Natürliche versus Künstliche Intelligenz

Seit neuestem wird die Welt von einem bisher unbekannten Fieber geschüttelt, sein Name: Künstliche Intelligenz, KI (oder Artificial Intelligence AI). Angesichts der klugen Antworten, die ein Programm wie ChatGPT innerhalb von Sekunden auf beliebige Fragen erteilt, ist die kollektive Aufregung verständlich. Mancher Auskunftsuchende wähnt, dass da mehr als nur eine überaus intelligente Maschine mit ihm kommuniziert, er bildet sich ein, mit einem mitfühlenden Wesen zu reden. Yuval Noah Harari glaubt sogar, eine apokalyptische Zeit heraufdämmern zu sehen, wo wir alle nur noch Marionetten der künstlichen Intelligenz sein werden.

Lassen wir den trügerischen Eindruck, dass uns KI Gefühle entgegenbringt, zunächst einmal beiseite. Was die Intelligenz betrifft, so ist unser Erstaunen über ihr beinahe grenzenloses Wissen durchaus gerechtfertigt. ChatGPT wie auch jedes andere Programm dieser Art vermag im Prinzip auf das Wissen der ganzen Menschheit zuzugreifen, wie es in schriftlicher Form (aber auch in Bild oder Ton) gespeichert wurde. Es leuchtet ein, dass kein einzelnes Gehirn mehr als nur einen vergleichsweise infinitesimal kleinen Ausschnitt dieses kollektiven Schatzes abrufen kann. Insofern ist künstliche Intelligenz eine Errungenschaft, welche der natürlichen Intelligenz theoretisch gleich auf zweifache Weise nahezu unendlich überlegen und für Letztere auch unerreichbar ist. Erstens dadurch, dass sie sich das Wissen aller lebenden Menschen anzueignen vermag (sofern dieses gespeichert wurde), zweitens dadurch, dass sich dieses Wissen um den Faktor Zeit nahezu beliebig vermehren lässt, nämlich um das Wissen früherer Generationen (sofern es in irgendeiner Form aufbewahrt worden ist).

Damit ist nicht weniger als ein Quantensprung gegenüber der natürlichen Intelligenz vollzogen. Wenn ich ChatGPT eine elementare Frage stelle wie „Warum erfreuen sich Menschen an Blumen?“, dann wertet das Programm einerseits sämtliche zuvor gespeicherten Quellen im Hinblick darauf aus, wo Blumen im Zusammenhang mit Freude genannt worden sind, während es andererseits auch noch auf einen breiten Fächer der Mustererkennung zurückgreift – ganz wie das menschliche Gehirn. Es muss zwischen Frage und Antwort unterscheiden, zwischen relevanten und weniger relevanten Antworten, die es zudem noch nach verschiedenen Aspekten unterteilt: ästhetisch (Blumen als schöne Gegenstände), symbolisch (Blumen als Ausdrucksmittel der Verehrung usw.), kulturell (Blumen als Geschenk), Naturverbundenheit, positive Wirkung auf den Menschen etc. Würde ChatGPT ausschließlich auf Texte anderer als europäischer Kulturen oder gar auf die Überlieferungen früher Stammeskulturen zugreifen, dann ergäben sich wiederum andere Antworten und andere Kategorisierungen. Würden die Systemadministratoren dieses hingegen in erster Linie mit den Äußerungen von Geisteskranken und Verschwörern füttern, erhielte man wiederum ein völlig anderes Bild. Bei Fragen nach der politischen Relevanz von Blumen und Schönheit würden wir neuerlich andere Antworten erhalten, je nachdem ob die künstliche Intelligenz in Russland, China oder Nordkorea oder aber in Deutschland, Südkorea oder den USA programmiert worden ist. Auch die Antworten aus der Mitte des 19. Jahrhunderts oder aus der Zeit Luthers würden eine andere Gewichtung verraten. Die künstliche Intelligenz ist daher genauso wenig „objektiv“ wie die natürliche, da sie von Menschen einer bestimmten Zeit mit Inhalten aus einer bestimmten Zeit programmiert wird. Bei ChatGPT fehlt zudem auf, dass bei vielen Antworten vor rassistischen Auslegungen gewarnt wird. Wer würde nicht sofort erkennen, dass diese Systeme in den USA entwickelt wurden? Die Gewichtung der Antworten verrät uns, wie sehr diese durch den Zeitgeist und die jeweilige kulturelle Orientierung geprägt sind.

