich weiterhin französisch und Deutschland weiterhin deutsch. Die jeweiligen Redaktionen bleiben Herren im jeweiligen Teil der WG. Sieht man von gewissen Pflichtthemen ab, würden sie kaum anders senden, wenn es das gemeinsame Europa nicht gäbe.

Warum sollen wir dann aber Europa lieben und die Liebe durch eine entsprechende Stimmabgabe bezeugen? Genau diese Frage stellen uns die nationalistischen Parteien. Ich muss gestehen, dass ich selten überzeugende Antworten höre – jedenfalls was die Zukunft Europas betrifft.

Nur für die Vergangenheit liegt eine unwiderlegbare Antwort vor, und zwar schon seit der Gründung des vereinten Europa. Nur ist gerade diese Antwort bei der jungen Generation längst in Vergessenheit geraten. Deutsche und Franzosen wollten sich nicht weiterhin gegenseitig morden, nachdem sie das beinahe ein Jahrtausend lang unaufhörlich taten. Wollten sie in Zukunft voreinander sicher sein, dann mussten sie einen Teil der eigenen Souveränität opfern und eine übergeordnete Instanz akzeptieren, die ihnen dauernden Frieden gewährt.

Liebe? Nein, gegenseitige Liebe oder auch nur Neigung war dabei nicht im Spiel. Wie hätte sich eine solche Emotion auch zwischen ehemaligen Erbfeinden einstellen können? Es war Vernunft, welche die atavistischen Emotionen besiegte. Frankreich und Deutschland sind eine Vernunftehe eingegangen. Frau von der Leyen ist gegenwärtig die Mutter Courage, die über Europa wacht.

Damit kommen wir endlich auch zu dem wirklichen Grund, warum wir den nationalistischen Parteien nicht trauen dürfen. Emotional sind sie zwar völlig im Recht. Wer wird ernsthaft bestreiten, dass jeder am liebsten Herr im eigenen Hause ist? Was ihnen fehlt ist die Eigenschaft, die den Menschen vor Hunden und Katzen auszeichnet. Es fehlt ihnen die Vernunft – entweder weil sie nur wenig davon besitzen oder – weit häufiger – aus populistischer Verlogenheit.

Europa ist kein Liebesprojekt und wird es niemals sein. Das war es nicht zur Zeit seiner Gründung, und das ist es bis heute nicht. Nein, Europa ist sehr viel mehr: nämlich eine Notwendigkeit! Man kann es auch pathetischer formulieren. Europa ist unser Schicksal. Eine Chance auf ökonomische, politische und – nicht zuletzt auch – militärische Selbstbehauptung besitzen die Einzelstaaten des europäischen Kontinents schon seit wenigstens hundert Jahren nicht mehr. Ihre Stellung in einer Welt der Giganten – unter Supermächten wie USA, China, Russland und bald auch Indien – hängt davon ab, dass sie nach außen eine gemeinsame Wirtschafts- und Verteidigungspolitik betreiben. Der wiedergeborene Iwan der Schreckliche im Kreml führt ihnen diese Wahrheit seit 2022 mit größter Brutalität vor Augen.

Spätestens seit dem zwanzigsten Jahrhundert ist aber nicht nur Europa sondern sind selbst auch alle übrigen Mächte nicht mehr die Herren im eigenen Haus. Wir leben von Ressourcen, die wir aus aller Welt importieren und von Exportgütern, die wir in alle Welt verkaufen. Die ganze Welt ist wechselseitig so tausendfach verzahnt, ihre Teile sind so wenig lebensfähig, wenn man diese Verbindungen kappen würde, dass es den Nationalstaat und die Verfügung über das eigene Haus heute de facto nicht länger gibt – sie existieren nur noch als Illusion in den Köpfen von unbelehrbaren Nationalisten.

Diese Verfügung über unser eigenes Schicksal haben wir nicht freiwillig aufgeben und uns schon gar nicht aus Liebe zu anderen Nationen von diesen abhängig gemacht. Es sind der technologische Fortschritt sowie dessen unstillbare Bedürfnisse und unabsehbare Folgen, die uns in diese Abhängigkeit zwingen. Die modernen Verkehrs- und Kommunikationsmittel, moderne Betriebe, die modernen Naturwissenschaften und nicht zuletzt die daraus hervorgehende weltweite Müllproduktion (CO2 unter vielem anderen) haben eine vereinigte Menschheit geschaffen, die wir nicht lieben können – wer liebt schon ein bloßes Abstraktum? – der wir aber dennoch auf Gedeih und Verderb ausgeliefert sind, weil wir selbst sie durch unser Handeln ermöglichten und herbeibeigeführt haben.

Daher geht es schon jetzt nicht mehr allein um Europa und die Vernunftheirat zwischen seinen Staaten – für alle außer den nationalistischen Betonköpfen sollte das eine Selbstverständlichkeit sein. Aber das allein genügt schon nicht mehr. Inzwischen stehen sich die Supermächte der Welt – USA, China, Russland, Europa – so gegenüber wie vor bald einem Jahrhundert die Erbfeinde Deutschland und Frankreich. Wenn es nicht dazu kommen soll, dass die neuen Erbfeinde einander wechselseitig vernichten – der neue Hitler im Kreml droht uns beständig damit -, dann muss die Weltgemeinschaft sich unter einem planetarischen Dach zusammenfinden. Auch das wird keineswegs aus Liebe geschehen sondern wird uns von der Notwendigkeit angesichts der uns bedrohenden planetarischen Selbstvernichtung diktiert. (Das ist das Thema meiner Bücher aus den vergangenen zehn Jahren, aber diese Wahrheit wird von den Populisten von rechter wie linker Seite beflissentlich ausgeblendet).