Eine Ausnahme bilden nur die Auskünfte über beliebig wiederholbare Ereignisse, wie sie in erster Linie Gegenstand der Naturwissenschaften sind. Hier besteht Objektivität darin, dass wir auf die gleichen – im Experiment gestellten – Fragen die gleichen Antworten erhalten. Darauf ist noch zurückzukommen.

Die künstliche Intelligenz verhält sich keineswegs nur passiv. Anders gesagt, imitiert sie nicht nur, sondern ist ihrerseits produktiv. Zum Beispiel ist sie imstande, neue Verse im Stil von Goethe oder Heine zu produzieren, in denen – sagen wir – Thymian- oder Fantasieblüten vorkommen sollen. Je nach Entwicklungsgrad der künstlichen Intelligenz sind diese Versuche eher plump oder bereits so gelungen, dass selbst Kenner die neuen Verse nicht von den originalen zu unterscheiden vermögen. Das Programm verfährt dabei prinzipiell auf die gleiche Weise wie ein geschulter lebender Nachdichter. Aufgrund seines umfassenden Wissens der gespeicherten Originaltexte weiß ein Nachdichter ziemlich genau, welche Wendungen und Worte vorzugsweise infrage kommen. Jede gelungene Fälschung setzt solches Wissen voraus. Wenn künstliche Intelligenz die Schriften, die Worte, die Bilder oder auch Kompositionen eines lebenden oder toten Individuums nachahmt, wird sie zum perfekten Fälschungsprogramm. Perfekt bedeutet, dass der in Schrift, Wort, Bild oder Komposition Nachgeahmte das betreffende Thema genau so produziert haben könnte. Hier handelt es sich nicht mehr um bloße Imitation, denn der jeweilige Stil wird auf neue Elemente (z.B. Thymianblüten oder neue Themen bezogen). Aus diesesr Fähigkeit des Programms, produktiv zu fälschen, ergeben sich Gefahren, die bei den derzeitigen Diskussionen um künstliche Intelligenz im Brennpunkt stehen.

Wenn künstliche Intelligenz der natürlichen so nahekommt, wenn sie also nicht nur zur Nachahmung sondern zu eigener Produktion fähig ist, läuft diese Feststellung dann nicht zwangsläufig darauf hinaus, dass die natürliche menschliche Intelligenz durch die künstliche auch völlig ersetzt werden kann? Der erste Eindruck im Umgang mit ChatGPT scheint diesen Schluss nahezulegen, zumal viele ihrer Erfinder und Propagandisten eine solche Folgerung ausdrücklich bestätigen.

Und doch wäre sie völlig falsch. Zwar ist es unbestreitbar, dass die künstliche der natürlichen Intelligenz weit überlegen ist, weil der Einzelne niemals so viel Wissen zu speichern vermag wie ein Kollektiv. Das Gegenteil trifft aber genauso zu: die künstliche Intelligenz ist der natürlichen qualitativ hoffnungslos unterlegen – und dieser Unterschied ist genauso unaufhebbar.

Nehmen wir an, dass ChatGPT bald so weit vervollkommnet wird, dass das Programm nicht nur – wie schon jetzt der Fall – zu jedem beliebigen Thema recht plumpe Verse im Stil Goethes oder Schillers zu produzieren vermag, sondern dass diese Verse von den historisch gesicherten schon in naher Zukunft nicht mehr unterscheidbar sein werden. Ist der auf diese Weise erschaffene „Pseudo-Goethe“ dann nicht schlicht und einfach ein zweiter Goethe, der ganz an die Stelle des ersten treten und diesen sozusagen durch unendliche Produktivität nicht nur ersetzen sondern weit überflügeln könnte? Und würde das nicht ebenso für einen Pseudo-Mozart und einen Pseudo-Picasso gelten, wenn künstliche Systeme deren Produkte perfekt nachahmen und vervielfältigen?

An diese Frage schließt sich unmittelbar eine andere und viel weitreichendere an. Können diese künstlichen Produzenten nicht schließlich ganz an die Stelle des Menschen treten und seine natürliche Intelligenz durch eine maschinelle ablösen? Ich habe zuvor darauf hingewiesen, dass unter den Enthusiasten der künstlichen Intelligenz viele genau auf dieser Folgerung bestehen.

Aber auf solche Mutmaßungen gibt es eine eindeutige Entgegnung, und sie ist negativ. Zwar trifft es zu, dass die perfekte künstliche Intelligenz einen Pseudo-Goethe erschaffen könnte, dessen Verse von denen des Meisters nicht zu unterscheiden sind, weil jedes vorhandene Zeichengebilde (sei es Wort, Ton, Bild etc.) sich exakt nachbilden und durch Umordnung der Elemente im selben Stil neu produzieren lässt. Die einzige Unterscheidungsmöglichkeit liegt dann in dem historischen Nachweis, dass Goethe diese Verse zu seinen Lebzeiten nie geschrieben hat. Wenn Videos von Politikern veröffentlicht werden, die von der künstlichen Intelligenz fabriziert worden sind, dann kann der Gegenbeweis gleichfalls nur durch einen historischen Nachweis erfolgen: die betreffenden Politiker haben diese Worte tatsächlich niemals gesprochen. Bei Ereignissen, die aus den Äußerungen und Handlungen von lebenden Individuen bestehen ist ein solcher Nachweis allerdings schwierig und oft unmöglich, weil sich entweder gar keine oder nur eine begrenzte Zahl von Augenzeugen ermitteln lassen.

Auf der symbolischen Ebene von künstlich produzierten Bildern, Tönen und Texten ist eine perfekte Fälschung nur noch durch die Konfrontation mit etwas ganz anderem zu entkräften: durch Konfrontation mit der Wirklichkeit. Gab es zur Zeit x am Ort y wirklich das in Ton, Bild oder Text dargestellte reale Ereignis oder ist es eine Erfindung der künstlichen Intelligenz? Solche Fragen werden in Zukunft sehr schwer zu beantworten sein, denn die Wirklichkeit außerhalb unseres jeweils eigenen Lebens- und Arbeitsraums befindet sich zu weit über neunuendneuzig Prozent jenseits unserer realen Erfahrung. Wir sind daher auf die Re-Präsentation der Wirklichkeit, also auf andere Fotos, Videos etc. angewiesen, auf denen dann etwa gezeigt wird, dass ein bestimmter Politiker zu der genannten Zeit und an dem genannten Ort diese oder jene Worte eben nicht gesprochen oder sich dort überhaupt nicht befand. Es stehen sich also immer nur verschiedene einander möglicherweise widerstreitende Re-Präsentationen des Wirklichen gegenüber, denn das wirkliche Ereignis kennen wir nicht und werden es – da es der Vergangenheit angehört – auch niemals kennen lernen. Diese Tatsache macht es unendlich schwer und oft unmöglich, eine perfekte Fälschung von einer wahren Re-Präsentation des Ereignisses zu unterscheiden. Die künstliche Intelligenz wird damit zu einem Instrument der Produktion von Fakes, d.h. von Abbildern einer Wirklichkeit, die so niemals existierte aber so hätte existieren können.

Fälschungen sind nicht neu, die natürliche Intelligenz war dazu immer schon in der Lage. Die künstliche Intelligenz ahmt daher nur eine Fähigkeit nach, die schon seit Jahrtausenden existiert, nämlich so lange Künstler fiktive Wirklichkeiten erdachten – in Romanen, auf Gemälden etc. Doch in diesen Fällen wussten wir immer, dass es sich um Fiktionen handelt. Genau das ist bei den Fakes der KI nicht länger der Fall. Da wir nicht in der Lage sind, durch direkte Erfahrung einen Bezug zur Wirklichkeit herzustellen und eine falsche Repräsentation der Wirklichkeit als solches zu erkennen, ist eine Entscheidung zwischen wahr und falsch unmöglich. Insofern konfrontiert uns die künstliche Intelligenz mit einer historisch einmaligen Entwicklung.

Damit ist das zerstörerische Potenzial der künstlichen Intelligenz benannt. Es bleibt, wie schon oben gesagt, nur in jenen Bereichen unwirksam, wo wir es mit beliebig wiederholbaren Ereignissen zu tun haben. Wenn eine Hausfrau aus Kenia behauptet, Wasser bei 10 Grad Celsius zum Kochen gebracht zu haben oder ein Schamane darauf besteht, dass die Einnahme von Knoblauch ihm zur Levitation verhelfe, dann lassen sich diese und ähnliche Behauptungen sehr schnell durch das Experiment widerlegen. Jedes einmalige Ereignis lässt sich fälschen, weil wir die Fälschung nicht durch Gegenüberstellung mit der Wirklichkeit zu entlarven vermögen. Wiederholbare Ereignis lassen solche Fälschung nicht zu. Im Bereich der Wissenschaften wird die künstliche Intelligenz daher ihre größten Erfolge feiern und den geringsten Gefahren ausgesetzt sein.

So lässt sich schon jetzt absehen, dass die künstliche Intelligenz das Potenzial aufweist, den Wissenschaften einen gewaltigen Aufschub zu bescheren, während sie zur gleichen Zeit den moralischen Kosmos zerstört, weil sich wahr und falsch im ersten Fall leicht voneinander unterscheiden lassen, während das im zweiten Fall sehr oft unmöglich ist. Schaden und Nutzen der künstlichen Intelligenz gleichen einander allerdings keineswegs aus. Die richtige Lebensführung, also der moralische Kosmos, ist für den Einzelnen wie für ganze Nationen weitaus wichtiger als die richtige Erkenntnis, die letztlich immer im Dienste der ersteren steht. 

Noch einmal gefragt: Kann die künstliche Intelligenz die natürliche ersetzen? Diese Frage wurde bereits verneint, aber wir können unsere Antwort jetzt umfassender begründen. Der künstlichen Intelligenz fehlt der Sockel der Wirklichkeit, durch welche die natürliche Intelligenz überhaupt erst zustandekommt. Dieser Unterschied ist von grundlegender Art.

Wie entsteht natürliche Intelligenz? Sie ist genetisch durch Jahrtausende lange Erfahrung der menschlichen Gattung im Umgang mit der Wirklichkeit entstanden. Aber die genetische Disposition ist nur das Gefäß, dass für die ganz neue Erfahrung eines gerade geborenen Erdenbürgers diesem bereitgestellt wird. Wenn ein Kind in den sprachlichen Kosmos einer bestimmten Zeit und Kultur hineingeboren wird, dann liefern ihm seine Sinnesorgane visuelle, akustische und andere Reize, auf die es seinerseits emotional, d.h. mit Zuwendung oder Abneigung, reagiert. Diesen sinnlichem Geschehen ordnet es die in der jeweiligen Kultur vorhandenen Zeichensprachen zu (Wörter und Sätze, später auch Schrift, Musik etc. zu). Anders gesagt, hüllt die natürliche Intelligenz das von den Sinnesorganen gelieferte Material in das jeweils vorhandene kulturelle Gewand, weitet dieses in der Reaktion auf neue Wirklichkeiten jedoch beständig aus, zerreißt es auch manchmal, wenn es mit der Wirklichkeit nicht mehr übereinzustimmen scheint. Die Dialektik zwischen individueller Wahrnehmung der Wirklichkeit und deren kollektiver Re-Präsentation ist ein ständiger, nie endender Prozess – das herausragende Merkmal der natürlichen Intelligenz.

Dieser Prozess fehlt der künstlichen Intelligenz, weil sie über keine Organe zum Erkennen der Wirklichkeit verfügt. Wenn wir diese Intelligenz danach fragen, warum Blumen den Menschen Freude bereiten, dann mögen uns ihre Antworten noch so intelligent, wissend oder sogar weise erscheinen. Aber diese Intelligenz, dieses Wissen und diese Weisheit beruhen nicht auf eigener Erfahrung. Die KI hat niemals eine Blume wahrgenommen und niemals Freude dabei empfunden. Denn sie hat keine Augen, keine Ohren, kein Tastorgan, keine emotionale Erfahrung. All das bezieht sie immer nur aus zweiter Hand.

Anders gesagt, fehlt der künstlichen die für die natürliche Intelligenz konstituierende Dimension: der unmittelbare Input durch die Wirklichkeit. Das Material, über das sie verfügt, ist immer nur ein Abklatsch des Wirklichen, ihre Re-Präsentation wie sie in Millionen von Texten, Bildern etc. gespeichert ist. Wenn uns ChatGPT überraschend kluge Auskünfte darüber ereilt, warum Blumen dem Menschen so viel bedeuten oder warum es moralisch verwerflich sei, andere Menschen zu verletzen – und wenn sie das überdies noch in Worten tut, die wir selbst nicht überzeugender formulieren könnten – dann sind wir intuitiv verleitet, der Maschine dieselbe, vielleicht sogar eine höher entwickelte Fähigkeit der Wirklichkeitserkenntnis zuzuschreiben als uns selbst. Doch genau hier irren wir. Die Maschine hat nur alle jene Äußerungen Zehntausender anderer Menschen über die Blume gespeichert, die wir persönlich nicht übertreffen können. Denn genau das ist es, was die Maschine uns sagt. Während du selbst beim Anblick eines überwältigend schönen Blumenstraußes vielleicht nur ein ergriffenes Ah! über die Lippen bringst, überrascht sie dich mit dem Vers eines klassischen Dichters, der deine Empfindung weit besser zum Audruck bringst als du selbst es vermagst. Und weil dich diese Überlegenheit begreiflicherweise erschüttert, traust du der Maschine zu, was ihr absolut fehlt: unmittelbare Wirklichkeitserkenntnis und eigenes Wiirklichkeitserleben.

In Wahrheit fühlt, denkt, sieht, hört die Maschine absolut nichts, während ihre Algorithmen unendliche binäre Sequenzen von 000en und 11111en ausspucken, die es jeweils in die Worte und Sätze einer historischen Sprache überträgt. ChatGPT hat sein nahezu unendliches Wissen nicht wie das Kind und jeder lebende Mensch durch den Umgang mit der Wirklichkeit erworben, auf der für den Menschen alle symbolische Repräsentation beruht. Für die künstliche Intelligenz ist der einzige Bezugspunkt diese Re-Präsentation selbst. Anders gesagt, wertet sie gespeicherte binäre Sequenzen von 0en und 1ern aus, um auf entsprechende Fragen (binäre Sequenzen) die durch das Programm vorgesehenen Antworten zu erteilen.

Damit ist die ganz zu Anfang angeschnittene Frage der „Einfühlung“ beantwortet. Die Maschine fühlt absolut nichts, weil ihr der emotionale Sockel der Wirklichkeitserfahrung fehlt. Daraus ergibt sich ein zweites Manko. Unter Auswertung der vorhandenen Quellen kann sie zwar einen Pseudo-Goethe, Pseudo-Schiller, Pseudo-Picasso erschaffen, aber keine zukünftigen großen Dichter, Maler oder Komponisten, die aufgrund einer neuen Wirklichkeitssicht neue Symbolsprachen erschaffen. Die künstliche Intelligenz kann nur Vorhandenes imititeren und neu kombinieren, aber es ist ihr prinzipiell verwehrt, im Ringen mit der Wirklichkeit neue symbolische Welten zu erschaffen, wie dies der Mensch im Laufe seiner geschichtlichen Existenz in einem fort tat und in Zukunft weiterhin tun wird. Diese Limitation der künstlichen Intelligenz scheint in dieser Hinsicht unüberwindbar.*1*

Manche KI-Enthusiasten werden gegen diese Feststellung protestieren. Tatsächlich gibt es in der Robotik zahlreiche Beispiele für die Verwertung von Signalen aus der Wirklichkeit. Nehmen wir ein ganz einfaches Beispiel. Ein eingebauter Temperatursensor sorgt dafür, dass ein „künstlicher Kellner“, der die Aufträge von Gästen entgegennimmt und die Speisen anschließend zu ihnen verteilt, nicht nur optische Reize auswertet, um die richtigen Tische zu bedienen sondern auch noch temperaturempfindlich ist, so dass er einem Ofen ausweichen kann oder Speisen zurückbringt, wenn sie nicht länger warm sind. Im Prinzip könnte man der Maschine auch noch ein Sprachprogramm einbauen, damit der Maschinenkellner Fragen der Gäste vernünftig beantwortet. Seine optischen Sensoren könnten ihm überdies auch Alter und Geschlecht der Gäste richtig abschätzen und seine Antworten danach bis zur scheinbaren „Einfühlung“ in die Sprache der Kinder modifizieren lassen. Diese und viele andere Sensoren zur Wirklichkeitsabbildung sind denkbar und werden heute auch schon verwendet. Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass sie auch nur annähernd die Komplexität der Sinneserfahrung lebender Wesen oder gar von Menschen erreichen. Diese Maschinen mögen technisch noch so vielschichtig sein. Sie sind trotzdem tote Geräte, denn im Unterschied zu wirklichen Lebewesen spüren sie nichts dabei, wenn wir sie dann irgendwann verschrotten. Die Tatsache, dass sprechende Puppen in Altersheimen immer öfter zum Ersatz für lebendige Menschen werden und dass ihnen Fantasie oder Demenz ein eigenes Leben zuschreiben wird, vermag an dieser Tatsache nichts zu ändern.

Die alte Frankensteinfrage ist damit allerdings nicht beantwortet. Wird eine Maschine an irgendeinem Punkt lebendig, wenn man die Wirklichkeitssensoren und Signale stetig vermehrt, um sich sozusagen asymptotisch dem Sockel aus optischen, akustischen, olfaktischen, haptischen und emotionalen Signalen anzunähern, die jeder normale lebende Mensch von Geburt aus sein eigen nennt? Die Komponenten dafür sind jedenfalls schon vorhanden; es spricht nichts dagegen, dass wir sie mit der Zeit beliebig vervollkommen könnten. Wird es auf diese Weise möglich sein, den Menschen sozusagen immer vollkommender nachzubauen, sodass irgendwann auf diesem Wege der Umschlag von einer toten Maschine in ein lebendes Wesen erfolgt? Wird eine solche Maschine dann plötzlich ein Bewusstsein entwickeln?

Angesicht unserer vorausgehenden Definition der natürlichen Intelligenz als die Fähigkeit, über dem Sockel der Wirklichkeitserfahrung deren symbolische Repräsentation zu erbauen, wäre diese Möglichkeit nicht grundsätzlich auszuschließen – dann nämlich, wenn es gelänge, die maschinelle Sensorik der beim Menschen vorhandenen mehr und mehr anzugleichen. Aber diese Überlegung lässt uns sofort erkennen, dass unsere Definition der natürlichen Intelligenz immer noch unzureichend ist. Es gibt lebende Wesen – das gesamte Pflanzenreich gehört dazu – die kein Bewusstsein in der Art des Menschen aufweisen, weil ein solches Bewusstsein keinen biologischen Sinn ergäbe. Ein Baum kann sich den eigenen Standort nicht aussuchen, er braucht daher keine Sensorik, um optimale Standorte zu ermitteln. Die eigenständige Reaktion auf Umweltsignale ist bei Pflanzen auf elementare Vorgänge reduziert, z.B. die Ausrichtung zum Licht. Bewusstsein ergibt einen biologischen Sinn nur für aktiv in ihre Umwelt eingreifende Lebewesen, deren Handlungen sich deshalb auch positiv oder negativ für sie auswirken. Doch selbst unter dieser Voraussetzung sind immer noch unbewusste triebhafte Reaktionen möglich, wenn sie auf Ja-Nein-Alternativen reduziert werden können – wie etwa bei Annäherung an eine Feuerquelle, denn vor zu großer Annäherung an eine solche schrecken wir intuitiv zurück. Da genügt ein einfacher Sensor statt eines Bewusstseins. Erst wenn die Umwelt ein Lebewesen mit Reizen von großer Komplexität konfrontiert, entsteht Bewusstsein als die Fähigkeit, Entscheidungen zwischen immer mehr Möglichkeiten zu treffen. Die Stimuli von Belohnung für richtiges und Bestrafung für falsches Verhalten (Freude und Schmerz) spielen da eine zentrale Rolle. Ohne sie würde es kein Bewusstsein geben, weil es biologisch ein überflüssiger Luxus wäre.

Bewusstsein ist zudem nicht identisch mit Wissen. Selbst den primitivsten Organismen muss ein evolutionär erworbenes Wissen einprogrammiert sein, damit sie ihrer jeweiligen Umwelt optimal angepasst sind. Bewusstsein ist dagegen sehr viel mehr als bloßes Wissen. In ihrer heutigen Form verfügt die künstliche Intelligenz über ein nahezu unbegrenztes Wissen und ist doch nicht mehr als eine tote Maschine. Um über Bewusstsein zu verfügen, müsste die Maschine Schmerz und Freude wie natürliche Wesen empfinden und sie nicht nur – wie jetzt der Fall – auf der symbolischen Ebene nur imitieren. Einen biologischen Sinn würde das aber nur ergeben, wenn die Maschine dem Schmerz aufgrund eigener Entscheidungen ausweichen und die Freude ebenso suchen kann.

Fazit: Die KI-Maschinen erstaunen uns damit, dass sie mit Engels- und Teufelszungen reden, und doch sind sie emotional tot und ohne eigene Wirklichkeiterfahrung – dabei wird es mit größter Wahrscheinlichkeit bleiben.*2* Apokalyptische Voraussagen wie die von Harari, wonach die künstliche Intelligenz den Menschen schon bald beherrschen und unterjochen werde, darf man getrost als Sensationshascherei übergehen. Ihre nachweisbaren Wirkungen sind auch so schon weitreichend genug. Einerseits ist künstliche Intelligenz im moralischen Kosmos das Gegenstück zur Atombombe im physischen: Sie hat das Potenzial, den moralischen Kosmos nachhaltig zu sprengen und zu zerstören – mit allen vorhersehbaren Auswirkungen für Politik und Gesellschaft. Andererseits wird sie der Wissenschaft und der Industrie zweifellos einen gewaltigen Auftrieb geben.

1 Die Sprachwissenschaft leidet besonders unter dieser Einschränkung. Sie stellt mittlerweile zwar – nahezu – perfekte Übersetzungsprogramme her, aber alle Übertragungen von einer Sprache in eine andere ergeben sich als reine Trans-Formationen: die sprachliche Form einer Sprache A wird unter Anwendung entsprechender Algorithmen in die sprachliche Form einer Sprache B übertragen. Dass die natürliche Intelligenz auf völlig andere Weise verfährt (wie oben am Beispiel kindlichen Lernens illustriert), wird bei diesem Verfahren ausgeklammert. Die natürliche Intelligenz übersetzt den Wirklichkeitsinput zunächst in Begriffe (aus dem Kontinuum elektromagnetischer Lichtwellen macht sie beispielsweise einzelne Farben wie rot, gelb usw. – ich spreche von Bedeutung). Das immaterielle Substrat der Bedeutung wird dann in Form (also in Lauten, Gesten oder anderen Zeichen) materialisiert (ich spreche von der „Realisierung der Bedeutung durch die Form“).

Die Idee, das Vorgehen der natürlichen Intelligenz in der Sprachwissenschaft nachzubilden, also den Sockel der Wirklichkeit einzubeziehen, ist an sich nicht neu. Der große dänische Linguist Otto Jespersen sprach bereits von einer „notional grammar“. Steven Pinker stellt ausdrücklich fest, dass allen Sprache eine prelinguistische Bedeutung zugrunde liege, er nennt sie Mentalese und definiert diese als „The hypothetical ‘language of thought’, or representation of concepts and propositions in the brain in which ideas, including the meanings of words and sentences, are couched.“

Das Programm, Sprachen – alle Sprachen – als unterschiedliche formale Realisierungen einer – im Kern generellen – Bedeutungsstruktur aufzufassen und dementsprechend zu analysieren, wurde allerdings bisher nur als Idee entworfen. Ich habe versucht, diese Idee systematisch auszuführen. Siehe The Principles of Language – Towards trans-Chomskyan Linguistics.

Dieses Verfahren bietet keine praktischen Vorteile – die bestehenden Übersetzungsmaschinen sind, wie gesagt, sehr weit fortgeschritten. Es bietet aber die einzige Möglichkeit, um zu verstehen, warum und wie die Vielfalt bestehender und möglicher Sprachen zustandekommt und welchen Gesetzmäßigkeiten sie unterliegt. Das Interesse der von mir begründeten linguistischen Sprachwissenschaft ist theoretischer Natur.

2 Ich sehe keine Möglichkeit, die Entwicklung der künstlichen Intelligenz zu einem lebenden Wesen grundsätzlich auszuschließen – schon jetzt kann die Biogenetik die Bausteine der Evolution zu eigenen Zwecken manipulieren, um künstliche Wesen herzustellen. Würde es uns allerdings gelingen, diese Eingriffe so zu vervollkommnen, dass wir dabei künstliche Wesen erschaffen, die nicht nur über ein nahezu unendliches Wissen verfügen sondern auch noch Erfahrung auswerten und ein Bewusstsein entwickeln, dann wäre es unausbleiblich, dass sie sich als von uns verschieden (und noch dazu weit überlegen) empfinden. Wir hätten Grund, uns vor solchen Wesen noch mehr als vor Unseresgleichen zu fürchten – und wir sind für einander schon gefährlich genug. Durch ihre Fähigkeit zur beliebigen Fälschung aller einmaligen Ereignisse, ist die künstliche Intelligenz jetzt schon eine akute Gefahr. Der Mensch könnte nichts Dümmeres tun, als sich selbst eine Konkurrenz zu verschaffen, die diese Gefahr ins Unermessliche steigert – so wie Mary Shelley und viele Horrorfilme sie ohnehin schon seit langem beschwören.